Den Vorhang lüften: Arbeitskonflikte erkennen und erkennbar machen (Serie Teil 2)

15. Dezember 2020

Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Elemente im Betrieb. Teil 2

Betriebliche Repression gegen renitente, unangepasste Beschäftigte dringt sehr selten an die Öffentlichkeit. Fast könnte man glauben, dass sie kaum existierte. Zwar gibt es heute insgesamt einen erschreckenden Mangel an Berufstätigen, die sich zusammen tun, etwa in Betriebsgruppen, aktiven Betriebsräten, als gewerkschaftliche Vertrauensleute, oder niederschwellig: kritischen Whatsapp + Telegram-Gruppen etc. (von „Betriebszellen“ – also der Organisationsform von Kommunist*innen der 1950er und frühen 1970er Jahre – ganz zu schweigen). Daher gibt es heute weniger offene Konflikte am Arbeitsplatz als in vergangenen Jahrzehnten.

Dennoch geschieht nach meiner Beobachtung in deutschen Betrieben mehr, als einer breiten Öffentlichkeit (oder auch einer linken Szene-Öffentlichkeit) bekannt wird.

Thesen über den unbekannten Stress am Arbeitsplatz

  1. Viele Konflikte versickern innerbetrieblich: individuelle Streitereien durch Einzelkämpfer*innen oder aufwändige Betriebsratsarbeit, gescheiterte Versuche, Betriebsräte oder Betriebsgruppen zu gründen…. Konflikte versickern außerbetrieblich in nervenzehrenden Arbeitsgerichtsprozessen. Am Ende hindern Abfindungen mit Schweigeklauseln ausscheidende Kolleg*innen daran auszupacken, obwohl sie eigentlich die prädestinierten Whistleblower wären.
  2. Für die meisten öffentlich-rechtlichen, privaten oder auch alternativen Medien sind innerbetriebliche Konflikte, Interessenvertretung und arbeitgeber-unabhängige Organisierung ein „sub-political Topic“ – ein Thema außerhalb der Debatte.
  3. Viele Konflikte, Schikanen, Entlassungen werden heute nicht mehr als als Teil einer größeren strategischen Bewegung der Gegenseite – Union Busting – erkannt und daher abgetan.
  4. Besonders erschreckend: Die Betroffenen selbst erkennen oftmals nicht, oder wollen es nicht wahrhaben, dass hinter Repressalien, die sie am Arbeitsplatz erleiden, Methode steckt.
  5. Diese systematische Verdrängung, das Nicht-Erkennen, Nicht- Wahrhabenwollen kann für die Einzelnen zu seelischen oder psychosomatischen Erkrankungen führen.
  6. Die gute Nachricht: Klassenbewusstsein ist gesünder! Beschäftigte mit einem klaren Verständnis vom Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit leben womöglich riskanter, weil sie schneller gefeuert werden, sind dafür aber weniger anfällig für solche Krankheiten, die typisch sind für eine neoliberal geprägte Arbeitskultur.

Verschleierung als integraler Bestandteil der neoliberalen Epoche

Die kanadische Bestsellerautorin Naomi Klein verwendet in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“ ein Wort, das in der deutschen Übersetzung sehr altmodisch ist: obskurieren. Es bedeutet verdunkeln, unverständlich machen. Die neoliberale Epoche, deren Siegeszug wir mit dem Staatsstreich in Chile am 11. September 1973 recht genau datieren können (und deren Ende wir möglicherweise gerade erleben), hat sich darin geübt, ihre Herrschaft unkenntlich zu machen, ihre Mechanismen zu verschleiern, ihre Grausamkeiten zu verdunkeln.

Zwar sind Folter, Hinrichtungen, Todesschwadrone der Pinochet-Diktatur durch Amnesty International bekannt, nicht aber die enge Verbindung der chilenischen Dikatur zur Chicagoer Schule des neoliberalen Wirtschaftsgurus Milton Friedman. Dass Pinochets systematische Folter und Friedmans ökonomische Schock-Therapie in einem direkten Zusammenhang stehen, dass sie sich nicht nur ergänzen, sondern sogar ähneln – hier Elektro-Schocks an Körpern, dort Schocks für die Volkswirtschaft durch Privatisierung, Kürzungungen, Massenentlassung und Preissteigerung – wird von der bürgerlichen Presse abgetan.

