Doppelte Katastrophe in Westbengal

24. Mai 2020

Am 20. Mai traf der Superzyklon “Amphan” in Westbengalen und im nördlichen Teil von Odisha, zwei östliche Küstenstaaten Indiens, auf das Festland und hinterließ in diesen Bundesstaaten Verwüstungen und Tote: Keine Elektrizität in den meisten Gebieten, kein Internet, Überschwemmungen von Straßen und Wohnungen, umgefallene Bäum und Objekte auf der Straße und zerstörte Häuser, vor allem in Küstennähe. Nach den bisherigen Angaben der Regierung sind in Bengalen mindestens 72 Menschen umgekommen Seit dem 16. Mai gab es zuverlässige Vorhersagen der nationalen und staatlichen Katastrophenschutzeinheiten über den Zyklon. So wurden Tausende von Menschen, die direkt in Küstennähe leben, in bereits überfüllte Unterkünfte evakuiert, in denen sich COVID-19-Infizierte aufhalten. Es wurde für eine Stromversorgung gesorgt, Medikamente und eine Wochenration an gekochten Lebensmitteln bereitgestellt. Das prekäre Leben von Millionen von Bürger*innen ist erneut der doppelten Gefahr der COVID-19-Pandemie und den Verwüstungen, die der Zyklon hinterlassen hat, ausgesetzt.

Tapas Guha ist Mitglied des lokalen Kommittees für „Silikose Arkanto Sangrami Shromik Committe“ (SASSC). Er lebt derzeit in Kolkata, Westbengalen. Susheela Mahendran sprach mit ihm über die Situation von Wanderarbeiter*innen während einer mehrfachen Krise inmitten der COVID-19-Pandemie und nach dem Superzyklon „Amphan” in Westbengalen.

Hallo Tapas, danke, dass Du dir inmitten der Krise Zeit nimmst. Wie ist die Situation der Wanderarbeiter*innen in Westbengalen?

Westbengalen ist ein Bundesstaat Indiens, der traditionell stark in der Landwirtschaft ist, insbesondere in der Produktion von Reis, Linsen, Kartoffeln, anderem Gemüse und Fisch. Aufgrund der großen Bevölkerungszahl und des niedrigen Preises, den die Produzierenden erhalten, ist der Verdienst für sie jedoch unzureichend. Daher begann vor einigen Jahrzehnten eine massive Abwanderung von Menschen. Die Menschen reisten als unorganisierte Vertragsarbeiter*innen in andere Staaten und auch innerhalb des Staates auf der Suche nach einer besseren Lebensgrundlage. Für die Menschen aus dem südöstlichen Zipfel des Staates (Distrikte: Nord und Süs 24 Parganas) gab es aufgrund häufiger Zyklone und Naturkatastrophen zusätzliche Schwierigkeiten. Der jüngste Zyklon „Amphan“ ist eine solche Katastrophe. Die letzte denkwürdige Katastrophe war der Zyklon „Aila“, der vor genau elf Jahren kam und in diesen Regionen zahlreiche Dörfer zerstörte. All diese Faktoren zwangen die Menschen dazu, in den westlichen Teil des Staates zu ziehen, wo die weitgehend “illegalen” Steinminien und Steinbruch-Industrien (die nun seit fast 6 Jahrzehnten betrieben werden) bessere Löhne boten. Und dies brachte die tödliche Berufskrankheit namens „Silikose“.

Du meintest, dass Menschen, die an Silikose erkrankt sind, besonders zur Risikogruppe COVID-19 gehören. Wie wirkt sich „Silikose“ auf den Menschen aus?

Silikose ist eine Berufskrankheit, die die Lunge einer Person bei der Arbeit in einer Siliciumdioxid (Silica)-dichten Umgebung beeinträchtigt. Der feine Staub des Siliciumdioxids gelangt in die Lunge, verursacht massive Narben und führt schliesslich zum Tod, da die Person nicht mehr atmen kann. Silikose ist ein globales Problem und es ist inzwischen bekannt, dass sie unheilbar, aber vollkommen vermeidbar ist, wenn die Industriebesitzer*innen die Präventivprotokolle befolgen und die Arbeiter*innen Schutzkleidung erhalten würden. Offensichtlich ist nichts davon hier geschehen und wir wissen von fast 600-700 betroffenen Familien in diesen beiden Bezirken, die im Zeitraum 2006-2008 in Gruppen zur Arbeit gingen. Infolgedessen begannen alle von ihnen Atembeschwerden und andere Probleme zu bekommen. Bis heute sind uns mehr als 50 Silikose-Sterbefälle bekannt, wobei das Durchschnittsalter der Verstorbenen nur 25 Jahre beträgt. Natürlich laufen die Industrien auch heute noch ungebremst weiter und bereiten weitere Leichen für die nahe Zukunft vor.

