Belarus: „Wir glauben daran, wir können es, wir werden gewinnen!“

23. Oktober 2020

Autor*in

Kim Garcia

Kim García und Ara Holmes sind internationalistische Anarchokommunist*innen aus Berlin, die sich gerade in Belarus aufhalten. Für das Lower Class Magazine haben sie eine Reportage über die Sonntagsdemo am 18. Oktober geschrieben.

Minsk, Sonntag, 18. Oktober. Es ist 13 Uhr. Zwischen grauen Plattenbauten gehen wir zu einem Vortreffpunkt für die heutige Demo. Die Stimmung ist gut, die ersten Mitglieder einer Nachbarschaftsversammlung und einer lokalen anarchistischen Gruppe sind schon da. Es kommen immer mehr Menschen dazu und begrüßen sich herzlich. Mit rund 80 Personen machen wir uns auf den Weg zur Demo.

Auch in der zehnten Woche halten die Proteste weiter an, die Zahl der Demonstrierenden bleibt fast unverändert. Jeden Sonntag versammeln sich an die 100.000 Menschen. Sie fordern den Rücktritt von Lukashenko, Neuwahlen und Freiheit für politische Gefangene.

Begonnen haben die Proteste nach den Wahlen im August. Der erneute offensichtliche Wahlbetrug war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Seitdem gibt es neben wöchentlichen Großdemos auch Proteste von Frauen* und Studierenden, Nachbarschaftsversammlungen, Straßenblockaden und gelegentliche Streiks.

Besonders an diesem Sonntag ist, dass das Regime die Erlaubnis gegeben hat, mit scharfer Munition auf Demonstrierende zu schießen. Außerdem stellte die Präsidentschaftskandidatin Svetlana Tikhanovskaya der Regierung ein Ultimatum. Wenn bis zum 26. Oktober Lukashenko nicht zurückgetreten ist, die Gewalt auf den Straßen nicht beendet und nicht alle politischen Gefangenen freigelassen wurden, soll es landesweite Streiks und Blockaden geben. Diese Ankündigung sorgt für angespannte Stimmung, obwohl sie in der Organisation der Proteste keine so führende Rolle einnimmt, wie teilweise in den westlichen Medien dargestellt. Dennoch bestimmt Tikhanovskaya politische Diskurse mit.

Anders als sonst findet die Demo nicht im Zentrum sondern im Arbeiter*innenviertel statt. Vielleicht aus Solidarität mit den Arbeiter*innen und um den Gedanken des Streikens zu bestärken.

Auf dem Weg zur Demo hupen uns immer wieder Autofahrer*innen zu, Passant*innen winken in Solidarität. Von allen Seiten laufen Gruppen in die gleiche Richtung, werden zu stetigen Strömen, bis wir die Partisanska-Allee, eine fast hundert Meter breite Straße, erreichen – der Anblick der Menschenmassen ist überwältigend.

Die dominierenden Farben sind weiß und rot: die Farben der Nationalfahne bevor Belarus eine sowjetische Republik wurde. Als Symbol der Unabhängigkeit wird sie von der Opposition benutzt. Der beliebteste Spruch, „Lang lebe Belarus!“, unterstreicht den nationalistischen Charakter des Protests, welcher aber bei den allerwenigsten mit rechten Tendenzen einhergeht. Vielmehr geht es um die Erinnerung und Möglichkeit eines anderen Belarus, das nicht geprägt ist von der Sowjetunion und Lukashenkos Diktatur. Trotzdem fragen wir uns, inwiefern der Verweis auf die nationale Einigkeit die Klassenunterschiede zwischen den Protestierenden verschleiert. Zwar sind aktuell alle gegen das repressive Regime vereint, sobald dieses jedoch gestürzt ist, werden sich zwangsläufig verschiedene ökonomischen Interessen gegenüberstehen: Die der Arbeiter*innen, die sich weniger prekäre Lebensumstände erhoffen, die an einem Klassenaufstieg interessierte Mittelschicht, sowie die von Unternehmer*innen, die in neoliberalen Reformen die Möglichkeit größerer Profite sehen.

