Vom 5. bis zum 11. September findet der „Lange Marsch“ der kurdischen Bewegung in Deutschland statt – dieses Jahr unter dem Motto „Ji Bo azadiya Rêber APO, bi hev re Serhildan“ („Für die Freiheit Abdullah Öcalans gemeinsam zum Aufstand“). Mehrere hundert Jugendliche werden zu Fuß von Hannover bis Hamburg marschieren und an verschiedenen Stationen Kundgebungen abhalten. Wir haben mit Diyar von der kurdischen Studierendenorganisation Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan (YXK) über die Ziele und Hintergründe der politischen Wanderung gesprochen.
Der jährlich durchgeführte „Lange Marsch“ ist ja seit vielen Jahren eine Institution in der kurdischen Bewegung Deutschlands. Was ist die politische Funktion dieser Veranstaltung? Welche Ziele verbindet ihr mit ihr?
Politische Ziele hat der Meşa Dirêj, der Lange Marsch, viele. Zum einen geht es um die Mobilisierung der Bevölkerung. Das sieht man auch an der diesjährigen Route wieder sehr gut. Wir starten in Hannover, von dort geht es nach Lehrte, dann nach Celle und Unterlüß, Lüneburg, Binsen, Harburg und Hamburg. Da sind einige Gebiete dabei, in denen sehr viele Kurd*innen leben, etwa eine riesige ezidische Gemeinschaft rund um Celle. Wir wollen den Menschen zeigen: Wir sind auf der Straße, ihr könnt daran teilnehmen, wir kommen auch bei euch vorbei. Der Lange Marsch ist auch immer ein Marsch der Bevölkerung aus den jeweiligen Gebieten, die auf der Route liegen. Er soll der Bevölkerung Hoffnung geben.
Zugleich geht es darum, dem Spezialkrieg gegen die kurdische Bewegung entgegenzuwirken. In Rojava wie hier besteht er zum einen in Einschüchterung und Mutlosigkeit, zum anderen aber auch darin, dass man versucht, die Kurd*innen den Ideen Öcalans zu entfremden. Man sagt ihnen: Okay, macht euer Ding, kulturell oder sonstwie, aber haltet euch von der Arbeiterpartei Kurdistans und Abdullah Öcalan fern. Da wird zum einen kriminalisiert und zum anderen werden liberale Integrationsprojekte instrumentalisiert. Damit soll Öcalan als Repräsentant und Ideengeber und die Bevölkerung auseinandergerissen werden. Der Lange Marsch ist traditionell auch gegen diese Art der Kriegführung gerichtet.
Dieses Jahr spielen aber zudem noch andere Themen eine Rolle, die sich auch in der Route widerfinden: In Celle etwa wurde Anfang des Jahres der Jugendliche Arkan Hussein Khalaf ermordet – geflohen vom Genozid des Islamischen Staats, der von der Türkei und den Imperialisten unterstützt wurde und dann ermordet von einem Faschisten in Deutschland. Das ist ein Thema: Die global erstarkenden faschistischen Kräfte, gegen die wir mobil machen wollen. Sengal, als die Heimat der Ezid*innen wird natürlich ein Thema sein – die Region, die zuerst vom IS und jetzt immer noch von der Türkei angegriffen wird.
Und dann natürlich in Unterlüß der ganze Themenkomplex Antiimperialismus und Antimilitarismus. Als Rheinmetall-Standort ist der Ort ein Symbol für deutsche Kriegstreiberei. Hier geht es darum, dem deutschen Staat die Maske herunterzureißen. Auch der kurdischen Bevölkerung wird immer eingebläut: Hier ist alles friedlich, der Krieg ist ja weit weg und hat nichts mit hier zu tun. Dabei ist Deutschland mit seinen Waffenexporten und seiner Weiterentwicklung von Technologien für kriegführende Nationen – aktuell etwa gut sichtbar an den Drohnenprogrammen der Türkei – an vielen Kriegen beteiligt. Da wollen wir da ansetzen, wo die Kampagne „Rheinmetall entwaffnen“ schon viel Arbeit gemacht hat.
