Vor einigen Wochen kam die Entwarnung. Mit dem Abflauen der Pandemie schien auch der Szene der Coronaleugner die Luft langsam auszugehen. Beobachter der politischen Landschaft äußerten sich jedenfalls öffentlich in diesem Sinne. Doch die Freude über das schnelle Ableben der Schwurbler-Szene war wohl etwas verfrüht. Spätestens seit dem letzten Augustwochenende und der von der Stuttgarter Initiative „Querdenken 711“ angemeldeten Demonstration in Berlin muss konstatiert werden, dass beide Phänomene offenbar langlebiger sind als erhofft: sowohl die Pandemie, als auch die zumindest teilweise von rechts orchestrierte Strömung der Coronaleugner.
Natürlich war das Verbot der Kundgebung gerechtfertigt. Von links ist zu Recht auf das Verbot der Gedenkdemo in Hanau ein halbes Jahr nach dem dortigen Anschlag verwiesen worden – welches erfolgt ist, obwohl die Anmelder ein Hygiene-Konzept vorgelegt hatten. Bei der Demo in Berlin war dagegen von vornherein völlig klar, dass sich die Teilnehmer weder an ein Abstandsgebot noch an eine Verpflichtung zum Tragen von Mund-Nasen-Schutz halten würden. Denn diese Kundgebung richtete sich ja genau gegen solche Maßnahmen und sollte in jeder Hinsicht, durch Taten und Worte, demonstrieren, wie unnütz und unnötig sie sind.
Um ein Beispiel zur Einordnung des Vorgangs aufzuführen: In Hamburg hat die Versammlungsbehörde es der Organisation Seebrücke in den vergangenen Monaten mit Verweis auf Corona teilweise fast unmöglich gemacht, sinnvoll zu demonstrieren. Natürlich mussten Masken getragen werden und Abstände eingehalten werden. Bei einer Demonstration auf dem Rathausmarkt wurde mit Klebeband oder Kreide auf dem Boden Punkte markiert, auf denen die Teilnehmer später standen. Derartige Aktionen muten grotesk an angesichts der Bilder der Coronaleugner vom 29. August, wie sie dicht an dicht, natürlich ohne Masken, durch Berlin laufen.
Über die Zusammensetzung der Schwurblerszene wird viel geschrieben. Dass Esoteriker darunter seien, aber auch Normalbürger, unübersehbar auch Reichsbürger und andere Rechte. Diskutiert wird vor allem darüber, wie groß der Einfluss tatsächlich ist, den AfD und Neonazis auf die Szene haben. Der oberste Schlapphut des Landes, Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang, stellte der Bewegung vor der Demo in Berlin einen Persilschein aus. Die Rechten hätten es nicht geschafft, „die Hoheit über das Demonstrationsgeschehen“ zu bekommen, behauptete er. Als ob, dass das entscheidende Kriterium wäre.
Schon komisch, dass Haldenwang in diesem Fall nicht die Lieblingsvokalbel des Geheimdienstes gebraucht hat: Entgrenzung. Aber die benutzt man wohl nur, wenn es sich um Linke dreht, wenn es zum Beispiel dem Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz darum geht, die Interventionistische Linke zu diffamieren. Mit dem Begriff „Entgrenzung“ bezeichnen die Hüter der Verfassung die „gezielte strategische und taktische Besetzung gesellschaftlich breit diskutierter oder akzeptierter Themen“. Dies diene dazu, „verfassungsfeindliche Positionen“ in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und Anhänger zu gewinnen.
Was bitte anderes tun die Rechten, wenn sie das Unbehagen vieler Menschen über die Pandemie und die zu ihrer Bekämpfung angeordneten Maßnahmen instrumentalisieren? Als die Demo in Berlin verboten wurden, stürzten sich vor allem AfD-Politiker auf das Thema, schlugen Alarm, riefen den Notstand aus. Medial unterstützt übrigens von der Bild-Zeitung, die das Verbot als „inakzeptablen Angriff auf eines unserer höchsten Grundrechte“ geißelte. Zu recht wurde in den „sozialen Netzwerken“ darauf hingewiesen, dass das Schmierblatt aus dem Hause Springer das Verbot der Demo in Hanau wenige Tage zuvor nur nüchtern vermeldet hatte.
Im Internet arbeiten diverse Blogs und Portale daran, die Coronaleugner in dem Gefühl zu bestärken, sie seien Widerstandskämpfer, die letzte Bastion im Kampf um Freiheit und Demokratie. Denen kam das Verbot der Kundgebung natürlich wie gerufen. Ganz vorn dabei sind die Nachdenkseiten, die gefährlich nach rechts abgerutscht sind, und das Portal Rubikon, das von dem Kulturwissenschaftler Jens Wernicke verantwortet wird, der interessanterweise mehrere Jahre für das Interviewformat der Nachdenkseiten zuständig war. Rubikon mobilisierte mit der Zeile „Auf nach Berlin!“ zu der „Querdenker“-Demo in der Hauptstadt. Der Ton der Beiträge wird immer schriller, ist von einer gefährlichen Endzeit-Rhetorik geprägt. So fragte Wernicke, wie lange es sein Portal wohl noch geben werde. Denn es werde „immer wahrscheinlicher, dass systemkritische Journalisten und Medien von den Kritisierten eines Tages einfach zum Schweigen gebracht werden können“. Es würden Vorbereitungen getroffen, „um Gehorsamsverweigerer zu verhaften und in Psychiatrien wegzusperren“. Die Meinungs- und Pressefreiheit sei bedroht.
In einem anderen Text heißt es: „Unbarmherzig arbeiten die Mächtigen und mit ihnen die Regierungen der meisten westlichen Länder an der Neuen Weltordnung. Schritt für Schritt halten sie den Plan zu ihrer Umsetzung ein. Durch Angst- und Panikmache versuchen sie uns die scheinbare Alternativlosigkeit auch unsinnigster Maßnahmen durch massive Propaganda schmackhaft zu machen.“ Wernicke schreibt allen Ernstes: „Überhaupt sieht alles danach aus, dass eines der Hauptziele der gesamten Kampagne die unfreiwillige Massenimpfung der Weltbevölkerung ist.“ Und: „In den nächsten Monaten soll es einen „Schwarzen Freitag“ geben, der denjenigen von 1929 noch in den Schatten stellen wird.“
Dass es immer noch Linke gibt, auch linke Journalisten, die in diesem Portal, in einem solchen Umfeld publizieren, ist schwer zu glauben, aber leider Fakt. Liebe Kollegen, nehmt Euch zehn Minuten Zeit, fünf reichen vermutlich auch schon, um Texte dieser Website quer zu lesen. Es verbietet sich eigentlich von selbst, sich für dieses Portal als Feigenblatt herzugeben.
# Titelbild: PM Cheung, Verschwörungsideologische Demonstration: „Versammlung für die Freiheit – Berlin invites europe” und antifaschistische Gegenproteste – 29.08.2020