Von Zeit zu Zeit schaffen es die menschenunwürdigen Zustände in griechischen Lagern für Geflüchtete in eine breitere Medienöffentlichkeit. Doch allen Beschwörungen diverser Politiker:innen ändert sich nichts. Unser Autor Jan Theurich ist zusammen mit dem unabhängigen Medienkollektiv DunyaCollecive permanent auf Lesbos und arbeitet dort mit Geflüchteten und lokalen Aktivist:innen. Die aktuelle Situation rund um die Lager haben die Genoss:innen für euch zusammengefasst, der Künstler Ricaletto illustrierte den Text mit Grafiken.
Es wirkte wie eine gut einstudierte Show. Der griechische Migrationsminister, Notis Mitarakis, und die stellvertretende Generaldirektorin für Migration und Inneres und Leiterin der EU-Taskforce für Lesbos, Beate Gminder, waren vergangene Woche in Moria 2 – offiziell auch Karatepe 2 oder Mavrovouni genannt – auf der Insel Lesbos zu Gast. Business as usual: Mitarakis betonte bei einer Rede während seines Besuches, dass das Camp sauber, sicher und ordentlich sei. Er sprach von einer “Struktur, die nicht an das Chaos von Moria erinnert.“ Die Winterfestmachung und alle Hochwasserschutzmaßnahmen wären abgeschlossen. Das Camp sei nun auch unabhängig vom Gesundheitssystem der Stadt Mytilini.
Außerdem, so der Minister weiter, hätte es gemeinsam mit dem Hellenic Survey of Geology and Mineral Exploration (IGME) Bodenuntersuchungen gegeben. Ein Detail, das wichtig sein könnte. Das Lager befindet sich auf einem alten Schießplatz und Bodenbelastungen mit Blei und anderen Schwermetallen sind nicht unwahrscheinlich. Mitarakis reagierte damit auf die Bedenken, die von NGOs und in Medienberichten geäußert wurden. Die Innenkommissarin der EU-Kommission, Ylva Johansson betonte nach dem Brand von Moria Anfang September, dass die Bedingungen, die dort herrschten inakzeptabel seien. „Männer, Frauen und Kinder lebten in überfüllten Lagern mit schlechten sanitären Einrichtungen und wenig Zugang zu medizinischer Versorgung.“
Folgt man Mitarakis‘ Verlautbarung, dann könnte man meinen, diese Zustände seien Vergangenheit. Doch die Perspektive der Menschen, die in diesem Lager leben müssen, sieht ganz anders aus. Nicht ohne Grund nannten sie das Lager schnell „Moria 2“. Ein kurzer Überblick:
(I) Duschen gibt es nur sehr wenige und nur mit kaltem Wasser. Es handelt sich um sog. Eimerduschen. Campbewohner:innen improvisieren derweil ihre eigenen, um sich waschen zu können. Es gibt kein fließendes oder warmes Wasser. Die Menschen sehen sich oft gezwungen, ihre Wäsche und sich selbst im Meer zu waschen.
(II) Die Qualität des Essens ist genauso schlecht wie im alten Moria. Die Cateringfirma „Elaitis“ ist genau die gleiche wie im alten Camp. Essen gibt es einmal am Tag für drei Mahlzeiten. Öfter ist es am Abend verdorben oder generell von niedriger Qualität.
(III) Die medizinische Versorgung ist schlecht. Viele der Lagerbewohner:innen vertrauen den Ärzt:innen nicht mehr. Sie warten lange und bekommen oft nur Paracetamol zur Behandlung. Eine psychologische Betreuung existiert kaum. Es gibt eine Krätzeepidemie, die bereits in Moria 1 ein großes Problem war.
(IV) Der Standort des Camps ist in Richtung Norden exponiert. Die Zelte sind dünn. Wind und Wetter ziehen an ihnen und verursachen einen enormen Lärm. Viele Bewohner:innen klagen deswegen über Schlafentzug. Außerdem ist es kalt in der Nacht. Die Zelte werden nicht beheizt. Das benutzen von Radiatoren ist offiziell untersagt, genauso wie offenes Feuer.