Stattdessen: Verschwörungstheorie

Während ein Wort wie ‚obskurieren‘ im Deutschen vom Aussterben bedroht ist, findet ein anderes heute geradezu inflationäre Verwendung: Verschörungstheorie. Meist in einem reflexartig heraus geschleuderten Satz: „Das sind ja Verschwörungstheorien!“

Neulich fiel genau dieses Wort im Gespräch mit meinem Freund Andy, den ich lange nicht gesehen hatte. Er war monatelang mit Burn-out krank geschrieben, erfuhr ich zu meinem Erstaunen, und kehrte gerade wieder an seinen Arbeitsplatz zurück (Wiedereingliederung nach dem Hamburger Modell),1 an dem er 20 Jahre lang ein geschätzter Kollege gewesen war:

„Elmar, ich neige ja nicht zu Verschwörungstheorien“, sagte er und ich wurde hellhörig, „aber ich glaube mittlerweile, die wollen mich auf der Arbeit gezielt fertig machen. Da ist irgendwas im Gange. Ich kriege dauernd komische Bemerkungen reingedrückt. Auf Teamsitzungen zählen meine Vorschläge nichts mehr. Es liegen im Pausenraum Broschüren herum: ‚Unser Unternehmen soll jünger und weiblicher werden‘. Ey, ich bin über 50 — soll ich mir jetzt Botox spritzen und mich geschlechtsumwandeln lassen? Dann bekam ich auf einmal eine Abmahnung. Das hat mir echt den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich bekam richtige Panikattacken.“

Im Gespräch erzählte mir Andy beläufig, dass er einige Tage zuvor in einem Wortgefecht mit seinem Chef rausgehauen hatte: „Mach doch, dann gehe ich halt zur Gewerkschaft!“ Ich bin davon überzeugt, dass er genau deshalb auf der Abschussliste landete. Das Management hatte diesen Laden, einen Sozialträger, soeben von einem gemeinnützigen Verein in eine gGmbH umgewandelt hat, möglicherweise stehen weitere Änderungen und Einschnitte bevor, bei denen Gewerkschafter*innen eher störend sind. Einen Betriebsrat gibt es bislang auch nicht.

Framing: Es ist zum verrückt werden

Andy hält den Zusammenhang zwischen der Abmahung und seiner Erwähnung des Worts „Gewerkschaft“ für zufällig, ja konstruiert. Vermutlich ist Andy genau deshalb krank geworden — wie so viele andere. Weil sein Rahmen, das Erklärungsmuster, das er verwendet, und das Bild, das er sieht, nicht mehr zusammen passen, weil das Framing nicht stimmt, weil der Rahmen vom Bild verrückt ist. (Seine Firma ist keine große Familie. Die Geschäftsführung ist skrupellos. Sie führt etwas im Schilde.)

Jetzt bewirbt er sich woanders. Zu kämpfen, sich mit Kolleg*innen zu organisieren, kommt ihm nicht in den Sinn, stattdesen hat er eine Gesprächstherapie und ein Achtsamkeitstraining hinter sich. Und ich verstehe ihn. Dieser Laden bietet vermutlich wirklich keine Perspektive, zu kämpfen. Scheiß drauf. Allerdings hätte in 20 Jahren beruflicher Tätigkeit doch eine Verbindung zu Kolleg*innen entstehen sollen, aus der zumindest ein Minimum an Solidarität und gemeinsamer Gegenwehr erwachsen könnte, oder?

Union Busting: Gezieltes, präventives Aussieben nach Einstellung

Tatsächlich werden sehr viele Leute auf der Arbeit fertig gemacht und gefeuert, nicht bloß weil sie als überzeugte Klassenkämpfer*innen aufgefallen sind, sondern weil sie POTENTIELLE Gewerkschafter*innen und aktive Betriebsratsmitglieder sind, also erst später, wenn Konflikte auftreten, in diese Rolle schlüpfen könnten.

Die neue Schule des Union Busting erfasst die Einstellung (englisch: Attitiude) der Beschäftigten mit soziologischen und psychologischen Methoden, die aus der Truppenbetreuung des US-Militärs während des 1. Weltkriegs herrühren. Damals sollte die Kampfbereitschaft einzelner Abteilungen erforscht werden. Heute sind Bewerbungstests und Assessment-Center darauf geeicht, Einstellung, Temperament und Charakter der Bewerber*innen zu bestimmen, so dass die Personalabteilung potentielle Gewerkschafter*innen präventiv heraus filtern kann. Das klingt ziemlich abgefahren, viel davon ist Scharlatanerie, bildet aber dennoch seit den Anfängen in den USA in den 1930er Jahren eine belegbare Praxis von Personalabteilungen, die bis heute stetig verfeinert wird und von der einer milliardenschwere Dienstleistungsindustrie lebt. Stichworte: Labor Relations, Union Avoidance, Counter-Organization, Human Resources.

