Seit Wochen versucht die türkische Armee, begleitet von massiven Luftangriffen und Drohnenschlägen, in Bergregionen an der Grenze zwischen dem Irak und der Türkei einzudringen. Ihr Ziel: Die Schwächung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Besatzung der kurdischen Gebiete im Nordirak, die man sich in Ankara im Rahmen einer neoosmanischen Vision des Mittleren Ostens einverleiben will. Doch die Besatzungspläne scheitern an dem Widerstand der Volksverteigungskräfte HPG und der Fraueneinheiten YJA-Star und hat hohe Verluste zu beklagen. Unser Gastautor Baz Bahoz über die militärische Lage in der Region und die neue Strategie der kurdischen Guerilla.
Erfolgsmeldungen über die aktuellen Angriffe auf kurdische Gebiete rund um die Gebirgsregion Heftanîn muss man in türkischen Medien mit der Lupe suchen. Das faschistische Regime in Ankara kann nicht einmal die gewöhnlich der eigenen Anhänger*innenschaft aufgetischten Lügen fabrizieren, denn der Angriff läuft aus Sicht der Aggressoren miserabel.
Aber warum eigentlich? Wieso kann eine über modernste Waffentechniken und mittlerweile eine eigene Drohnenflotte verfügende Nation keinen kleinen Landstrich ohne Luftabwehr einnehmen? Die Antwort liegt zum Teil in der Anpassungsfähigkeit der Guerilla, die das Gebiet verteidigt.
Bereits seit Jahren spricht der Oberkommandierende der Guerillakräfte HPG Murat Karayilan, Kampfname Heval Cemal, sowie die gesamte Kommandantur der kurdischen Volksguerilla von der Entwicklung einer „neuen Guerilla“. Oft kam die Frage auf, was genau das denn bedeuten würde. Die Art des Krieges, ihn als Kleinkrieg bzw. als Guerilla-Krieg, zu führen ist im Prinzip seit Jahrhunderten bekannt und findet Anwendung in zahlreichen Befreiungsbewegungen. So stand oft die Frage im Raum, was Heval Cemal mit seiner Theorie der „neuen Guerilla“ genau meinte.
Seitdem in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni die türkische Armee die Operation „Tigerklaue“ startete, mit dem Ziel das Gebiet Heftanîn einzunehmen, können wir in der Praxis sehen, was genau damit gemeint ist. Der Angriff, der Teil des außenpolitischen Planes der türkischen Republik ist, sich auf die ehemaligen osmanischen Grenzen auszubreiten und Teil des innenpolitischen Kalküls des AKP-MHP Regimes ist, von den Krisen im Inneren des Nationalstaates abzulenken, ging nach hinten los. Schnell stellte der türkische Staat seine Propaganda-Maschinerie wieder ein, da es statt großen Geschichten der erfolgreichen Kolonialisierung nur von Toten in ihren Reihen und dem Widerstand der Guerilla zu berichten gab. Die Guerilla 2.0 hat begonnen ihre Bedeutung darzustellen.
Heftanîn ist ein Gebiet, das seit Jahrzehnten umkämpft ist und es wegen seiner strategischen Bedeutung wohl auch bleiben wird. Es ist ein Gebirge, dass das Grenzgebiet zwischen Nord-Ost-Syrien (Rojava), Nordkurdistan (Türkei) und Südkurdistan (Irak) markiert. Die Türkei, die seit Jahren an einer Invasion in Südkurdistan arbeitet, müsste zunächst Heftanîn, welches das Tor dorthin darstellt, besetzen, um sich dort bewegen zu können. Die beiden Berge Xantûr und Qesrok, die beiden höchsten Gipfel des Gebietes, stehen somit im Zentrum der Kampfhandlungen, es finden aber auch genauso intensive Angriffe auf die Gipfel Bektorya, Koordine, Şehîd Adar, Şehîd Bêrîwan, Dûpişk und Şeşdare statt.