(V) Die elektrischen Installationen sind unzureichend und wirken oft improvisiert. Es gab bereits einen Brand in Moria 2. Der Auslöser soll ein elektrischer Kurzschluss gewesen sein. Die Bewohner:innen löschten das Feuer. Nicht die Feuerwehr.
(VI) Der Zugang für die Presse ist stark reglementiert. Nur mit Sondergenehmigungen und unter Begleitung von Polizei oder Campangestellten darf das Lager betreten werden. Diese Sondergenehmigungen sind nicht leicht zu bekommen. Klar, der Coronaschutz ist wichtig, aber auch vor dem Lockdown galten diese Maßnahmen bereits. Es soll verhindert werden, dass unschöne Bilder aus diesem Lager an die Öffentlichkeit gelangen.
(VII) Die Bewohner:innen beschreiben das Lager oft als Gefängnis. Man wird am Eingang mit Metalldetektoren kontrolliert. Es gibt Drohnenüberwachung und 300 Polizist:innen sind im Schichtbetrieb im Einsatz. Hinzu kommt der streng limitierte Ausgang aus dem Camp. Durch den Lockdown, der das Camp ganz besonders hart trifft, darf jede Person nur noch einmal in der Woche für vier Stunden das Camp verlassen. Daraus resultiert ein enormer psychischer Druck.
Viele wissen nicht, was als Nächstes kommen wird. Fragen, die uns immer wieder begegnen: Wird mein Asyl abgelehnt? Geht es mit einem Transfer auf das Festland? Werde ich Asyl bekommen? Droht mir die Obdachlosigkeit? Wird Deutschland mich aufnehmen? Was haben wir getan, dass man uns so behandelt? Was passiert mit mir, wenn ich hier bleibe? Wird es ein neues Lager geben? Komme ich dann dahin? Wird es geschlossen sein? Wie lange werde ich noch hier bleiben müssen?
Das neue dauerhafte Lager
Doch wie steht es nun um den Bau dieses neuen Lagers, für das die EU-Taskforce mitverantwortlich ist? Mitarakis betonte nach seinem Rundgang, dass es sich bei Moria 2 nach wie vor um ein vorübergehendes Camp handeln würde. Man werde nun zusammen mit der EU-Kommission an einem neuen, geschlossenen Lager arbeiten. „In den kommenden Monaten werden wir in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission rasch auf die Schaffung einer dauerhafteren, geschlossenen kontrollierten Struktur hinarbeiten“, so Mitarakis. Mitarakis wiederholt hier seine Aussagen die er auch gegenüber dem Onlineportal „Infomigrants“ geäußert hatte: „In allen Lagern wird es geschlossene und kontrollierte Zentren geben. Diese Lager werden doppelt eingezäunt sein, sie werden ein sicheres Tor haben. Asylsuchenden wird die Aus- und Einreise mit einer Karte und einem Fingerabdruck zu einem bestimmten Zeitpunkt während des Tages gestattet. Die Lager werden nachts geschlossen sein – das ist eine Politik, die wir bereits im provisorischen Lager in Lesbos umsetzen. Außerdem wird das Lager über eine vollständig geschlossene ‚Abschiebehaftabteilung‘ für die Menschen verfügen, die eine endgültige Entscheidung erhalten haben und in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden müssen.“
Steht dies nicht im Gegensatz zu den Aussagen von EU-Innenkommissarin Ylva Johansson? Betonte sie doch stets, dass es sich bei einem Neubau um ein offenes Mehrzweckcamp handeln werde. Allerdings sprach auch sie von kontrollierten Ein- und Ausgängen. Vielleicht hält Mitarakis auch einfach nicht hinterm Zaun mit den Plänen seines Ministeriums. Er sieht schlicht keine Notwendigkeit darin, Dinge nicht beim Namen zu nennen. Liegt doch der Bau eines solchen Knast-Lagers voll auf der politischen Agenda der regierenden Nea Dimokratia. Die ultra-konservative Regierung in Griechenland will Stärke zeigen und bei den extrem rechten Wählern punkten. Das tat sie schon mit der Räumung des PIKPA auf Lesbos. Das PIKPA war einzigartiges Projekt, dass stark schutzbedürftigen Geflüchteten eine Unterkunft ohne Gewalt, Polizei und Zäune bot. Es basierte auf dem Prinzip des „community organizing“. In den Morgenstunden des 30. Oktober wurde das Projekt gegen den Willen der Bewohner:innen geräumt. Die Menschen wurden nach Karatepe 1 transferiert. Dieses Lager soll bis Ende Dezemeber geschlossen werden. Was dann mit ihnen passieren wird, wissen die Geflüchteten nicht.
