Corona: Solidarität ist auch eine Medizin

12. März 2020

von Holger/Pucki

Flugzeuge fliegen leer hin und her, um ihre Landegenehmigungs-Slots an Flughäfen nicht zu verlieren. Kapitalisten kaufen Atemschutzmasken auf und verkaufen sie dann zu Wucherpreisen. Profitable Großveranstaltungen finden gegen den Rat von Fachleuten statt. In ihrer Liquidität bedrohte Unternehmen erhalten schnell und unbürokratisch staatliche Hilfe, statt den Markt regeln zu lassen.

Jede Krise lässt immer Aspekte des Kapitalismus besonders scharf und deutlich hervor treten. Die Pandemie des Coronavirus ist da keine Ausnahme.

Das Robert-Koch-Institut geht davon aus, dass bis zu 70 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölkerung mit dem Virus infiziert werden. Über welchen Zeitraum das geschieht, ist unklar. Bei einer Sterberate von 0,7 Prozent der Infizierten (was angesichts der derzeitigen Rate in Italien eine vorsichtige Zahl ist), würden über 400.000 Menschen alleine in Deutschland an diesem Virus sterben. Wer Panik verbreiten will, multipliziert diese Zahl mit 3 oder 4.

Vor dem Virus sind nicht alle gleich, Corona kennt die edlen Ziele der Französischen Revolution nicht. Es sterben die Menschen aus den Risikogruppen: Alte, Menschen mit (bspw. Immunsystem-/ Lungen-)Vorerkrankungen, Menschen mit schlechtem Zugang zum Gesundheitssystem. Und Menschen, die sich durch fehlende Medienkompetenz oder Bildungszugang ungenügend schützen können. Menschen, denen das Geld fehlt, ihr Immunsystem mittels hochwertiger Lebensmittel oder Präparate zu unterstützen. Menschen, die so einsam sind, dass von ihrer Erkrankung niemand etwas erfährt.

Die Frage von Leben und Tod war und ist eben auch immer eine Klassenfrage.

Es bedarf keiner bösartigen Fantasie, sich auszumalen, dass schon jetzt neoliberale Ökonomen eifrig Excel-Tabellen bearbeiten, mit denen sie ausrechnen, wie die Toten der Pandemie die Rentenkassen, die Sozialkassen entlasten werden und wann sich die kurzzeitigen Mehrausgaben z.B. im Gesundheitswesen durch die langfristigen Ersparnis an Renten und Hartz IV-Bezügen amortisieren. Es ist billig, diese Ökonomen als charakterlich völlig verdorbene Individuen hinzustellen. Sie handeln nur konsequent nach der Logik ihres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.

Für alle, die über das Nachplappern linksradikaler Parolen hinaus sind, ist das keine neue Erkenntnis. Bleibt diese Erkenntnis in der eigenen Blase, verbindet sie sich nicht mit dem kritischen Blick auf gesellschaftliche Abläufe, zu dem ganz „normale“ (d.h. nicht linksradikal geprägte) Menschen durch die Corona-Pandemie kommen, ist sie völlig nutzlos.

Bleibt es bei einer rein agitatorischen Ebene, ist der Nutzen minimal.

Bitte nicht falsch verstehen: Ich bin kein Anhänger der Marketingistischen Linken, die jetzt ein „breites Bündnis“ (mit Robert-Koch-Institut und Marburger Bund) unter dem Label „Block-Covid“ oder „Ende_Epidemie“ schaffen soll. Mitsamt Aktionskonsens („wir werden gemeinsam mit vielen Menschen durch Aktionen des ungehorsamen Händewaschens den Ablauf der Pandemie zum Stoppen bringen“) und Aktionstraining („wir werden gewaltfrei die Infektionsketten durchfließen“).

Es geht auch nicht um Presseerklärungen, das Vortäuschen gesellschaftlicher Relevanz durch mediale Präsenz.