Seit dem Beginn der Operation gelang es der türkischen Armee, auf einen Großteil dieser Berge immer wieder Soldaten abzusetzen, die sich jedoch auf fast keinem einzigen halten konnten. Vor dem Beginn der Invasion wurden an den Zugängen zur Region Heftanîn irakische Grenztruppen und mit der türkischen Armee kollaborierende KDP-Peschmerga stationiert.
Die irakische Regierung behauptet, diese Grenzwächter seien dort stationiert worden, um den türkischen Vormarsch zu stoppen. Es ist jedoch mehr als verdächtig, dass diese Truppen begannen, Straßen auszubauen, die eigenen Stellungen zu befestigen und die Wege nach Heftanîn zu kontrollieren, ohne etwas gegen die türkische Armee zu unternehmen. Vielmehr fanden gleichzeitig sehr intensive Gespräche mit dem türkischen Staat statt. Zum Beispiel kam der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu im Vorfeld des Angriffes auf Heftanîn nach Erbil und führte Gespräche mit der irakischen Regierung, der kurdischen KDP-Regionalregierung und turkmenischen Organisationen im Irak, um sich deren Unterstützung zuzusichern. Auch der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, kam zu geheimen Treffen mit der südkurdischen Regionalregierung nach Erbil, wo es zu letzten Absprachen vor den Angriffen auf zunächst Şengal, Qendîl und Mexmûr und dann auf Heftanîn kam.
Die ganze Weltöffentlichkeit kann aktuell sehr offen sehen, welche Interessen das türkische Regime mit seiner Kriegspolitik verfolgt. Die Türkei führt Krieg in Libyen, in dem sie zum „game-changer“ wurde, sie provoziert auf dem Mittelmeer insbesondere gegen Griechenland und Frankreich, sie greift in Syrien und im Irak an und mischt sich in den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ein – um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Erdogan hat mehrfach vor Landkarten posiert, auf denen griechische Inseln oder Gebiete anderer Staaten als Teile der Türkei eingezeichnet waren. Sowohl daran, als auch an der Praxis des Regimes – etwa an der seit Anfang 2018 anhaltenden Besatzung nordsyrischer Gebiete in Afrin – wird verständlich, welche Pläne der türkische Faschismus verfolgt. Erdogan selbst formulierte das Ziel, die Grenzen von vor dem Vertrag von Lausanne von 1923 wiederzuerlangen.
Der aktuelle Angriff auf Heftanîn ist dabei de facto ein Luftkrieg, denn es wird versucht, das Gebiet mit Luftschlägen unbegehbar zu machen und dann Soldaten aus der Luft abzusetzen. Zum Beispiel wurde der Xantûr-Gipfel zu Beginn der Operation in einer einzigen Nacht 50 Mal bombardiert, mit dem Ziel, dass nichts Lebendiges mehr auf dem Berg existieren würde.
Doch war bereits dies der erste Rückschlag den die zweite größte NATO-Armee wegstecken musste, da die Guerilla bei all diesen Angriffen keine Verluste zu erleiden hatte. Oder auch der Versuch, den Şehîd-Adar-Gipfel einzunehmen wurde viermal gestartet und scheiterte jedes Mal. Zunächst war der Gipfel mehrfach bombardiert worden, dann wurden Truppen abgesetzt, die jedoch immer bereits nach kurzer Zeit unter dem Schutz von „Cobra“-Kampfhubschraubern evakuiert werden mussten.
