Wut in Südkurdistan: Streiks, Demonstrationen und ein türkischer Angriffskrieg

19. Juni 2020

Autor*in

Mani Cudi

Als Kurd*in aus Südkurdistan (Başûr, Nordirak) hat man die Tage wirklich reichlich Gründe, um verdammt wütend zu sein. Da ist zum einen die horrende Korruption, die in den letzten Wochen den Hashtag كوا_400_ملیاره‌كه (Wo sind die 400 Millionen?) trenden ließ. Worum geht’s? In einem letzten Versuch, die Kurdische Autonomieregion (KRG) über Wasser halten zu können, hat die Zentralregierung in Baghdad 400 Millionen irakische Dinar nach Südkurdistan überweisen lassen, wobei sich viele erhofften, dass diese verwendet werden, um die ausstehenden öffentlichen Gehälter in Millionenhöhe endlich zu zahlen. Diese hinken nämlich massiv hinterher. Wie lange schon nicht gezahlt wird, hat ein Mann veranschaulicht, der seine Rente vom Dezember letzten Monat abgeholt hat und aus Protest mit Schal und Anorak gekommen ist – da seine Rente ihm eigentlich im Winter über die Runden helfen sollte.

Die 400 Millionen wurden nach Angaben der Regionalregierung zum Großteil an öffentliche und private Kreditgeber gegeben, die ihre Rückzahlungen erwarten. Ähnlich der Klarna-Rechnung eines einkaufssüchtigen Teenagers scheint die Regierung in Südkurdistan nicht im Geringsten zu wissen, wie sie ihr Budget organisieren sollen. Die Wut ist groß: Wie kann man sich als Bürger*in irgendein Mitspracherecht in einer Kleptokratie erhoffen, in der nach eigenem Gusto irgendwelche Multimillionenverträge mit inländlischen und ausländischen Kreditgebern verhandelt werden? Wahre Ohnmacht ist, wenn man merkt, dass das Haushalten der eigenen Regierung mehr als schwach ist, während man selbst jeden Pfennig umdrehen muss.

Am gestrigen Donnerstag gab es schließlich auch Streiks der Verkehrspolizei, deren Angestellte ebenfalls seit Wochen ihre Löhne nicht bekommen haben. In der Kurdistan Region sind mehr als 60% der Bevölkerung im öffentlichen Sektor beschäftigt, was für einen Rentier-Staat wie dem Irak nicht unüblich ist. Was aber problematisch ist, ist wie gerade die türkische Privatwirtschaft kurdische Arbeitsplätze gezielt vernichtet und einen komplett deregulierten privaten Sektor im Bereich der Immobilien aufgebaut hat. Frei Schnauze werden gerade Geflüchtete Kurd*innen und Ezid*innen aus Rojava oder Shengal vor allem ausgebeutet, die als Tagelöhnern für diesen Sektor arbeiten. Regulierung und Rechtsschutz? Sicher keine.

Während der Corona-Pandemie, die gerade eine gigantische zweite Welle erfährt, werden die Gehälter im Gesundheitssektor momentan aus Geldknappheit zwecks Korruption ebenfalls nicht ausgezahlt. Pfleger*innen, medizinisches Hilfspersonal und Ärzt*innen protestieren in verschiedenen Städten in Südkurdistan seit Tagen. Besonders frech: Regierungsnahe Medien verbreiten eine tendenziöse Berichterstattung, in denen gefragt wird, wieso die Ärzte der 90er-Jahre dazu in der Lage waren in einer Krise zu arbeiten, während die „faulen“ Ärzte jetzt streiken, bis sie ihr Geld bekommen. Was sie nicht erwähnen: Das Embargo damals, das die Zahlungen ausfallen ließ, war das Embargo der USA zusammen mit dem Embargo Saddams gegen die kurdische Bevölkerung. Damals hatte man also die Gewissheit, dass es der Feind ist, der für die eigene Misere sorgt. Vollkommen desillusioniert sind jedoch die Ärzte, die jetzt sehen, wie der Gesundheitssektor kaputtgespart und privatisiert wurde und sie jetzt auch noch ohne Bezahlung tausende Kranke retten müssen. Ein falscher Patriotismus wird geschürt, ein*e gute*r Kurd*in arbeitet ja für Umme, während die Parteibosse der beiden Regierungsparteien, KDP und PUK, in gated communities sitzen und dort ihre Corona-Zeit abfristen. Diese sind übrigens reich genug, dass mehrere namhafte Parteifamilien sich eigene Ventilatoren leisten konnten und diese mindestens 25.000 Dollar teuren Geräte nach Hause haben liefern lassen. Eine eigene private Intensivstation also, während die öffentlichen Krankenhäuser sagenhaft überfordert sind.

