Corona heißt das Thema. Was denn sonst?! Man kriegt es ja nicht aus dem Kopf. Alle reden darüber, das Internet ist voll davon, TV und Presse sowieso. Die Krise schlägt auf alle Lebensbereiche durch, ist überall spürbar, keine und keiner kann ihr entgehen. Es ist verblüffend, wie schnell man sich an Situationen und Bilder gewöhnt, die einem gestern noch völlig grotesk erschienen wären. Dass im Bus zwischen den ersten beiden Bänken ein Kreuz aus Flatterband hängt, um den Fahrer zu schützen und man ungestraft schwarz fahren kann. Dass sich im Discounter in diesem reichen Industrieland Lücken in den Regalen auftun. Dass Leute, die sich auf dem Markt unterhalten, eineinhalb Meter voneinander entfernt stehen.
Irgendwie fühlt sich der Alltag surreal an. Die Ereignisse überstürzen sich, man kommt nicht mehr hinterher. Die Stimmung auf den Straßen changiert zwischen autofreiem Sonntag, WM-Endspiel und Apokalypse. Sie erinnert an eine Atmosphäre, wie sie Katastrophenfilme der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts vermitteln, zum Beispiel „Der Tag, an dem die Erde Feuer fing“. Auch als Linke*r kann man sich diesem Sog nicht entziehen. Die Position des analysierenden Beobachters am Rand der Gesellschaft, lässt sich schwer aufrechterhalten.
Dabei ist gerade jetzt kritische Distanz gefragt, in einer Zeit, in der sich hehre Appelle zum gesellschaftlichen Zusammenhalt häufen, in der überall von Solidarität geredet wird. Es ist Misstrauen angebracht, wenn den Leuten auf allen Kanälen erklärt wird, dass sie jetzt zusammenstehen müssten. Hashtags lauten #miteinanderstarksein. „Helden des Alltags“ werden bejubelt. Menschen klatschen auf Balkonen, um sich bei den Helfer*innen in der Krise zu bedanken. Die bürgerlichen Leitmedien singen das hohe Lied auf die Demokratie, die sich in der Pandemie erst wahrhaft bewähre.
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sind Nachbarschaftshilfe und Gemeinsinn das Gebot der Stunde. Aber das ist etwas, was in dieser Gesellschaft regelhaft von unten erzeugt und organisiert werden muss, aus privatem Antrieb. Wir sollten nicht vergessen, dass die politische Rede von der Gemeinschaft, das Erzeugen eines großen Wir-Gefühls, was in dieser Krise offensichtlich angesagt ist, dass das in diesem System noch immer dazu genutzt wurde, soziale Gegensätze und politische Defizite zuzudecken. Vor allem aber sollte klar benannt werden, dass Solidarität das Gegenteil von dem ist, was die innerste Triebkraft des Kapitalismus ist.
Wie verlogen ist es etwa, wenn sich Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier hinstellt und von Gemeinschaft fabuliert. „Die Corona-Krise fordert uns heraus“, barmte er in einem Interview. Und weiter: „Wir haben es in der Hand, ob die Solidarität nach innen und außen die Oberhand gewinnt – oder der Egoismus des Jeder für sich.“ Das sagt der Mann, der zu den Architekten der Agenda 2010 gehörte, die eine Aufkündigung der Solidarität mit den Abgehängten bedeutete, wie sie deutlicher nicht ausfallen konnte und Hunderttausende in noch schlimmere Armut gestürzt hat.
Dasselbe Wortgeklingel kam von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die zum ersten Mal überhaupt jenseits ihrer Neujahrsansprachen zum Volk sprach. Ihre wenig konkrete Rede triefte nur so von Pathos. „Jeder wird gebraucht“, hieß es da, „Niemand ist verzichtbar“, „Es kommt auf jeden an“ und so weiter. Von Gemeinschaft sprach sie, von Rücksicht, von „gemeinsamen solidarischen Handeln“. Es war so eine Art Billigversion der berühmten „Blood, sweat and tears“-Rede von Winston Churchill, die der britische Premier 1940 hielt, also im Zweiten Weltkrieg.
