Über den Zusammenhang von Entkolonisierung und Antikapitalismus der First Peoples in Kanada
Mit „Rote Haut, weiße Masken“ hat Glen Sean Coulthard 2014 ein bahnbrechendes Werk Indigener Philosophie und antikolonialer politischer Strategiediskussion vorgelegt. Im Dezember erscheint beim Unrast Verlag die deutsche Übersetzung. Endlich.
„Rote Haut, weiße Masken“ lautet der Titel der deutschen Übersetzung des 2014 erschienenen Werks des Indigenen Yellowknives Dene Philosophen Glen Sean Coulthard. Der Titel spielt auf das 1952 erschienene Buch „Schwarze Haut, weiße Masken“ von Frantz Fanon an. Das Buch setzt inhaltlich an der Schnittstelle zwischen Entkolonisierung und Indigenem Antikapitalismus an und reflektiert die Auswirkungen der gefährlichen „kolonialen Politik der Anerkennung“ auf den Kampf der Indigenen First Nations & Métis* in Kanada kritisch. Dabei verharrt es nicht in einer negierenden Kritik dieser Politik, sondern plädiert für eine Verstärkung der Tendenz einer revolutionären Politik der Anerkennung im Sinne einer kritischen „Indigenen Wiedergeburt“, einem Konzept, das über die letzten Jahre durch andere Indigene Philosoph*innen wie Taiaiake Alfred und Leanne Betasamosake Simpson formuliert wurde.
Coulthard bedient sich in seiner Analyse der philosophischen Diskussion um die Politik der Anerkennung innerhalb der Kritischen Theorie und leuchtet in Bezug auf diesen Diskurs die Stärken und Schwächen ausgewählter Argumentationen von Fanon in Bezug auf die Gefahren aber schlussendlich vor allem in Bezug auf das Potenzial einer selbstaffirmativen Politik der Anerkennung in kolonialen Situationen aus.
Darüber hinaus, und hierin besteht der eigentliche Wert von Coulthards Analyse, verknüpft er die theoretischen Reflexionen über eine geeignete und radikale Strategie im Kampf um Indigene Souveränität und Selbstverwaltung im liberal-demokratischen und siedlerkolonialen bundeskanadischen Kontext mit den relevanten geschichtlichen Etappen dieses Kampfes. Der Autor fokussiert sich bei dieser kenntnisreichen empirischen Diskussion der Erfolge und Misserfolge der Bewegung auf die letzten 30 Jahre (seit der Erstveröffentlichung 2014), das heißt seit der Intensivierung der liberalen Politik der Anerkennung, die „genau die Formen kolonialer Macht reproduzier[t], die wir [die Indigenen Völker (M.R.)] ursprünglich durch unsere Forderungen nach Anerkennung überwinden wollten.“ Diese Reflexion konkreter Indigener Kämpfe um Selbstverwaltung endet mit der 2012 entstanden Idle-No-More-Bewegung, in der Coulthard die von ihm geforderte revolutionäre Alternative zur kolonialen Politik der Anerkennung in Ansätzen bereits aufkeimen sieht.
Über diesen spannenden Einblick in die Indigene Debatte zum Umgang mit den kolonialen Formen der Herrschaft und Ausbeutung in Kanada hinaus, lässt sich in dem Buch auch ein intelligenter und differenzierter Beitrag zu der Debatte über „Identitätspolitik“ erkennen. Diese Debatte hat sich in den letzten Jahren zu einem ubiquitären Referenzpunkt in der radikal-linken Theorieproduktion herausgebildet. In Bezug darauf argumentiert der Autor mit Fanon über Fanon hinaus, dass es neben dem unkritischen Essentialismus der „Identitätspolitik“, vor dem vielen linke Diskutant*innen zu Recht warnen, auch eine kritisch-reflektierte Form der Rückbesinnung auf vorkoloniale traditionelle Praktiken geben kann, die als Indigen-antikapitalistische und subversiv-oppositionelle Elemente gegen die koloniale Anerkennung, bei der den First Peoples die Bedingungen der Vereinbarungen von der kanadischen Bundesregierung diktiert werden, in Stellung gebracht werden kann. Im vorliegenden Fall gehören hierzu zum Beispiel alternative Wissens- und Glaubenssysteme, wie der besondere theoretische und praktische Indigene Zugang zu Land, den der Autor „geerdete Normativität“ nennt. Diese Politik der „Indigenen Wiedergeburt“ als „selbstreflektierende Wiederbelebung“ einiger traditioneller Praxen und epistemologischer Bezugssysteme kann also gegen die „weitere Expansion der kapitalistischen Produktionsweise in den Indigenen Gebieten“ und damit auch gegen die fortschreitende (Re)-Kolonialisierung dieser Gebiete gesetzt werden.