Im Gegensatz zur Nachkriegszeit wird dieser Union-Busting Zusammenhang, der mit „Anti-Kommunismus“ nur ungenügend beschrieben ist, heute auch in Deutschland tunlichst verschwiegen, ja militant geleugnet. Im Jahr 1954 geschah das alles noch ganz offen. Damals feuerten Stahl- und Automobil-Konzerne in der ehemaligen amerikanischen Besatzungszone Bayern 852 Gewerkschafter der IG Metall, davon 60 Betriebsratsmitglieder,2 nachdem diese einen großen Streik desaströs verloren hatte, einfach weil sie gestreikt hatten und in der IG Metall waren. Punkt. Die Zuständigen Arbeitsgerichte segneten das willfährig ab.

Nach dem KPD-Verbot 1956 wurde die antikommunistische Verfolgung zur offiziellen westdeutschen Staatsdoktrin und bot ungeahnte Möglichkeiten, unliebsame Elemente im Betrieb einfach zu entsorgen.

Die Methoden des Neoliberalismus sind raffinierter

Tatsächlich geht die neoliberale Ideologie weit über einen Anti-Kommunismus oder Anti-Sozialismus hinaus. „So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht; es gibt einzelne Männer und Frauen und Familien“, lautet ein berühmtes Zitat der Milton Friedman-Schülerin Margaret Thatcher.3 Der Neoliberalismus ist anti-gemeinschaftlich. Er sieht den Menschen nicht als soziales Wesen, sondern als einzelgängerisches, gieriges Raubtier. Die neoliberale Ideologie ist aus dieser anti-kollektiven Grundeinstellung nicht bloß gegen Gewerkschaften, Betriebsräte und sozialistische Parteien gerichtet, sondern auch gegen kollektive Fortbewegungsmittel wie Eisenbahnen, kommunale Strom-, Gas- und Wasserversorgung, auch gegen kollektive Besitz-, Produktions- und Wohnformen wie Genossenschaften und sozialen Wohnungungsbau.

Während ihre Chef-Ideologen wie Friedrich A. Hayek oder Ayn Rand das unverhohlen propagieren, leugnet die neoliberale Funktionselite diesen Zusammenhang in der öffentlichen Debatte und versteckt ihn hinter einem Vorhang aus Sachzwängen, wirtschaftlichen Notwendigkeiten, Effizienz und unternehmerischer Freiheit. (Die Unterscheidung zwischen Lügen, Leugnen und Glauben fällt mitunter schwer: Viele Anhänger der neoliberalen Philosophie leben in einem sektenhaften Gedankengebäude, das von dogmatischen Glaubenssätzen, Hierarchien und finanziellen Interessen zusammen gehalten wird.)

Die Obskurierung ist ein wesentlicher Bestandteil der neoliberalen Epoche.

Ein paar konkrete Beispiele des unerkannten Klassenkampfs: Profitable Hostels wie das Wombat’s in Berlin werden geschlossen, um Betriebsrat und Tarifvertrag loszuwerden, Fabriken wie Otis in Stadthagen, Krankenhäuser wie die Weserklinik des Median-Konzerns in Bad Oeynhausen, Möbelhäuser von XXXLutz werden dicht gemacht, obwohl sie profitabel sind, nur um Streikhochburgen oder aktive Betriebsräte zu schleifen.

Nach außen hin leugnet das jeweilige Management den willkürliche Charakter, das kriegerische Motiv dieser Vergeltungsschläge zumeist. Die Presse hält das für „Verschörungstheorien“, die zuständige Gewerkschaft skandalisiert den Zusammenhang nicht, weil er wie Systemkritik klingt, die einer staatstragenden Institution offenbar nicht zusteht, welche beisitzende Richter*innen in Arbeitsgerichte entsendet, in Aufsichtsräten von Großkonzernen oder der Deutschen Rentenversicherung sitzt und immer noch aufs Engste mit der neoliberalen Regierungspartei SPD verwoben ist.