Zu all dem kommt dann noch der türkische Angriffskrieg dazu. Seit Tagen bombardiert die Türkische Armee in ihrer neuen Offensive mit dem illustren Namen „Adlerklaue“ zivile Gebiete in Shengal, Bradost und Maxmur, wo seit den 1990er-Jahren aus Nordkurdistan/Türkei geflohene Kurd*innen ein selbstverwaltetes Gebiet aufbauten. Dieses steht übrigens seit Monaten unter einem strikten Embargo ebendieser ach so patriotischen Regierung der Kurdischen Autonomieregion. In Shengal, wo bekanntlich tausende Jesid*innen 2014 Opfer des Genozids des IS wurden und wo erst durch die Hilfe der PKK ein humanitärer Korridor nach Rojava erkämpft werden konnte. Dorthin sind erst vor kurzem seit nun sechs Jahren Geflüchtete zurückgekehrt, um endlich wieder daheim sein zu können und wieder aufzubauen, was aufzubauen ist. Die Rückkehr dieser Binnenflüchtenden ist in dieser Situation ungewiss. Vor zwei Wochen soll der Chef des türkischen Geheimdienstes, Hakan Fidan, in Baghdad gewesen sein und hat sich dort vom frischgebackenen Premierminister Mustafa al Kadhimi das grüne Licht für die Offensive geben lassen. Ebenso soll es grünes Licht aus Erbil (Hewlêr), also von der kurdischen KDP gegeben haben.

Diejenigen, die bei den Angriffen der USA und des Iran im Januar groß geschrieen haben, die territoriale Integrität des Irak werde zerstört, sind nun leise. Diejenigen, die zu Worldwar 3 große Twitterwitze gerissen haben, halten ihr Maul, was diese nun Tage andauernde Luft- und mittlerweile auch Bodenoffensive angeht.

Nun schließlich geht die Bevölkerung in Südkurdistan erneut zum Protest auf die Straße. Besonders fulminant endete der Protest in Slemani, wo mindestens 30 Menschen bei Angriffen der Polizei verletzt wurden. Ein Satz, den man von den wütenden Protestierenden häufig hörte war: „Ihr solltet euch schämen, wieso kämpft ihr nicht gegen die türkische Armee, wieso greift ihr uns an?“

Und so fühlt sich die Bevölkerung in Südkurdistan wieder einmal alleine gelassen. Gerade in der Öffentlichkeit im Westen ist man sich der Nuancen dieses Konflikts nicht bewusst. Liberalbürgerliche Gruppen, die meinen, sich für Jesid*innen einzusetzen, die schließlich erst durch die PKK zur Selbstverteidigung ermächtigt wurden, versuchen ein Narrativ zu schüren, in dem die PKK und der „kurdische Nationalismus“ Schuld sind, dass die Türkei angreift. Wieder einmal kann man nur sagen: Die PKK wurde 1978 gegründet, die ersten Pogrome und Genozide der Türkei gegen Kurd*innen und viele andere Minderheiten gab es bereits in den 1920er-Jahren. Wer jetzt versucht, die Opfer dieser Militärkampagne in „guter Kurde – schlechter Kurde“ aufzuteilen, lebt keine echte Solidarität, wird der Bandbreite der türkischen Angriffe nicht gerecht, forciert das türkische Narrativ, es ginge nur um die PKK und spaltet eine internationale Solidaritätsbewegung, die jahrelang mühsam aufgebaut wurde.

Gerade deshalb ist es von enormer Wichtigkeit auch in Europa Wissen aufzubauen, diesen Konflikt zu verstehen und Solidarität mit ganz Kurdistan zu zeigen, denn am Ende ist es ganz Kurdistan, welches von den Armeen der Türkei, Syriens, des Irak und des Iran angegriffen wird. Eine selektive Solidarität ist nicht möglich, wenn genozidiale Angriffe offensichtlich das Ganze einer Bevölkerung angreifen. Das sollte gerade jetzt deutlich sein, wo die Türkei parallel in Rojava besetzt, in Bashur bombt und in Bakur den langen Demokratiemarsch der HDP niederknüppelt.

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