Einige tragen jedoch auch andere Symbole: So wie eine Gruppe Anarchist*innen, die mit schwarzer Fahne, Trommeln und einem Banner mit dem Spruch „Solidarität ist unsere Waffe“ viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch wenn sich der Staat bemüht, Anarchist*innen als heimliche Provokateure darzustellen, werden sie bei immer mehr Menschen positiv wahrgenommen. Fast schon heroisch werden sie als unermüdliche Kämpferinnen, die schon seit Jahrzehnten Repressionen ausgesetzt sind, dargestellt. Gleichzeitig setzen sie sich unermüdlich für die Belange der Menschen ein. Fröhlich jubelt die Menge über die Musik und unterstützt bei Sprüchen wie „Das ist unsere Stadt“ oder „Haut ab, du und OMON“ (gemeint sind Lukashenko und die Spezialeinheiten der Polizei).

Plötzlich stoppt der Protestzug. Später erfahren wir, dass die Straße mit Wasserwerfern blockiert wurde. Überall um uns herum rufen Menschen „Umdrehen“, bis sich alles in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung setzt. Jetzt stehen wir nicht mehr am Ende der Demo, sondern relativ weit vorne – Polizei und OMON gegenüber. Die Stimmung ist angespannt, denn die Angst vor Polizeigewalt ist groß, viele Menschen haben sie bereits zu spüren bekommen. Hunderte willkürliche Festnahmen jede Woche, Folter, sowie massive Gewalt auf den Straßen zeigen ihre Wirkung. Meistens reicht die Präsenz von wenigen OMON-Vans, um eine große Menge aufzulösen. Heute ist es also ein erster Erfolgsmoment, der die Kraft gibt trotz der Blendgranaten, die kurz darauf in die Menge fliegen, nicht stehen zu bleiben. Als daraufhin Polizei und OMON, überfordert von der auf sie zulaufenden Menschenmasse, zurück in ihre Autos rennen und kurzerhand das Weite suchen, scheint der Ruf „Wir glauben daran, wir können es, wir werden gewinnen!“ zum Greifen nah.

Danach zieht die Demo vorerst ungestört weiter. Da die Anarchist*innen nicht nur die Aufmerksamkeit solidarischer Demonstrierender auf sich ziehen, lösen sie sich schon einige Zeit vor Ende der Demo auf. Das Regime ist besonders stark darauf aus, organisierte Gruppen und Personen handlungsunfähig zu machen. So wurden bereits Aktivist*innen nur für das Entfalten eines anarchistischen Banners festgenommen. Eine Person erzählt, wie sie in Gewahrsam eine Zelle mit der Gruppe von Menschen teilte, die zufällig in der ersten Reihe einer Demo liefen – organisierte Reihen gibt es hier kaum. Obwohl sie die Demo einzeln verließen, wurde sie alle von Polizei in Zivil verfolgt und verhaftet.

Das Verlassen der Demo wird somit zu einem der gefährlichsten Momente und erfordert große Vorsicht: lange durch die Häuserblocks laufen, immer wieder nach hinten blicken, dann mit verschiedenen Bussen und Trams durch die Stadt fahren.

Endlich zu Hause angekommen diskutieren wir die Ereignisse des Tages und versuchen sie mit den vergangenen Wochen in Verbindung zu setzen.

Auch wenn die meisten Menschen auf der Demo und in den Nachbarschaften entschlossen sind nicht aufzugeben bevor Lukashenko nicht zurückgetreten ist, befinden sich die Proteste in einer ungewissen Phase. Nach dem die ersten drei Tage nach den Wahlen von heftigen Zusammenstößen geprägt waren, änderte der Staat seine Strategie. Die Demos in Minsk durften vergleichsweise ungestört und friedlich stattfinden, während in kleineren Städten versucht wurde jeglichen Protest im Keim zu ersticken. Mit Erfolg: außerhalb von Minsk gibt es nur noch wenig Protestaktivitäten.

