Philippinen: Massenlinie und revolutionärer Kampf [Interview Teil II]

17. August 2020

Autor*in

Leila Aadil

Die kommunistische Bewegung der Philippinen findet in Deutschland wenig Beachtung, obwohl sie einen der ältesten und erfolgreichsten revolutionären Kämpfe der Gegenwart führt. Unsere Autorin Leila Aadil hat sich mit Crisanto von Anakbayan Germany getroffen, um mit ihm über die Bewegung zu sprechen. In einem dreiteiligen Interview schildert er die historischen Zusammenhänge, die zur Entstehung der Bewegung geführt haben, die Beschaffenheit der Bewegung und ihre strategischen Grundlagen sowie die gegenwärtige politische Situation. Teil 1 zur Geschichte der antikolonialen Kämpfe auf den Philippinen erschien hier.

Die kommunistische Bewegung auf den Philippinen gehört zu den ältesten, stärksten und stetig wachsenden revolutionären Bewegungen auf der Welt. Sie hat unter anderem eine faschistische Diktatur überstanden. Was macht die Stärke der Bewegung aus?

Ich glaube das wichtige ist, die Beschaffenheit der revolutionären Bewegung. Mit der Communist Party of the Philippines (CPP), der New People’s Army (NPA) und der National Democratic Front of the Philippines (NDFP ). Die ideologische Linie ist Marxismus-Leninismus-Maoismus (MLM), die universelle Weltsicht, der historische Materialismus. Nach dieser Weltsicht organisiert sich die Bewegung. Aber im Endeffekt ist natürlich die politische Linie der wichtigere Aspekt. Also die Anwendung der Theorie auf die spezifischen Begebenheiten der philippinischen Gesellschaft.

Diese spezifischen Begebenheiten werden als die semi-feudale und semi-koloniale Gesellschaftsstruktur beschrieben. Was genau bedeutet das?

Die Philippinen sind wirtschaftlich unterentwickelt, kulturell geprägt durch feudales und koloniales Gedankengut, es gibt wenig Selbstversorgung, es gibt wenig Nachhaltigkeit, es gibt wenig Respekt für Menschen und die Umwelt . Es ist normal, dass Leute auf den Philippinen wie Sklaven arbeiten müssen und nie was anderes kannten. Es gibt Leute die stehen jeden Tag um 5 Uhr morgens auf, arbeiten 10 Stunden und verdienen einen Centbetrag pro Tag. Egal wie hart sie arbeiten, sie werden da nie rauskommen. Es gibt da keinen Aufstieg, wenn du aus einer gewissen Gesellschaftsschicht kommst. Die Kleinbauern, Fischer und so weiter machen ungefähr 75 Prozent der philippinischen Gesellschaft aus. Es gibt keine entwickelte Volkswirtschaft.

Deswegen gehen so viele Leute ins Ausland um da zu arbeiten. 10 Prozent der Bevölkerung leben im Ausland und ca. 6000 Filipinos verlassen das Land jeden Tag. Im Ausland haben es die meisten Filpinos aber nicht gut. Viele arbeiten in Pflege und Haushalt. Dort werden sie krass ausgebeutet, es gibt viel Missbrauch, Pässe werden weggenommen. Da passieren viele schlimme Sachen und die Regierung unterstützt das sogar noch, weil die Arbeiter*innen im Ausland die größte Einnahmequelle für das Land sind. Viele sind 10-20 Jahre weg und von ihren Familien getrennt, sehen ihre Kinder nicht aufwachsen. Das Geld was von den Arbeiter*innen im Ausland zurück geschickt wird, macht ungefähr 10% des Bruttoinlandprodukt der Philippinen aus. Unter dem Marcos-Regime (1965- 1986 Anm. d. Red.) wurde angefangen, die Arbeitsemigration durch staatliche Behörden zu organisieren. Migrante, eine unabhängige legale Organisation, die Teil der Bewegung ist, gibt es überall dort, wo es philippinische Arbeiter*innen gibt. Die Organisation ist eine sehr wichtige Anlaufstelle, da sie z.B. Zugang zu Anwält*innen sicher stellen und Schulungen in Arbeitsrecht geben.