Was wir im Großen finden – die mutwillige Schließung, die durch konstruierte Sachzwänge getarnt wird – lässt sich auch im Kleinen, gegen Einzelne gerichtet, nachweisen.

Daraus folgt zusammen gefasst:

  1. Du darfst am Arbeitsplatz nicht allein bleiben, sondern musst erst eine(n), dann mehrere enge Vertraute gewinnen, mit denen Du – wenn die Zeit reif ist oder Not an der Frau – strategisch handeln kannst. Toni Kelb schrieb 1971:Einzelkämpfer zu sein ist ein Übergangsstadium. Ein Zustand, den du überwinden mußt. So schnell es irgend geht. Es ist eine Not, aus der du keine Tugend machen darfst.
  2. Du musst konspirativ, also verdeckt und vorsichtig vorgehen. Vertrauliche Gespräche müsst ihr außerhalb der Firma führen und gegenseitige Verschwiegenheit vereinbaren. Stell Dir einfach vor, Du würdest in einer Diktatur leben. (Zum Glück ist das Risiko weitaus geringer: Du wirst höchstwahrscheinlich nicht aus einem Flugzeug ins Meer geworfen, beim Weg zur Arbeit erschossen, eingesperrt und gefoltert, sondern einfach nur gefeuert. Aber auch das ist zu vermeiden.)
  3. Du solltest Dich und deine vertrauten Kolleg*innen impfen und ein klares Bewusstsein von oben und unten, von Interessenskonflikten zwischen Arbeit und Kapital entwickeln. Recherchiere intensiv zu eurer Firma, eurer Branche und ihrer Geschichte (aus Sicht der Beschäftigten). Das hält Dich gesund und bereitet dich auf harte Zeiten vor. Es gibt Dir Orientierung.
  4. Du brauchst tragfähige Kontakte zu Unterstützer*innen und Berater*innen außerhalb der Firma. Auch um Rat und Orientierung zu finden.

Wozu das Ganze?

Deine wichtigste Aufgabe ist es, im Betrieb schwelende Konflikte aufzugreifen. Sie müssen der Belegschaft bewusst werden, damit sie nicht verschleiert und unterdrückt, sondern ausgetragen werden können. […]

Die resignierte »freiwillige« Unterordnung ist eine Scheinlösung. Stattdessen wollen wir eine echte Lösung herbeiführen helfen: Die Unterdrückten erzwingen eine demokratische Lösung, indem sie [Konflikte] offen austragen.

(Toni Kelb, 1971)

Was so leicht klingt, ist oft harte, jahrelange Arbeit. Die auch scheitern kann…

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[HINWEIS des Autoren: Ich freue mich über Kritik, Resonanz, eigene Betrachtungen und Erlebnisse! (Kontakt: elmar.wigand@posteo.de) Ich will aus der Serie ein Handbuch entstehen lassen, das ich zusammen mit Interessierten und Betroffenen diskutieren und verbessern möchte.]

# Titelbild: gemeinfrei, Pinkertons begleiten Streikbrecher in Ohio 1884

1Die stufenweise Wiedereingliederung (§ 74 SGB V, § 44 SGB IX) in das Erwerbsleben (§ 27 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III) wird im Volksmund umgangssprachlich auch als das „Hamburger Modell“ bezeichnet und als StW abgekürzt. Oft wird diese Maßnahme vom Akutkrankenhaus oder danach von einer Rehabilitationseinrichtung meistens wegen einer länger andauernden stationären oder ambulanten Akutbehandlung empfohlen. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_Modell_(Rehabilitation), abgerufen 3.12.2020.

2„Die Unternehmer nahmen fürchterliche Rache und säuberten ihre Betriebe von aktiven Gewerkschaftskadern: 852 Metaller, darunter 60 Betriebsräte, wurden von ihren Firmen nicht wieder eingestellt und fanden aufgrund von »Schwarzen Listen« keine Arbeit mehr. In 1.500 Prozessen mussten sich Streikposten wegen Landfriedensbruch, Körperverletzung oder Beleidigung verantworten.“ Quelle: Vor 41 Jahren: Der bayerische Metallarbeiterstreik 1954, Arbeiterstimme 109, September 1995, Seite 9. http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/3750

3Britische Premierministerin von 19790-1990. Interview mit Woman’s Own, 23.7.1987, https://de.wikiquote.org/wiki/Margaret_Thatcher

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