Die Frage über den Bauzeitpunkt und genauen Standort scheint sich gerade zu klären. Alle bisher vorgeschlagenen Orte lagen weit entfernt von Siedlungsgebieten. Abgesehen davon, dass eine längere Unterbringung von Menschen in Lagern unwürdig ist, ist ein Bau irgendwo im Nirgendwo und ohne ordentliche Anbindung an das öffentliche Leben wohl mit einem Gefängnis gleichzusetzen. Soziale Ausgrenzung über räumliche Segregation ist beliebt in der europäisch-griechischen Asylpolitik. Es steht nun die Frage im Raum, ob es also zwei unterschiedliche Versionen ein und desselben Lagers gibt, oder ob Johansson bewusst und medienwirksam schönere Worte nutzte um die Realität zu verzerren und die öffentliche Meinung zu beruhigen.
Mitarakis kündigte im September vollmundig an, dass das neue Lager bis Ostern 2021 fertiggestellt wäre. Diese Pläne können als gescheitert angesehen werden. Es gab Differenzen über die Platzwahl, die den Prozess ins Stocken gerieten ließen und man musste neu verhandeln.
„Es ist nicht leicht, mit den Einheimischen zu sprechen“, sagte Gminder gegenüber der Presse. Die Visite von Moria 2 war entsprechend nur ein kleiner Punkt auf der Tagesordnung der beiden Politiker:innen. Der eigentlich Grund für den Besuch der Insel Lesbos, dürfte die Übereinkunft über den Baugrund für ein neues Lager gewesen sein. Zusammen mit vielen Beamt:innen der EU-Kommission und des Migrationsministeriums sowie technischen Berater:innen traf man sich in Mytilini und diskutierte. Der vorgeschlagene Ort unmittelbar neben einer Mülldeponie in Vastria, wurde durch die EU bereits abgelehnt. Das würde dem ohnehin schon angeschlagenen Image der Friedensnobelpreisträgerin nicht gut tun. Einzig der vom Bürgermeister Mytilinis, Stratis Kytelis, und der für die betreffende Präfektur zuständige Nea Dimokratia Mann, Charalambo Athanasiou, vorgeschlagene Standort stand also noch im Raum. Nach dem Treffen heißt es nun, dass das Lager genau dort gebaut werden soll: Ein Privatgrundstück das als „Eleftherakou-Anwesen“ bezeichnet wird und etwa zwei Kilometer östlich, nahe der Deponie liegt. 70.000 Euro Pacht sollen dafür pro Monat gezahlt werden. Das Grundstück gehört zum Verwaltungsbereich der Inselhauptstadt Mytilini. Gminder und Mitarakis gaben sich zuversichtlich: Der Bau werde noch vor Ostern 2021 starten. Die Fertigstellung ist für den Herbst 2021 geplant.