Die Philippinen sind sehr reich an Bodenschätzen, von Öl und Gas bis zu Gold und Kupfer, und sind unter den am stärksten ausgebeuteten Ländern der Erde was Ressourcen angeht. Multinationale Firmen haben Sonderrechte gegenüber philippinischen Firmen was den Zugriff und Abbau der Ressourcen des Landes betrifft. Vor Duterte ging es dabei besonders um von den USA ausgehende imperialistische Interessen. Seit Duterte gibt es auch Vorrang für chinesische Firmen. Das ist auch eine Kritik von uns philippinischen Maoisten an der Volksrepublik China, die weder revolutionär noch maoistisch ist, weil sie ganz klar eine imperialistische Agenda verfolgt. Sie unterstützt die faschistoide, reaktionäre Regierung von Duterte um sich philippinische Ressourcen zu eigen zu machen.

Interessant in dieser Hinsicht ist auch, dass die Philippinen ein Land ist, das exportabhängig und importorientiert ist. Das bedeutet, dass wir fast alles importieren müssen, weil alles was wir produzieren ins Ausland exportiert wird. Zum Beispiel in Mindanao, der südlichsten Insel, wird der größte Anteil der Fischexporte produziert. Das häufigste Importprodukt auf der Insel aber ist gefrorener Fisch. Die Leute, die auf Reisfeldern arbeiten und dort qualitativ hochwertigen Reis produzieren, können sich selbst den Reis nicht leisten und müssen importierten qualitativ schlechten Reis kaufen. Das macht einfach keinen Sinn. Ich hab bei einem Farmer gearbeitet der Süßkartoffeln angepflanzt hat, die ja sehr viele Nährstoffe erhalten. Das einzige was er sich zu essen leisten konnte, waren Instantnudeln und Cracker.

Wie sollen diese Verhältnisse überkommen werden?

Ein wichtiges Prinzip hierbei ist die „People’s Democratic Revolution“, die der erste Teil der zweiteiligen Revolution ist, die die Partei anstrebt. Das beutetet, das als erster Schritt des revolutionären Kampfes die semi-feudale und semi-koloniale Gesellschaftsstruktur des Landes zu überwinden ist. Das ermöglicht es uns dann eine sozialistische Revolution anzustreben. Also, erst wenn das geschafft ist, erst wenn Filipinos auf ihre eigenen Ressourcen zugreifen können und die eigenen Notwendigkeiten gedeckt sind. In der „People’s Democratic Revolution“ sollen die drei Hauptprobleme der Filipinos überwunden werden, und zwar sind das: Der Feudalismus, der Imperialismus und der bürokratische Kapitalismus, damit ist hauptsächlich die Korruption gemeint. Also Politiker*innen, die ihr Amt dazu benutzen sich wirtschaftliche Vorteile zu erhaschen und das Land und seine Menschen ausbeuten.

Wir sind immer noch im Kampf um nationale Demokratie. Wir brauchen nationale Industrien, damit die Dinge, die auf den Philippinen angebaut und produziert werden auch den Menschen des Landes zu Gute kommen. Deswegen ist auch die nationale Bourgeoisie, die in diesem semi-kolonialen Kontext relativ klein und unbedeutend ist, für uns Teil des revolutionären Kampfes in der ersten Stufe der Revolution. In der sozialistischen Phase, also dem zweiten Teil der angestrebten Revolution braucht es dann eine neue Aushandlung von Umverteilung und Produktionsweise. In dem 12 Punkte Programm der NDFP kann man nachlesen, was die Forderungen der Bewegung sind.