Ebenfalls in der deutschen Übersetzung enthalten ist die von der Indigenen Organisation „Dene Nation“ 1975 herausgegebenen Grundsatzerklärung mit dem Namen „Dene Decleration“, auf deren Grundsätze Coulthard sich im Buch positiv bezieht und die er den Teilen der Indigenen Bewegung entgegenhält, die auf die „Versöhnungspolitik“ der kanadischen Bundesregierung einsteigen. Der Text der Dene Declaration sowie ein angefügtes Glossar erleichtern der Leser*in in der deutschsprachigen Debatte das Verständnis der kanadischen Situation.
Das Buch ist m.E. aus zwei Gründen überaus wichtig für den deutschsprachigen Kontext und die radikal-emanzipatorische Bewegung hier zu Lande: Erstens weil die eigene koloniale Täter*innenvergangenheit systematisch gesehen bis heute fast unthematisiert bleibt und zweitens, weil Kanada als Paradigma eines bis heute andauernden siedlerkolonialen Verhältnisses und der Indigenen Kämpfe gegen dieses, ebenfalls nur selten thematisiert wird. Eine Thematisierung dieser konkreten Situation könnte bei uns zu einem besseren Verständnis siedlerkolonialistischer Gesellschaften im Allgemeinen und angemessener oppositioneller Strategien führen.
Auch wenn Coulthard einige konkrete Kämpfe in seine Argumentation mit einfließen lässt, bleibt „Rote Haut, weiße Masken“ einem philosophisch-wissenschaftlichen Duktus verhaftet und ist daher keine einfache Lektüre. Die an einigen Stellen zu stark verschachtelten Satzkonstruktionen sind nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass es sich um eine Übersetzung aus dem kanadischen Englisch handelt. Die Lektüre ist trotz dieser Schwierigkeiten umso lohnender und sollte von allen, die sich für den kanadischen Kontext des Indigenen antikolonialen Kampfs und Indigene antikoloniale Kämpfe im Generellen interessieren, aufgenommen werden.
„Rote Haut, weiße Masken – Gegen die koloniale Politik der Anerkennung“ von Glen Sean Coulthard, Unrast Verlag, 284 Seiten, 18 Euro, Übersetzung: Michael Schiffmann
# Titelbild: Titelseite des Buches, Unrast Verlag
* Die First Nations, Métis und Inuit bilden zusammen die Gesamtheit der Indigenen Völker in Kanada, die gemeinsam mit dem Terminus „First Peoples“ benannt werden. Coulthard konzentriert sich in seiner Analyse auf die First Nations und die Métis, sein strategischer Vorschläg ist m.E. aber nicht auf diese begrenzt.
[LCM:] Die Indigene Wiedergeburt- G. S. Coulthards „Rote Haut, weiße Masken“ - Die Linke in ihrer ganzen Vielfalt 19. November 2020 - 12:02
[…] Beitrag Die Indigene Wiedergeburt- G. S. Coulthards „Rote Haut, weiße Masken“ erschien zuerst auf Lower Class […]
Ein Genosse 19. November 2020 - 20:13
Beim lesen dieses Beitrags sind mir einige Fragen gekommen, die ich gerne stellen würde. Ebenso möchte ich am Ende dem Autor zum Artikel gerne Feedback geben.
Fragen: Was ist mit ‚Siederkolonialistische Gesellschaften‘ gemeint? Wann kann von diesen gesprochen werden? Sind die aus den deutsche Ostexpansion ab etwa 900-1000 n.Chr. entstanden Gesellschaften Siedlerkolonialistisch? Wäre dann Deutschland vor 100 Jahren ‚Siedlerkolonialistisch?
Sind es die nach Afrin & Sere Kaniye gebrachten syrischen Geflüchteten?
Gibt es frei zugängliche Literatur oder Artikel zu ‚Indigenem Antikapitalismus die empfohlen werden können?
