Argentinien: „Für eine sichere, legale und freie Abtreibung“

15. Dezember 2020

In Argentinien hat die erste Kammer einem Gesetzesentwurf zugestimmt, welches Schwangerschaftsabbrüche in dem südamerikanischen Land legal ermöglichen kann. Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil hat mit Doris Quispe aus Buenos Aires gesprochen. Quispe ist 47 Jahre alt, arbeitet in einer öffentlichen Einrichtung, ist Aktivistin für die Menschenrechte von Migrant_innen in Argentinien und nimmt an den Plattformen „Ni Una Migrante Menos“ (Keine Migrantin weniger), „Peruanas y Peruanos en Argentina“ (Peruanerinnen und Peruaner in Argentinien) und „Agrupación de Trabajadores Peruanos en Argentina“ (Gruppierung von peruanischen Arbeitern in Argentinien) teil. Sie beteiligte sich auch mit anderen Organisationen an der landesweiten Kampagne „Migrar no es Delito“ (Migrieren ist kein Verbrechen), und ist Mitglied des Partido Obrero (Arbeiterpartei) in Argentinien.

Doris, du bist ja in Buenos Aires in verschiedenen sozialistischen und migrantischen Zusammenhängen aktiv. Erklär uns bitte was am 10. Dezember in Argentinien passiert ist?

Am 10. Dezember versammelten sich in Argentinien Tausende von Frauen und Dissident_innen auf der Plaza Congreso in Buenos Aires. Nach einer 20-stündigen Debatte feierten wir am Freitag, den 11. Dezember, gegen 7:30 Uhr morgens die Zustimmung der Abgeordnetenkammer mit 131 Ja-Stimmen, 117 Nein-Stimmen und sechs Enthaltungen bezogen auf die Legalisierung der Abtreibung. Dieser Gesetzesentwurf ist nicht die ursprüngliche Version der Nationalen Kampagne für eine sichere, freie und legale Abtreibung. Der Entwurf ist vom derzeitigen Präsidenten Alberto Fernández. Er hat einen Artikel über die Verweigerung aus Gewissensgründen für Fachleute eingeführt, die diese medizinische Praxis nicht durchführen wollen. Wenn nun in einer privaten Einrichtung nur Verweigerer aus Gewissensgründen arbeiten, dürfen sie die Patient_innen an ein anderes Krankenhaus verweisen. Der Termin für die Debatte in der Senatskammer, die zweite Hürde, steht noch aus.

Kannst du uns einen Einblick in den Prozess geben, der zu diesem Ergebnis letzten Freitag geführt hat?

In den 1960er Jahren war die Abtreibung eines der Banner der feministischen Bewegung auf der ganzen Welt, besonders in Europa. Während England zum Vorreiter bei der Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung wurde, machten die Niederlande, Deutschland und Italien ihre eigenen Erfahrungen mit feministischen Gruppen. Aber es war das Gesetz zur legalen Abtreibung in Frankreich, das die Bewegung in Argentinien definitiv beeinflusst hat. Eine der Pionierinnen, Dora Coledesky (1928-2009), war eine trotzkistische Anwältin, die ins französische Exil ging. Sie war geprägt von den europäischen Ideen zur Abtreibung und rief nach ihrer Rückkehr nach Argentinien eine kleine Gruppe von Frauen zusammen, die sich organisierten, um die Agenda während der Regierung von Raúl Alfonsín voranzutreiben. Sie schufen eine Kommission und prägten den Slogan „Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben, legale Abtreibung, um nicht zu sterben!“. Dieser Slogan ist das Erbe der italienischen Militanz für die Entkriminalisierung der Abtreibung, und so entstand die heutige Nationale Kampagne für das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch.

Das erste Nationale Frauentreffen in Argentinien fand im Mai 1986 in der Stadt Buenos Aires statt. 1988 begannen die Frauen mit den Workshops zum Thema Abtreibung. 1995 beschloss die Kommission des Nationalen Frauentreffens, einen eigenen Workshop zu eröffnen. Die Diskussion hörte auf, sich auf einige Wenige zu beschränken, und wurde auf Student_innen und politische, feministische und lesbische Organisationen ausgeweitet. so wurde das Koordinationskomitee für das Recht auf Abtreibung ins Leben gerufen. Jedes Jahr danach wurde es zu einem Ort der Debatte über dieses Thema.

Der erste Gesetzentwurf für einen sicheren und kostenlosen legalen Schwangerschaftsabbruch wurde 1992 vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf war der Anstoß für den im Jahr 2003 vorgelegten Gesetzesentwurf. Im Jahr 2018 wurde das Gesetz zum siebten Mal in Folge vorgelegt und brachte die Debatte über Abtreibung auf die Straße, ins Fernsehen und in den Kongress.

Am Internationalen Aktionstag für Frauengesundheit, dem 28. Mai 2020, hat die Nationale Kampagne für das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch in Argentinien zum achten Mal den Gesetzentwurf zur freiwilligen Schwangerschaftsunterbrechung in der Abgeordnetenkammer eingebracht. Am 17. November dieses Jahres präsentierte Alberto Fernández seinen eigenen Gesetzentwurf, der an diesem Donnerstag und Freitag, 10. und 11. Dezember, debattiert wurde.

Was muss jetzt passieren, damit Abtreibungen in Argentinien wirklich legalisiert werden?

Derzeit ist die Zustimmung des Senats, also der zweiten Kammer, erforderlich. Wir wollen, dass diese Debatte noch in diesem Jahr stattfindet.

Wie wird sich die Politik der Legalisierung der Abtreibung auf Migrant_innen in Argentinien auswirken?

Mit der Verabschiedung des legalen Abtreibungsgesetzes wird die Sterblichkeit vieler Frauen mit niedrigem Einkommen, die auf illegale Abtreibungen zurückgreifen, vermieden. Migrantinnen sind keine Ausnahme, wir haben die prekärsten Jobs, und als Migrant_innen müssen wir die Anti-Migrationspolitik ertragen, die die Irregularität der Migration provoziert hat In vielen Aspekten ist der Zugang zur Gesundheit für uns als Migrant_innen nicht ausreichend für komplexe (Nach-)Behandlungen, die aus einer schlecht durchgeführten Abtreibung herrühren. Deshalb bestehen wir darauf, dass die Entscheidung einer Frau, eine Schwangerschaft legal zu unterbrechen, eine Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit ist.

# Titelbild: privat, das grüne Halstuch ist zum Symbol der feministischen Bewegung in Argentinien geworden

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