Nun soll also ein neues Lager in der Nähe einer Mülldeponie, mitten im Nirgendwo, entstehen. Ein Lager, von dem noch nicht ganz klar ist, ob oder wie offen bzw. geschlossen es sein wird. Jedoch allein die Lage macht es zu einem Gefängnis. Die ersten drei Gemeinden – Nea Kydonia, Pigi und Komi – in der Nähe des Camps haben bereits ihren starken Widerstand gegen den Bau angekündigt. Es gab im Vorfeld weder Gespräche, noch wurden diese in die Entscheidungsfindung einbezogen. So heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Gemeinden, dass „wir uns ausdrücklich alle rechtlichen Schritte vorbehalten, gegen die Personen vorzugehen, die an der Standortwahl und an ihrer Entscheidung beteiligt waren, um ohne unsere Kenntnis unser Leben und unser Eigentum zu gefährden und zur Verschlechterung unserer Lebensqualität beizutragen.“ Sie befürchten einschneidende Folgen für die lokale Bevölkerung, das Ökosystem und die Landwirtschaft. Sie wollen alle „institutionellen und rechtlichen Mittel nutzen, um diesen Plan zu vereiteln.“ Außerdem würde das neue RIC zu einer Einkreisung des Gemeindegebietes mit Großprojekten führen, denn dort befände sich schon eine Teerfabrik, ein Steinbruch für Abschlagsstoffe und eine Abfallbehandlungsanlage der Olivenmühlen.
Bereits im Februar diesen Jahres kam es zu Ausschreitungen. Entzündet hatte sich der Protest, als die Regierung in Athen mit ihren Plänen, auf der Insel ein geschlossenes Lager zu bauen, an die Öffentlichkeit trat. Auf der Straße war zu diesem Zeitpunkt aber nicht nur die politische Rechte. Auch die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) und antifaschistische Initiativen, sowie Gruppen und Einzelpersonen beteiligten sich an Aktionen. Der Protesttag, der schließlich zu einer massiven Eskalation führen sollte, begann am Morgen des 26. Februar 2020 in Mytilini mit einem Generalstreik. Bereits am Vortag errichteten Inselbewohner:innen auf den Zufahrtsstraßen zu dem geplanten Bauort Barrikaden aus Steinen und brennenden Autoreifen und beantworteten die Tränengasangriffe der Polizei mit Steinwürfen.
Extra aus Athen angeforderte Aufstandsbekämpfungseinheiten (MAT), die in den Morgenstunden des 25. März ankamen, sollten die Baumaßnahmen mit Gewalt und gegen den Willen der lokalen Bevölkerung durchsetzen. Sie mussten nach den massiven militanten Protesten, bei denen es zu Steinwürfen und dem Einsatz von Molotowcocktails kam, die Insel verlassen. Der Geduldsfaden der Inselbevölkerung schien nun endgültig gerissen. Es gab 42 verletzte Polizist:innen und 10 verletzte Demonstrant:innen. Aber: Das Bauvorhaben wurde gestoppt. Während sich linke und antifaschistischen Kräfte gegen den Bau von geschlossenen Lagern aussprachen, da diese unmenschlich und gefängnisähnlich seien, stellte sich die politische Rechte generell gegen die Aufnahme von Asylsuchenden im Land.
Fest scheint mit dieser Entscheidung aber auch zu stehen, dass das jetzige Lager eine ziemlich langfristige „vorübergehende Struktur“ sein wird. Die Geflüchteten sollen dort noch ein Jahr leben müssen. Die Transfers ans Festland sind coronabedingt auch ausgesetzt. Eine enorme psychische und physische Belastung für die Schutzsuchenden. Europa wäre in der Verantwortung die Menschen, die um Asyl suchen, gerecht zu verteilen. Gerade reiche Länder wie Deutschland könnten es sich leisten, blockieren aber politisch. Mit dem neuen Lager und dem neuen EU-Migrationspaket zeigt sich der wahre Gehalt der Phrase des „Nie wieder Moria!“: The show must go on.
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[LCM:] Drohnenüberwachung, kein fließendes Wasser und medizinische Unterversorgung: Das Flüchtlingslager Moria 2 - Die Linke in ihrer ganzen Vielfalt 3. Dezember 2020 - 10:01
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