Gegen den Realismus der Anpassung. Zu Inge Hannemanns Austritt aus der Linkspartei

12. September 2020

Inge Hannemann ist aus der Linken ausgetreten. In einem Gespräch mit der taz bemängelte die prominente Bloggerin, dass das Thema Hartz-IV in der Partei nur noch unter „ferner liefen“ verhandelt würde. Breit gemacht habe sich dagegen ein absoluter Wille zu Rot-Rot-Grün, egal um welchen Preis. Bei der Abschaffung von Hartz-IV müsse man „hart bleiben“, so Hannemann. Die Interviewerin schiebt die Frage nach: „Aber ist das nicht unrealistisch?“

Na, wenn das schon unrealistisch ist. Früher war noch der Kommunismus unrealistisch. Dann der Sozialismus. Dann überhaupt alles, was über das Ende der Geschichte in einem sich siegreich wähnenden Kapitalismus auch nur hinauszublinzeln wagte. Heute gilt schon das Backen sehr kleiner Brötchen für linke Parteien als unrealistisch. Rücknahme von Hartz-IV? NATO-Austritt und ein Ende deutscher Kriegseinsätze? Abschaffung des Verfassungsschutzes? Ein vollständiger Abschiebestopp? Alles unrealistisch.

„Realistisch“ soll dagegen die völlig abstruse Idee sein, in einer künftigen Regierung „linke Ideen“ durchsetzen zu können. Wohlgemerkt als Mehrheitsbeschaffer für eine von Olaf Scholz geführte SPD. Derselbe Realismus führte die deutschen Grünen in den Jugoslawienkrieg und die österreichischen Grünen in ihre aktuelle Koalition mit Rechtspopulisten samt Verweigerung, auch nur einen einzigen Geflüchteten aus Moria aufzunehmen.

Diese Art von Realismus ist der „Realismus“ der herrschenden Klasse, den diejenigen Linken einüben, die sich für Posten als Verwalter des Systems bewerben. Man hat sich damit abgefunden, dass man den imperialistischen Kapitalismus nicht überwinden kann. Und wenn man so weit ist, wird auch das Bekämpfen seiner Symptome immer bescheidener. Denn eines ist ja richtig: Es ist wirklich unrealistisch, dass mörderische Grenzregimes, Kriege, Armut, Unterdrückung und Ausbeutung innerhalb des Kapitalismus beseitigt werden. Und wer als auf parlamentarischen Karrierismus eingeschworene Partei fest auf dem Boden des Bestehenden steht, dem geht es dann eben nur noch um die Nuancen im Management der Menschenschinderei. Oder wie die Thüringer Linkspartei-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow es formuliert: Um den „Markenkern“. Wenn die SPD mit 4 Euro mehr für Hartz-IV-ler wirbt, dann wirbt die Linke mit 6 Euro mehr, auf dass man sich bei 5 treffen kann. Wenn die jetzige Regierung 150 Kinder aus der Flammenhölle von Moria aufnehmen will, legt man noch zehn drauf, man bietet 160, zumindest im Wahlkampf.

Und da, wo man alles ohnehin genau gleich wie alle anderen macht, tut man es wenigstens mit zur Schau getragenem schlechten Gewissen: „Jede Abschiebung ist eine menschliche Niederlage für mich!“ twittert Bodo Ramelow, während seine Thüringer Regierung weiter abschiebt. Es fehlt noch ein Quäntchen von dieser Art Humanismus und er käme zum Flughafen, um den geknebelten Nicht-Wahlberechtigten zu erklären, dass ihr Verbleib in diesem Land leider hochgradig „unrealistisch“ sei, was er und Kollegin Susanne bedauern, aber woran man leider leider leider nichts ändern könne.

Dass Inge Hannemann nun austritt und auch öffentlich erklärt, warum, ist angesichts dieser Lage zu begrüßen. Zwar werden die „Realisten“ sagen: Aber das hilft ja auch nichts.

Aber schon die Geste, dass gelegentlich mal jemand sagt „Bis hier hin und nicht weiter“ schlägt Kerben in den mörderischen Realismus der Anpassung an eine Welt, die dem Abgrund entgegen geht.

# Titelbild: wikimedia.commons

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