Und um eine letzte Station zu nennen: In Lüneburg wollen wir gemeinsam mit den Internationalist*innen dort gegen die Kriminalisierung der Bewegung angehen – wo ja mittlerweile Antifa-Fahnen zu verbotenen Fahnen erklärt werden, nur weil sie kurdischen Symbolen ähneln. Diese Kriminalisierung ist für uns auch ein Symbol für die Verbreitung der Ideen Öcalans. Wo man sieht, es ist nicht mehr so getrennt: Hier die kurdische Bewegung, dort deutsche Solidaritätsstrukturen. Sondern das wächst zusammen und es entsteht ein neuer Internationalismus – und das macht dem deutschen Staat Angst.
Was hat das alles mit Abdullah Öcalan zu tun?
Gerade auch in diesem Entstehen eines neuen Internationalismus zeigt sich, dass die seit Jahrzehnten andauernde Isolationshaft von Öcalan nicht einfach ein Angriff auf eine unliebsame Person ist. Schon in den Umständen seiner Verhaftung – dem internationalen Komplott gegen ihn – spiegelt sich wider, dass es bei seiner Gefangennahme um ein internationales Kräfteverhältnis geht. Aber dieser Angriff ist auch einer gegen sich auf Grundlage seiner Ideen neu entwickelnde internationale Bewegungen – etwas, was vor allem seit der Revolution in Rojava immer mehr aufblüht. Insofern ist die Isolation Öcalans auch ein Angriff auf alle gegen Unterdrückung und Kolonialismus gerichteten Bewegungen.
Für deutsche Linke war die zentrale Position Öcalans für die kurdische Bewegung immer schwer zu verstehen, viele sahen darin eine Art Personenkult. Was für eine Rolle spielt Öcalan eigentlich in der kurdischen Bewegung?
Öcalan selbst betont immer, man soll in ihm nicht die einzelne Person sehen, die eine Organisation leitet. Sondern er wollte in seiner eigenen Biographie immer die kurdische Gesellschaft insgesamt analysieren. Wenn wir zurückschauen in die Zeit, als die PKK entstand, dann waren davor diejenigen Kurd*innen, die sich irgendwie für Kurdistan eingesetzt haben, aus der Mittelschicht oder aus führenden Clans und Stämmen. Öcalans Generation dagegen kam von unten. Öcalan war ein armes Dorfkind, worin sich auch nochmal die Klassenfrage widerspiegelt. Und er wirft dann die Frage auf, wie können wir uns als kurdische Gesellschaft entwickeln, aber nicht einfach dadurch, dass man da ein paar Stromleitungen verlegt, sondern indem man die Frage stellt: Wie können wir eine Gesellschaft, die immer, wenn sie versucht hat, Widerstand zu leisten, geschlagen wurde, wie können wir dieser Gesellschaft wieder ein Selbstbewusstsein geben?
Er war nie jemand, der sich über der Gesellschaft gesehen hat. Er hat in seinem eigenen Leben das Leben der ganzen Bevölkerung gesehen: Als er die eigenen Eltern und ihre Lebenssituation sah, als er zur Schule ging und die kurdische Sprache verboten war. Er ist Teil der Bevölkerung und nicht ein externer Führer. Und was die Bevölkerung in ihm sieht, ist, dass er in dem Kampf, den er führt, nie versucht hat, sich selbst zu bereichern oder nach vorne zu bringen.
Wenn man solche Fragen der Leitung und Führung analysiert, ist es wichtig, zu fragen: Wie wird geführt? Durch Befehlsgewalt oder durch eigene Erfahrung und Vorleben. Weil wenn man – wie Öcalan – sich selbst als Teil einer unterdrückten Bevölkerung sieht und in sich die Prozesse zur Befreiung anstößt, um die dann auch auf die Bevölkerung zu übertragen, dann ist das eine Führung nicht für einen selbst, sondern die der Bevölkerung Kraft geben soll.
Aktuell finden ja wieder schwere Angriffe der Türkei auf die kurdische Bewegung statt, nicht nur in Rojava, wo die Weltöffentlichkeit zumindest gelegentlich noch hinsieht, sondern auch im Grenzgebiet zwischen dem Nordirak, Südkurdistan, und der Türkei. Worum geht es bei diesem Besatzungsversuch?