Das zwei Phasen Modell ist in anderen anti-kolonialen Kämpfen meistens an der zweiten Phase gescheitert und die nationale Bourgeoise hat die Kolonialmächte in der Ausbeutung der eignen Leute abgelöst. Was wäre im philippinischen Kontext anders?

Ich glaube der Unterschied ist, dass auf den Philippinen die CPP die Führung hat. Das ist eine proletarische und keine bürgerliche Führung. Auf den Philippinen spielt Basisdemokratie eine große Rolle und die politische Linie, ist die der Massen. Wir sagen nicht umsonst „From the masses to the masses“. Durch die Selbstorganisierung und Selbstbestimmung der Menschen kann Korruption verhindert werden weil es keine Expertenhierarchisierung gibt. Individuelle Bereicherung kann meiner Meinung nach dadurch verhindert werden, dass die Massen die Revolution machen, und so überwachen, dass die Revolution nicht die falsche Richtung einnimmt. Was kann denn die falsche Richtung sein, wenn du das Wohl der breitesten und unterdrücktesten Massen als deine politische Linie hast?

Was bedeutet das Konzept Massenlinie genau?

Die Massenlinie ist die generelle politische Linie des Marxismus-Leninismus-Maoismus. Das bedeutet, dass die Wünsche und Realitäten der unterdrücktesten Teile der Gesellschaft, die tonangebende Kraft in der Organisierung sind. Die Organisierung ist angepasst an deren Bedürfnisse. Die Bedürfnisse der Unterdrücktesten Teile der Gesellschaft sind unsere Leitlinie.

Wie drückt sich diese Strategie in den Strukturen der Bewegung umgesetzt aus?

Massenlinie, demokratischer Zentralismus diesen ganzen Sachen werden alle gleichermaßen angewendet, sie stammen von der ideologischen Linie des Marxismus-Leninismus-Maoismus. Dass die NDFP es schafft, die tiefsten und breitesten Massen der philippinischen Gesellschaft, von der nationalen Bourgeoisie bis hin zu den armen Bauern und Slumbewohner*innen, also den unterdrücktesten Teilen der Gesellschaft, miteinander zu vereinen, ist auch darauf zurückzuführen. Die NDFP wird in der revolutionären Bewegung als Einheitsfront bezeichnet, sie ist eine Allianz von allen revolutionären Massenorganisationen. Es gibt da religiöse Organisation, Frauenorganisationen, Jugendorganisationen, von Minderheiten, also verschiedenen indigenen Communities, von Muslim*innen, von LGBTQ+ aber auch von Anwält*innen, Lehrer*innen, Ärzt*innen, sogar IT Leute und so. Also es gibt ganz viele verschiedene Organisationen, die alle Bereiche der Gesellschaft durch diese Dachorganisation miteinander verbündet sind. Die NPA und die CPP sind ebenfalls Teil der NDFP.

Und dann gibt es natürlich die New Peoples Army. Die NPA ist der CPP unterstellt. Die Strategie der NPA ist der langwierige Volkskrieg. Es gibt auf den Philippinen 110 Guerilla Zonen („Red Zones“), die meisten auf dem Land. Die Beschaffenheit des Landes, mit den vielen Inseln, Wäldern und Bergen, in denen sich Guerillas zurückziehen können, eignet sich hierfür besonders gut. Der langwierige Volkskrieg wird durch den bewaffneten Kampf, die Agrarrevolution und die Basisbildung, die sich alle gegenseitig bedingen, umgesetzt. Du kannst z.B. die Agrarrevolution nur durch den bewaffneten Kampf herbeiführen. Agrarrevolution bedeutet unter anderem eine Landreform, in der die Großgrundbesitzer Stück für Stück enteignet werden.