Es geht um:

  • Die Verbindung einer antikapitalistischen Analyse und Kritik mit der Grundessenz linker Weltanschauung: dem Prinzip der Solidarität.
  • „Risikogruppen“ benötigen Hilfe z.B. beim Einkauf.
  • Berufstätige Eltern (besonders die im Gesundheitssystem tätigen) brauchen angesichts zukünftig geschlossener Schulen und KiTas Hilfe bei der Kinderbetreuung.
  • Arme Menschen brauchen angesichts von Hamsterkäufen und leerer Tafeln Hilfe bei der Versorgung mit Lebensmitteln.
  • Menschen ohne oder mit wenig deutschen Sprachkenntnissen benötigen Informationen.
  • Einsame Menschen benötigen solidarische Mitmenschen, die nach ihnen sehen.
  • Und vielleicht braucht es im April oder Mai Menschen mit medizinischem Fachwissen, die in Krankenhäusern das angestellte, überlastete Personal unterstützen und eine Bewegung, die nicht zulässt, dass diese Form der Care-Arbeit eine quasi-berufliche Doppelbelastung darstellt, für die „Ehrenämtler“ mit einer wertlosen Urkunde abgespeist werden.

Diese Liste ist nicht vollständig!

Natürlich haben wir genügend Menschen, die darauf hinweisen könnten, dass es angesichts der Pandemie für die Menschen am klügsten wäre, den Laden einfach mal ein paar Wochen dicht zu machen. Würde denn das Wohl der Menschen im Mittelpunkt stehen – was es natürlich nicht tut. Sechs Wochen Corona-Sonderurlaub für (fast) alle – ein Horrorszenario für jeden BWL-Studi.

Verbinden wir diesen Horror mit einem Schreck&Graus für die deutsche linksradikale Szene: Die oben genannten praktischen Schritte der solidarischen Antwort funktionieren nur, wenn sie eben nicht die WG, das alternative Hausprojekt, den Szene-Laden und das Autonome Zentrum betreffen!

Es geht um die Nachbarschaft! Und wer nicht gerade das Pech hat, im Schanzenviertel oder ähnlichen Szene-Kiezen zu wohnen, verlässt dann automatisch die linksradikale Blase. Trifft auf Malocher*innen, Rentner*innen und Hartz-Empfänger*innen, echte Migrant*innen (die sind nicht so wie im Fernsehen!), Leute ohne, kleinem oder etwas größerem Vermögen, Menschen mit ganz unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen und Vorurteilen und Marotten.

Vorsicht, Spoiler: es finden sich darunter Menschen, die die Regeln und Sprache der political correctness nicht kennen – und, man mag es kaum glauben, wir treffen auf Menschen, die nicht (!) studiert haben, eventuell nicht einmal Abitur haben (tatsächlich in Deutschland noch knapp über 60% der Bevölkerung).

Ich schließe nicht aus, dass es zu folgender Szene kommt: „Pfui, die 60jährige Kurdin aus dem Eckhaus hat Erdogan einen Hurensohn genannt, das ist sexistisch und gar nicht pc – der bringe ich jetzt keine Einkäufe mehr“.

Hoffentlich aber überwiegt das Prinzip der Solidarität in der Krise. Dann erwächst daraus die Einsicht, wie sehr die eigene linksradikale Blase ein Knast ist, in den man sich selbst sperrt, isoliert vom Leben, während noch über die Folter der Isolationshaft staatlicher Knäste schwadroniert wird.

Die Erkenntnis, dass ohne solidarisches Handeln mit den Nachbar*nnen das derzeitige politische Bewusstsein bei allen Beteiligten bleibt, wie es ist.
Die Erkenntnis, dass ohne solidarisches Handeln mit den Nachbar*innen die politische Antwort auf Corona von der Rechten kommen wird. In Form des starken Staates, geschlossener Grenzen, weiterer sozialer Umverteilung.
Die Erkenntnis, dass ohne solidarisches Handeln mit den Nachbar*innen die bierselige Diskussion abends im AZ über Revolution nichts weiter als perspektivlose Faselei darstellt.
Die Erkenntnis, dass solidarisches Handeln mit den Nachbar*nnen jetzt eine Perspektive für die notwendigen sozialen Kämpfe darstellt, die nach dem Peak der Pandemie weltweit erfolgen werden und bei denen es um die Verteilung der ökonomischen Kosten der Corona-Krise gehen wird.

#Titelbild: Computer-Simulation des Corona-Virus, Felipe Esquivel Reed, wikimedia commons, CC-BY-SA 4.0

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