Tonnenweise Sprengstoff werden über der Region abgeworfen, zehntausende Soldaten, Dorfschützer und Milizionäre beteiligen sich an der versuchten Invasion, „Cobra“ Hubschrauber und Bodenartillerie befinden sich im Dauereinsatz. Es ist kein Angriff, der allein auf die Vernichtung der kurdischen Befreiungsbewegung abzielt, sondern die Ausplünderung der dortigen Natur und Vernichtung jeglichen Lebens in der Region, die sich der türkische Staat auf die Fahne geschrieben hat. Nahezu jeden Tag wird von Zivilist*innen berichtet, die durch die türkische Armee ermordet wurden. Parallel dazu wird von Seiten des türkischen Staates und den Kräften der südkurdischen Autonomieverwaltung noch ein psychologischer Spezialkrieg geführt. Dieser Spezialkrieg richtet sich vor allem gegen die dort lebende Bevölkerung. Sie soll eingeschüchtert werden, aus der Region fliehen und bestenfalls der Guerilla in den Rücken fallen.
Um jedoch wirklich verstehen zu können, was gerade in der Region Heftanîn geschieht, muss man den dortigen Widerstand genauer betrachten. Dieser war bereits vorbereitet gewesen und startete unter dem Motto „Cenga Heftanîn“.
Die Guerillaeinheiten befinden sich überall in der Region verstreut und greifen kontinuierlich in Kleinstgruppen, teilweise mit nur zwei Personen, die eindringenden Soldaten an. Die neu entwickelte Art des Guerillakampfes zeigt seine Wirkungskraft, da die Kleinstgruppen, die sich nur mit sehr leichtem Gepäck bewegen, einen Weg gefunden haben, die Technik der NATO-Armee zu überlisten. Bereits Ende Juli veröffentlichte die HPG-Kommandantur eine Zwischenbilanz der bisherigen Gefechte. Demzufolge seien zwischen dem 17. Juni und dem 17. Juli 236 türkische Soldaten getötet worden, 24 Kämpfer*innen der Guerilla waren gefallen. Begleitet wird die Verteidigung Heftanîns von einer Reihe von Guerilla-Aktionen sowohl auf nordkurdischem Gebiet, also auf dem Territorium der Türkei sowie durch Stadtguerillaaktionen der „Initiative der Kinder des Feuers“ in türkischen Metropolen.
Ohne die Technik steht die türkische Armee, die aus Soldaten bestehen, die für nichts in einem fremden Land kämpfen, in dem Wissen, dass sie der eigenen Regierung nichts bedeuten, einer Volksarmee gegenüber, die entschlossen Seite an Seite mit der dort lebenden Bevölkerung kämpft und jeden Schuss als Rache für all das spürt, was ihnen der Staat in seiner jahrtausenden alten Geschichte angetan hat.
Jeder einzelne Schlag der Guerilla ist einer gegen die Unterdrückung im Bewusstsein der Menschen. Dieser Krieg wird von hochprofessionalisierten Guerilla-Kämpfer*innen geführt, die ihr Paradigma einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft verteidigen. Erdogan sagt, er sei gekommen um zu bleiben und die Bevölkerung Heftanîns antwortete ihm durch ihre Aktionen und sagte: ihr seid gekommen und für euch gibt es kein Entkommen. Es ist nicht die Bevölkerung die flieht, sondern es sind die türkischen Soldaten.
Denn wenn die Soldaten sich von den Gipfel wegen den Angriffen der Guerilla zurückziehen müssen und versuchen in die Täler zu kommen, werden sie dort von Aufständen begrüßt, die sie wissen lassen wo sie sind. Sie sind in Heftanîn, dem Ort an dem die Guerilla mit der Bevölkerung verschmolzen ist. Wenn wir von Heftanîn reden, dann sprechen wir nicht über die Bevölkerung als Opfer zwischen zwei Fronten, sondern reden von einer Bevölkerung, die uns beeindruckt, da sie eine Gesellschaft ist, die sich politisches Bewusstsein geschaffen hat und mit aller Härte gegen die eigene Unterdrückung und Ausbeutung ansteht.
#Bildquelle: ANF
[LCM:] Kurdistan: Der Guerilla-Widerstand von Heftanîn - Die Linke in ihrer ganzen Vielfalt 4. August 2020 - 14:03
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Kurdistan: Der Guerilla-Widerstand von Heftanîn 5. August 2020 - 18:40
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