Und abschließend Feedback:
Der Text war streckenweise sehr schwer zu lesen und richtet sich augenscheinlich an ein universitäres Publikum. Viele Sätze sind zu lange und Einschübe unnötig. Lieber mehrere kurze Sätze draus machen. Mehr als Ein Einschub sollte niemals vorkommen. Ebenso nimmt die Aufmerksamkeitsspanne bei vielen Menschen ab 8 Worten zusehends ab.
Texte müssen nicht künstlich verflacht werden, dennoch wäre ein vermeiden von Worten wie ‚ubiquitären‘ oder ‚epistemologischer‘ angebracht. Ein ‚verbreitet‘ oder ‚erkenntnistheoretisch‘ hätte es auch getan.
Ich würde mich freuen, wenn studierte Genossen ihre Erkenntnisse verständlich auch für nicht studierende ausdrücken können. Es soll in der radikalen Linken auch Genossen ohne Abitur geben.
Lust das Buch zu lesen oder mich damit auseinanderzusetzen, habe ich durch die Rezension nicht bekommen. Dennoch würde ich mich über weitere Rezensionen von Dir freuen.
Solidarische Grüße
Marik Ratoun 25. November 2020 - 12:16
Hallo @Ein Genosse, danke für Dein Feedback. Hier ein kleiner Kommentar, der nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Mit „siedlerkolonialistische Gesellschaften“ meine ich Gesellschaften, in denen eine europäische Gemeinschaft Territorien in einem Land erobert und besiedelt, in dem es bereits eine Indigene Bevölkerung gibt, Land und Ressourcen ausbeutet zu denen diese indigenen Völker genealogische Beziehungen haben und einen Nationalstaat errichtet. Typischerweise geht mit der Besiedlung durch Siedler*innen ein Genozid der Indigenen Bevölkerung einher, der die vollständige Auslöschung dieser Bevölkerung zum Ziel hat. Manchmal kommt es zu einem Massenexodus. Die Kontrolle des Gebietes geht bei siedlerkolonialistischen Unternehmungen nicht von einem Mutterland aus, das seine „Kolonie“ pflegt und ausbeutet („klassischer Kolonialismus“, sondern die in dem Land ansiedelnde Siedlerbevölkerung übt die Herrschaft vor Ort aus. Einschlägige Beispiele siedlerkolonialistischer Gesellschaften sind Australien, die USA, Kanada, Irland, Südafrika, Palästina. Weil Kolonialismus meistens als „staatlich geförderte Inbesitznahme auswärtiger Territorien und die Unterwerfung der lokalen Bevölkerung“ (Vgl. Wikipedia-Artikel zu Kolonialismus) ab dem 15. Jahrhundert verstanden wird, würde die deutsche Ostexpansion ab 900-1000 n. Chr. nicht unter die Bezeichnung „siedlerkolonialistisch“ fallen. Auch sind meines Verständnisses nach nicht die nach Afrin & Sere Kaniye syrischen Geflüchteten selbst siedlerkolonialistische Gesellschaften. Nicht-kurdische Menschen in den kurdischen Gebieten anzusiedeln hat m.E. aber durchaus den Anspruch die ansässige Indigene kurdische Bevölkerung zu verdrängen. Ich habe allerdings zu dieser Thematik sehr wenig Wissen und kann daher nur schwierig auf diesen Fall eingehen. Zum Thema Siedlerkolonialismus gibt es viel englischsprachige Literatur (ich empfehle Patrick Wolfe: Settler Colonialism and the Elemination of the Native) und die Diskussion, was unter „siedlerkolonialistisch“ fällt und was nicht, ist natürlich noch im Gange.
Bzgl. der Nachfrage nach Literatur über „Indigenen Antikapitalismus“ sind mir keine deutschsprachigen Texte bekannt aber das Buch von Coulthard wäre schon mal ein Anfang. Auf Englisch gibt es einige Artikel, da würde ich eine kurze Google-Recherche empfehlen.
Und schließlich Danke für das Feedback! Mir ist bewusst, dass der Text schwierig ist. Es war mir allerdings lieber, nicht den Eindruck zu erwecken, als sei das Buch, um das es geht, einfach zu lesen und „falsche Hoffnungen“ zu wecken. Schade, dass Du keine Lust auf das Buch bekommen hast, aber vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt mal.
Solidarische Grüße
Marik Ratoun