Aus dem Mund von Politiker*innen wie Steinmeier und Merkel sind solche Statements verlogen und heuchlerisch, denn diese Leute verkörpern ein System, das auf Profitgier, Egoismus und Rücksichtlosigkeit aufgebaut ist. Sie vertreten eine Politik, die eine dauerhafte und tiefgehende Spaltung der Gesellschaft forciert hat und auch weiterhin forcieren wird. Die wichtigsten Grundregeln des Kapitalismus heißen: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und „Jeder ist sich selbst der Nächste.“ Was derzeit an Nachbarschaftshilfe auch von Links organisiert wird, ist begrüßens- und lobenswert. Aber es geschieht sozusagen gegen den Trend, eben nicht im Einklang mit den kapitalistischen Imperativen, sondern prinzipiell im Widerspruch zu ihnen.
Das Gerede der Politiker*innen vom Zusammenhalt ist auch deshalb hohl, weil vermutlich auch in dieser Krise wieder die unter die Räder kommen, die ohnehin schon arm dran sind. In den Großstädten schränken zum Beispiel immer mehr Einrichtungen der Obdachlosen- und Drogenhilfe ihre Angebote ein oder schließen gleich ihre Tore. Wer kümmert sich denn dann um Obdachlose und Suchtkranke, die wegen ihres schlechten Gesundheitszustands und ihrer Lebenssituation zu den Hochrisikogruppen gehören. Und wer denkt zum Beispiel darüber nach, dass viele, die sich bisher mit Betteln in S- und U-Bahnen über Wasser gehalten haben, in den leeren Bahnen keinen Schnitt mehr machen. Oder über die Flaschensammler, die kein Pfandgut mehr finden, weil das Nachtleben zum Erliegen kommt.
Stattdessen sind die Medien voll mit Ratschlägen von Verbraucherschützer*innen und Rechtsexpert*innen für materiell abgesicherte Mittelschichtler*innen. Ob man die Urlaubsreise storniert bekommt, wird da debattiert, oder ob die Konzertkarte erstattet wird. Das sind verdammte Luxussorgen! An dieser Stelle zeigt sich wieder in aller Deutlichkeit die Spaltung dieser Gesellschaft: Für die einen geht es um die Existenz, für die anderen darum, wie sie im „Homeoffice“ klar kommen oder was man am Wochenende unternehmen soll, jetzt wo Clubs, Diskotheken und Bars geschlossen haben.
Der Kapitalismus zeige jetzt seine Leistungsfähigkeit in der Bewältigung von Krisen, ist zu hören, und er zeige auch sein „menschliches Antlitz“. Aber der Kapitalismus hat kein menschliches Antlitz – das Solidaritätsgelaber ist nur Schiebekulisse für solche Fälle wie die Corona-Pandemie. Und darum sollten auch die Warnungen von Leuten wie Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, gehört werden.
Wie einige andere auch hat Jelpke zu recht darauf verwiesen, in der jungen Welt vom 19. März, mit welch beängstigender Geschwindigkeit derzeit Bürgerrechte eingeschränkt werden. „Wir erleben Grundrechtseinschränkungen in einem Ausmaß wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“, schreibt sie. Mit Verboten und Geboten greife der Staat massiv in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger ein, selbst privateste Bereiche – Besuche bei Angehörigen in Pflegeheimen, Hochzeiten und Beerdigungen – seien betroffen. Jelpke zweifelt nicht grundsätzlich an, dass die angeordneten Maßnahmen aus gesundheitspolitischer Sicht notwendig seien. Nur dürfe eine freie Gesellschaft ihr Schicksal „weder in die Hände vermeintlich neutraler Experten legen noch blindes Vertrauen in die Regierung haben“.
Dass all diese Entwicklungen nicht geplant waren, bedeute nicht, so die Linke-Politikerin weiter, „dass die Herrschenden nicht sehr wohl ihre Lehren daraus ziehen“. Im Kampf gegen das Virus seien militärische Vokabeln üblich geworden, faktisch herrsche der „Verteidigungsfall“. Die Herrschenden sähen, „dass eine schwere Verunsicherung der Bevölkerung einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens für diktatorische Maßnahmen schafft“. Wir erinnern uns, dass es vor drei Jahren in Hamburg ein Treffen gab, bei dem die Behörden bereits einen nicht erklärten Ausnahmezustand durchexerziert haben. G 20 kam manchem im Herrschaftsapparat sicher wie gerufen, SARS-CoV-2 vielleicht ja auch.
#Titelbild: Computer-Simulation des Corona-Virus, Felipe Esquivel Reed, wikimedia commons, CC-BY-SA 4.0
Corona & Krise: Verlogenes Gerede von Solidarität | Maulwuerfe 19. Mai 2020 - 11:25
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