Die „Red Zones“ funktionieren wie eigene kleine Gesellschaften. Deswegen ziehen es auch viele Leute vor, ihr geknechtetes, beschissenes Leben in der Hauptstadt Manila hinter sich zu lassen und sich dem revolutionären Kampf zu verpflichten, weil sie dort ein besseres Leben haben. Klar, man muss in stetiger Alarmbereitschaft sein, weil der Feind jederzeit angreifen kann. Trotzdem geht es ihnen dort besser als in Manila, wo viele schlimmster Armut ausgeliefert sind, Polizeigewalt und Missbrauch erleben und Korruption allgegenwärtig ist. Auch viele indigene Menschen wurden schon von irgendwelchen von der Regierung angeheuerten paramilitärischen Gruppen oder dem Militär ermordet, wenn sie sich zum Beispiel gegen große Rohstoffabbauprojekte zur Wehr gesetzt haben, weil diese ihren Lebensraum zerstören. Das ist auch ein Grund, warum die NPA stetig am wachsen ist.

Es gibt revolutionäre Gerichte bei der NPA, für den Fall, dass sich NPA-Kader nicht korrekt verhalten. Die roten Zonen sind also einfach komplette gesellschaftliche Einheiten mit eigenen Gerichten, eigenem Schutz und eigenen Regeln. Sie existieren autonom von den Strukturen des bürgerlichen Staates. Dabei wenden sie das Konzept von dualer Macht an, indem sie eigene Regierungen aufbauen, die so einflussreich sind, dass der bürgerliche Staat oft unfähig ist, in den Gegenden die unter NPA Einfluss stehen auf irgend eine Art und Weise zu handeln, ohne dass es von der NPA gewollt ist.

Der langwierige Volkskrieg der NPA hat verschiedene strategische Phasen und befindet sich momentan in der mittleren Unterstufe, in der die Basen noch aufgebaut werden. Wenn die NPA genügend Basen aufgebaut hat und es ein Gleichgewicht zwischen der reaktionären Armee und der NPA gibt, ist die nächste Stufe erreicht. Die letzte Stufe beinhaltet, die strategische Offensive, was bedeutet, dass die Städte vom Land aus eingekreist und eingenommen werden. Die NPA profiliert sich durch ihre hochgradige Organisierung. Die haben nicht viel Munition. Die haben nicht die finanzielle Unterstützung Chinas hinter sich, wie es die bürgerliche Armee hat. Die Gewehre sind entweder noch vom 2. Weltkrieg, selbst gebaut oder den reaktionären Soldaten und Polizisten abgenommen.

Wer sind denn die Kader der NPA?

Die NPA Kader setzten sich aus allen Segmenten der Bevölkerung zusammen, von petit-bourgeoisen Student*innen aus den Unis in Manila, hin zu Busfahrer*innen, Fischer*innen, Indigenen und LGBTQ+ Menschen. Alle Kämpfer*innen bekommen eine politische Ausbildung. Kämpfer*innen ohne politische Ausbildung sind Kriminelle. Bei der NPA spielt Bildung eine große Rolle, das ist seitens der reaktionären Regierung nicht so. Im Gegenteil, die haben ja ein Interesse daran, dass die Leute ungebildet bleiben. Bei der NPA ist es genau andersrum. Du kannst irgendwelche Farmer fragen, Leute die teilweise nicht in der Schule waren fragen, die können dir historischen Materialismus erklären, die können dir erklären was Imperialismus ist und zwar anhand konkreter Beispiele aus ihrer Lebensrealität.

Viele Aspekte des Lebens in den Zonen ist komplett durchorganisiert aber es gibt natürlich auch Freizeit, viele kulturelle Aktivitäten. Von Sport bis Theater ist fast alles dabei. In der NPA gibt es regelmäßig Hochzeiten mit richtigen Zeremonien. Gleichgeschlechtliche Ehen sind dabei was ganz normales. Die NPA waren auch die ersten die in der Geschichte der Philippinen die gleichgeschlechtliche Ehe durchgeführt haben. Bis heute wird das vom bürgerlichen Staat verboten, obwohl es so viele queere und homosexuelle Menschen gibt.

# Bildquelle: artista ng rebolusyong pangkultura, arpak @arpakph

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