Von Beirut bis Köln: Eine korrupte und unfähige politische Klasse

7. August 2020

Gegenüber der fürchterlichen Explosion von Beirut am 5. August 2020 wirkt der Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. März 2009 beim U-Bahnbau beinahe wie eine Lappalie. (Damals starben zwei Menschen – eine weitere Person nahm sich später das Leben.) Immerhin verschwand dabei das bedeutendste historische Archiv Europas nördlich der Alpen in einem fast fünfzig Meter tiefen mit Schlamm und Grundwasser gefüllten Krater.

Ein Zitat des NDR-Korrespondenten Carsten Kühntopp vom 05. August zu den verheerenden Explosionen in Beirut dürfte geschichtsbewussten Kölner*innen in den Ohren klingeln. Wenn wir es leicht anpassen, ist es durchaus auf das Rheinland anwendbar.

„Deshalb ist die Mega-Explosion das jüngste und fürchterlichste Beispiel dafür, wie die Eliten des Libanon das Land über Jahrzehnte herunter gewirtschaftet haben. Die Libanesen sind mit einer völlig korrupten und unfähigen politischen Klasse geschlagen. Anstatt auch nur eines der strukturellen Probleme des Landes anzugehen, waren diese Räuberbarone stets nur damit beschäftigt, ihr eigenes Nest zu polstern. […] Nach einer Untersuchung der Explosionskatastrophe dürfte man einige untergeordnete Beamte als Schuldige präsentieren. In Wirklichkeit ist es die politische Klasse selbst, die kollektiv für das Unglück verantwortlich ist.“

Leider finden deutsche Journalist*innen so klare Worte meist nur, wenn es sich um das Ausland handelt – und auch nur dann, wenn es nicht um nützliche Diktaturen geht wie Saudi-Arabien oder interessante Einflussgebiete wie die Ukraine, sondern um geostrategische Rivalen und ihre potentiellen Verbündeten, sozialistische Regime, Abtrünnige der neuen Weltordnung, korrupte „Bananenrepubliken“ oder Wackelkandidaten wie den Libanon, welcher demnächst vom Internationalen Währungsfond (IWF) einer Rosskur unterzogen wird.

Strukturelle Ursachen? Versandet, vergessen, übertüncht

Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln beim U-Bahnbau (Bauabschnitt: Bilfinger Berger) am 3. März 2009, Bild: Frank Domahs, Lizenz: GNU free

Der Kölner Krater ist elf Jahre nach dem Einsturz längst nicht verschwunden. Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung sind versandet, das zu Grunde liegende Strukturproblem vergessen und übertüncht: eine dysfunktionale Sub-Unternehmer-Kaskade, die nach allen Regeln der neoliberalen Wirtschaftsberatung das Gemeinwesen ausplündert und Projekte in Desaster führt. Ausgehend von gleich mehreren Generalunternehmern wie Bilfinger Berger (in deren Abschnitt der Einsturz passierte), breiteten sich durch Sparzwang, Kostendumping und Profitgier kaskadenformig Lohndumping, Schlamperei, Pfusch und Kriminalität in der „optimierten Wertschöpfungskette“ aus. Ohne behördliche Kontrollen konnte das kriminogene Sub-Unternehmermilieu prächtig gedeihen.

Wie in Beirut gab es auch in Köln mehr als deutliche Warnungen, die komplett ignoriert wurden: Bis zu vier Zentimenter große Risse im Fundament des Stadtarchivs, die Ende 2008 festgestellt worden waren, aber von unfähigen oder korrupten Gutachtern nicht auf ihre Ursachen untersucht wurden. Der Kirchturm von St. Johann Baptist, 300 Meter weiter an der U-Bahn-Strecke gelegen, war bereits im September 2004 abgesackt wie der schiefe Turm von Pisa und musste mit viel Aufwand stabilisiert werden.

Fast wirkt es wie ein Wunder, dass im Kölner Krater nicht mehr Leute starben. Die Bauarbeiter gingen gerade in die Mittagspause, einige von ihnen warnten noch die Archivmitarbeiter*innen, weil sie ein fürchterliches Knirschen und Knarzen im Untergrund hörten. Diese konnten das Gebäude gerade noch rechzeitig verlassen. Das nahe gelegene Friedrich-Wilhelm-Gymnasium blieb verschont. Im Strafprozess um den Einsturz des Kölner Stadtarchivs sprach das Landgericht im Oktober 2018 drei von vier Angeklagten frei. Lediglich ein Bauüberwacher der Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB) erhielt eine Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung.

Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Einsturzes des Kölner Stadtarchivs, 3. März 2019, Foto: Elke Wetzig, Lizenz: CC BY-SA 4.0

„Katastrophen“ und „Unfälle“, wie in Beirut oder Köln kündigen sich vorher an. Wie schlimm die Konsequenzen aussehen, hängt maßgeblich davon ab, ob die jeweilige Verwaltung willens und/oder fähig ist, den Schutz der Bevölkerung vor Kapitalinteressen zu stellen. In Köln ist das nicht passiert, in Beirut genausowenig. Beispiele wie diese lassen sich noch und nöcher finden: Die Betreibergesellschaft der 2018 eingestürzten Autobahnbrücke in Genua ignorierten über Jahre Warnungen über deren Einsturzgefahr, 43 Menschen kamen um‘s Leben. Die zu Grunde gesparte Infrastruktur in New Orleans etwa führte dazu, dass in Folge des Hurrikans Kathrina 2005 1836 Menschen starben, zehntausende ihr Wohnungen verloren. Und der profitable „Wiederaufbau“ führte zu einer weiteren sozialen Katastrophe. Die plattgemachten Viertel wurden zum Gentrifizierungshotspot. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich das bevor stehende Szenario für Beirut auszumalen. Die Hafengegen dürfte nach dem Vorbild von New Orleans neu gestaltet, privatisiert und verhökert werden.

Man könnte das eingangs genannte Zitat deswegen beliebig auf New Orleans, die eingestürzte Autobahnbrücke von Genua, wie eben auch auf Köln anwenden:

Deshalb ist der [Einsturz des historischen Archivs der Stadt Köln] das jüngste und fürchterlichste Beispiel dafür, wie die Eliten [Kölns die Stadt] über Jahrzehnte herunter gewirtschaftet haben. [Die Rheinländer] sind mit einer völlig korrupten und unfähigen politischen Klasse geschlagen. Anstatt auch nur eines der strukturellen Probleme der Stadt anzugehen, waren diese Räuberbarone stets nur damit beschäftigt, ihr eigenes Nest zu polstern. Nach einer Untersuchung der [Einsturzkatastrophe beim U-Bahn-Bau] dürfte man einige untergeordnete Beamte als Schuldige präsentieren. In Wirklichkeit ist es die politische Klasse selbst, die kollektiv für das Unglück verantwortlich ist.

# Titelbild: ANF english, Löscharbeiten nach der Explosion

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