Die Ruhepause währte aber nur bis Anfang September. Einerseits nahm dann die Repression wieder zu, andererseits erkannten wohl viele, dass nur friedliche Sonntagsdemos Lukashenko eher unbeeindruckt lassen und dass sie sogar dort staatlicher Gewalt ausgesetzt sind. So kommt es nicht nur auf den Demos wieder zunehmend zu Gefangenenbefreiungen, sondern auch zu regelmäßigen Straßenblockaden und gelegentlichen abendlichen Zusammenstoßen in den Nachbarschaften.

Eine durch Straßenkämpfe geprägte militante Kultur der Auseinandersetzungen gibt es in Belarus nicht. Aber das ändert sich nach und nach. „Hier in Belarus wollen die Menschen keine Gewalt“ erzählt uns Mihail nach einer Nachbarschaftsversammlung. „Aber seit ich aus dem Knast raus bin, denke ich anders darüber. Aber das stelle ich mir komisch vor, ich mit einem Molotovcocktail in der Hand und die Person neben mir mit Blumen.“

Die pazifistische Rhetorik ist noch sehr präsent, eine ihrer Vertreter*innen ist Tikhanovskaya. In der Ankündigung ihres Ultimatums sehen viele aber einen Bruch: in Belarus gibt es kein Recht auf politischen Streik, eine friedliche Umsetzung scheint fast unmöglich. Dass der Druck steigt, zeigt auch der heutige Sonntag. Der Versuch die Demo nicht laufen zu lassen, Blendgranaten, Gummigeschosse, über 200 Festnahmen und die Androhung scharfer Munition. Und trotzdem, oder gerade deswegen, schallte der Ruf „Streik, Streik, Streik!“ immer wieder über die Menschenmasse.

Denn eins ist klar: Die Bewegung steht an einem Wendepunkt. Wird weiter gemacht wie bisher, drohen die Proteste und Nachbarschaftsversammlung im nahenden Winter einzugehen. Was gebraucht wird sind neue Impulse, die der Bewegung Aufschwung geben.

Was ebenfalls fehlt, sind breit getragene gemeinsame Perspektiven, die über den Rücktritt Lukashenkos und ein Ende der Repression hinausgehen. Aber auch wenn die Proteste hauptsächlich als Reaktion auf ein unterdrückerisches Regime erfolgen, zeigt sich an verschiedenen Stellen die Suche nach neuen Impulsen. Auf Nachbarschaftsversammlungen wird über Selbstverwaltung diskutiert. Pramen, eine anarchistische Gruppe, hat ein revolutionäres Programm veröffentlicht. Nexta, der größte widerständige Telegramkanal mit über zwei Millionen Abonnent*innen, teilt ihre Inhalte.

Für die Genoss*innen ist klar, dass die Sozialkürzungen, der Niedergang der Wirtschaft, die miserable Reaktion auf die Corona-Pandemie nicht nur mit einer unfähigen Regierung zusammenhängen. Sie sind Symptome einer Krise, auf die weder Lukashenko, noch Putin, noch neoliberale EU-Bürokraten eine Antwort kennen.

Zwar ist es unwahrscheinlich, dass es am 26. Oktober wirklich zu landesweiten Streiks kommt. Aber es ist ein mutiger Schritt nach vorn, der das Potential besitzt, eine neue Phase des Widerstands einzuleiten. Ob der Versuch, die belarussische Gesellschaft zu transformieren, gelingt, wird von vielen Faktoren abhängen: Werden sich die Arbeiter*innen an den Streiks beteiligen und eine weitere Front gegen das Regime aufbauen? Werden die Repressionsorgane weiter eskalieren – und wie werden die Menschen darauf reagieren? Und schaffen es die Genoss*innen eine echte Perspektive und echte Hoffnung zu wecken – jenseits von Staatssozialismus und bürgerlicher Demokratie?

Den Kopf voller Fragen gehen wir schlafen. Gespannt schauen wir den nächsten Wochen entgegen.

#Titelbild: Sonntagsdemo, 18. Oktober in Minsk, Belarus/ Kim García und Ara Holmes

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