Wie wurde „Silicosis Arkanto Sangrami Shromik Committee“ (SASSC) gegründet und was hat SASSC in den letzten Jahren getan?

Wir haben seit 2012 begonnen für diese Menschen zu arbeiten und wurden eng mit ihrem Leben und ihrem Elend verbunden. SASSC wurde 2018 gegründet. Dabei handelt es sich um eine Organisation der Dorfbewohner*innen, bei der wir nur als ihre externen Ressourcenpersonen fungieren. Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass SASSC keine NGO ist und nicht nur an das Sammeln und Verteilen von Hilfsgütern glaubt. Die SASSC-Mitglieder sind der Meinung, dass sie Teil der Arbeiter*innenbewegung sind und ihre Aufgabe ganz und gar politischer Natur ist, nämlich den Staat dazu zu drängen, diesen Prozess der menschlichen Knechtschaft zu stoppen und auch den Staat dazu zu zwingen, die Verantwortung für all die Menschen zu übernehmen, die bereits betroffen sind. Mit solchen Forderungen organisierte SASSC am 25. Oktober 2018 einen Protestmarsch mit rund 2000 Menschen. Danach gab es zahlreiche Delegationen an lokale Institutionen und Bezirksrichter. Es gab auch schriftliche Petitionen beim Hohen Gericht von Kolkata, die zu Anordnungen zugunsten der Dorfbewohner*innen führten, denen die Verwaltung nachzukommen hatte. Natürlich ist es etwas ganz anderes, einen Gerichtsbeschluss zu haben und ihn umzusetzen. Und wenn die Bevölkerung nicht ständig Druck ausübt, bleiben die Anordnungen in den meisten Fällen wirkungslos. SASSC konnte jedoch mit gewissem Erfolg die Sache vorantreiben, da die Dorfkomitees an der fordersten Front kämpften. SASSC hat sich kürzlich auch an mehrere Gewerkschaften des Landes gewandt und das “Koordinationskomitee für Silikose und andere Berufskrankheiten” gegründet.

Was wird jetzt gebraucht und wie kann jede*r dazu beitragen?

Die Katastrophe, deren Zeug*innen wir jetzt sind, entzieht sich jeder Kontrolle. Erstens hat die Corona-Pandemie, gefolgt von mehr als zwei Monaten Ausgangssperre und Arbeitsausfall, die Leute absolut mittellos gemacht, da sie nicht einmal genügend Lebensmittel hatten und zweitens hat der Zyklon „Amphan“ die kleinen Lehmhütten, die sie ihr Zuhause nannten, weggenommen. Wir waren also der Meinung, dass es ein so langer und hoffnungsloser Prozess sein könnte, den Regierungsapparat dazu zu drängen, die Grundbedürfnisse all dieser Menschen zu befriedigen und dass viele sterben werden, noch bevor die Regierung dazu gebracht wird, etwas für sie zu tun.

Deshalb haben wir einen Aufruf gestartet und aus allen möglichen Ecken lebenswichtige Güter und Gelder gesammelt. Mit den gesammelten Geldern werden die Dorfkomitees – der ca. 20 Dörfer im südlichen Teil Westbengals und ein Slum namens „Sholo Bigha Basti“, das im Stadtgebiet Maheshtala in Kolkata liegt und wo ca. 700 Familien leben – , Dinge kaufen, die sie für äußerst wichtig halten, wie zum Beispiel Lebensmittel, Masken, Hygieneartikel etc. Natürlich werden wir in der Lage sein, den Spender*innen alle Einzelheiten der Ausgaben mitzuteilen. Wir möchten jedoch nochmals betonen, dass SASSC keine NGO ist und sich nicht dafür einsetzt, organisierte Gelder von verschiedenen Organisationen zu erhalten. SASSC wird sich zum jetzigen Zeitpunkt nur über die Hilfe der Freund*innen und Genoss*innen freuen, die sich für diese Wanderarbeiter*innen einsetzen möchten.

Vielen Dank Tapas für dieses Gespräch.

Für weitere Informationen wie gespendet werden kann, wendet Euch bitte über das Lower Class Magazine an Susheela Mahendran.

# Übersetzung: Anna Frisch

# Titelbild: SASSC, Sholo Bigha Basti, Slum in Maheshtala, Kolkota

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