Um das zu verstehen, ist es wichtig, sich die aktuelle Lage des türkischen Faschismus zu vergegenwärtigen. Seit 2015, als die Friedensgespräche mit der PKK abgebrochen wurden, befindet sich der türkische Staat in einer krassen Krise. Die Wirtschaft bricht ein, die Stabilisierung, die Erdogan versprochen hat, hat nie eingesetzt. Zugleich gibt es eine politische Legitimationskrise, was man etwa bei den Wahlen in Istanbul gesehen hat. Die Allmachtsvorstellungen des AKP-MHP-Regimes bröckeln. Und das kennt man ja aus der Geschichte des Kapitalismus und Faschismus: Dort, wo eine innere Krise nicht mehr lösbar erscheint, setzt man auf Krieg gegen die eigene Gesellschaft, aber eben auch Expansion. Erdogans neoosmanische Kolonisationspolitik soll auch innere Probleme überdecken.
Das ist das eine Moment. Aber es geht natürlich auch um einen gezielten Krieg gegen Kurd*innen, gegen eine organisierte und kämpfende Bevölkerung. Im Moment geht es dabei vor allem um die strategisch bedeutende Region Haftanin, von der aus die Türkei plant, weitere Regionen in Südkurdistan einzunehmen. Vor allem die Guerilla und die Bewegung in den Kandil-Bergen sind das Ziel dieser Operation. Sie sollen umstellt und isoliert werden.
Der Krieg ist dabei derzeit in einer heißen Phase: täglich gibt es Drohnenangriffe, täglich finden Truppenbewegungen statt und täglich findet auch eine ökologische Kriegführung statt, also ganze Wälder, wie etwa am Berg Cudi, werden in Brand gesetzt, um einerseits der Guerilla Bewegungsräume zu nehmen, zum anderen aber auch, um die Bevölkerung zu vertreiben, das Land unbewohnbar zu machen.
Aber wichtig ist auch etwas anderes zu betonen – weil man sich hier oft mit einem allzu realistischen Blick so etwas gar nicht vorstellen kann: Der Guerilla-Widerstand hält. Hier kann man sich oft gar nicht vorstellen, wie so kleine Einheiten von jeweils zwei, drei Leuten gegen Heere von tausenden Soldaten ankommen. Da sieht man einen Wandel weg von der klassischen Guerilla-Kriegführung etwa der 1990er. Wo es vorher große Einheiten, vielleicht in Bataillonsstärke gab, sehen wir heute eher viele Aktionen von sehr kleinen Einheiten, die aber insgesamt zu viel größeren Verlusten bei der türkischen Armee führen. Das schwächt auch die Moral der türkischen Armee. Viele Soldaten wollen da nicht hin, sie haben ein Haftanin-Syndrom, weil sie wissen, die Chance, nicht mehr rauszukommen, ist hoch.
Am Ende nochmal zurück nach Deutschland: Auf welche Bündnispartner*innen setzt ihr für den langen Marsch, wie wollt ihr andere Bewegungen einbinden?
Schon vor dem langen Marsch haben wir als kurdische Jugendbewegung ja die Kampagne „bi hev re serhildan“, gemeinsam zum Aufstand, ausgerufen – das war ja auch als eine Einladung an verschiedene Bewegungen gedacht, mit denen wir in den letzten Jahren zusammenarbeiteten, etwa Fridays For Future oder Migrantifa. Dabei geht es uns um die Schaffung einer gemeinsamen Front gegen die Angriffe des Faschismus weltweit. Im Rahmen dieser Kampagne haben viele gemeinsame Aktionen und Diskussionen über strategische Ziele angefangen.
Wir rufen alle diese Bewegungen dazu auf, auf dem Marsch ihre eigenen Farben zu zeigen, eigene Aktionen, Veranstaltungen einzubringen. Das ist auch jetzt schon geplant, so wird etwa das Programm in Lüneburg von feministischen Organisationen von vor Ort gestaltet werden; oder in Unterlüß eben mit „Rheinmetall entwaffnen“. Es gibt schon eine gute Grundlage und wir rufen die verschiedenen Bewegungen dazu auf, die Chance des Langen Marsches zu nutzen, um auch in der kurdischen Bevölkerung ihre eigenen Ideen stärker zu verbreiten. Denn was wir brauchen, ist ein gemeinsamer kollektiver Lernprozess.
#Titelbild: ANF
[LCM:] “… und das macht dem deutschen Staat Angst” – am 5.11. beginnt der “Lange Marsch” der kurdischen Bewegung in Deutschland - Die Linke in ihrer ganzen Vielfalt 2. September 2020 - 20:02
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