Bericht eines Pflegers über den Arbeitsalltag im Vivantes-Klinikum im Friedrichshain

10. Februar 2020

Autor*in

Gastbeitrag

Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus der neu erschienenen Nachbarschaftszeitung „Kiezecho“ der Kiezkommune Friedrichshain.

Hallo, mein Name ist Raul, ich bin 36 Jahre alt und Gesundheits- & Krankenpfleger für Intensivmedizin in Berlin. Ich habe acht Jahre lang im Vivantes-Klinikum im Friedrichshain auf einer großen Intensivstation (ITS) gearbeitet.

Berufsausbildung und erste Eindrücke auf der Intensivstation

Krankenpfleger bin ich nur zufällig geworden, denn einen expliziten Berufswunsch hatte ich nie. Nach dem mühsamen Abschluss der Fachhochschulreife für Sozialwesen stand ich recht ahnungslos da. Ein Glück konnte ich daraufhin den Zivildienst in einer Hauskrankenpflege in Kreuzberg leisten. Der plötzliche Kontakt mit hilfsbedürftigen Menschen aus allen sozialen Schichten war überwältigend. Man bekam einen Einblick in das Leben hinter den Berliner Altbaufassaden. Die Leute und die Erfahrungen dort bewegten mich dazu, mich für die Ausbildung zum Gesundheits- & Krankenpfleger zu bewerben. Dank meines ausgezeichneten Arbeitszeugnisses der Hauskrankenpflege und meinem miserablen Hochschulreifeabschluss (5 in Mathe) war Vivantes die einzige Krankenpflegeschule, die mir eine Chance gab. Damals waren die Anforderungen für einen Ausbildungsplatz noch etwas höher als heute und die Not gefühlt noch nicht zu groß.

Die dreijährige Ausbildung von 2007 bis 2010 war eine aufregende, schöne und prägende Zeit, an die ich gerne zurückdenke. Ich hatte zuvor noch nie wirklich ein Krankenhaus betreten, hatte keine Ahnung vom beruflichen Alltag oder von den komplexen theoretischen Inhalten. Durch das medizinische Wissen erwirbt man einen ganz anderen Blick auf den menschlichen Körper.

Eines Tages hatte ich dann einen Einsatz auf einer ITS im Krankenhaus Friedrichshain. Ich hatte vorher keine Ahnung was mich erwarten würde und es war ein Schock. Regungslose Körper in den Betten, das Rauschen der Beatmungsgeräte, die Bettplätze umzingelt von Medizintechnik und überall ertönen verschiedene Alarme. Der Umgang mit lebensbedrohlich, schwerst erkrankten Menschen ist eine ganz besondere Herausforderung. Ich konnte mich sofort mit der Station identifizieren und wollte nach dem Examen dort anfangen.

Über die Auswirkungen des Sparkurses der Klinikleitung

Vivantes wollte eigentlich nur sehr wenige Auszubildende übernehmen. Wir konnten das damals gar nicht verstehen, sahen wir doch während unserer Praktika die Not, die auf den Stationen herrschte. Der Sparkurs der Kliniken offenbarte seine hässliche Fratze. Überall überlastetes und frustriertes Pflegepersonal. Für Menschlichkeit blieb oft nicht viel Zeit. Die Jugendauszubildendenvertretung der Ver.di organisierte mehrere Streiks, um Druck auf die Geschäftsführung auszuüben. Das erste Mal musste ich für meine Arbeit kämpfen. Wir hatten Erfolg und sehr viele wurden übernommen.

Das Leben der Patienten auf der ITS ist oft ein Akt auf Messers Schneide. Die Patienten sind rund um die Uhr auf die Betreuung von Pflegenden und Ärzten angewiesen. Mindestens eine oder mehrere Organfunktionen werden unterstützt oder übernommen, um das Überleben zu sichern.

Viele Menschen schaffen es nicht. Meine erste Erfahrung mit dem Tod war ein junger Mann, genauso alt wie ich, der am Ostbahnhof als Radfahrer von einem Auto überfahren wurde. Der Körper wurde auf Station noch am Leben erhalten, aber der Schaden am Hirn war zu groß und irreversibel und der Patient verstarb. Für seine weinende Mutter schnitt ich eine Locke von seinem blutigen Kopf. So etwas läuft einem eiskalt den Rücken herunter und lässt einen anfangs nicht so schnell los.

Dauerstress und kollektive Erfahrungen

Oft muss man im Alltag 110% geben, um den Patienten irgendwie gerecht zu werden. Man verzichtet auf seine Pause, hat acht Stunden nichts getrunken und war nicht einmal auf Toilette. Anerkennung gibt es dafür nicht oder viel zu selten. Kein Arzt, der dir auf die Schulter klopft und sagt, das hast du gut gemacht, Danke. Die Patienten können einem ja nur selten Feedback geben. Also habe ich immer versucht, meine Patienten so gut wie ich es kann zu pflegen. Aus der Bibel abgeleitet, pflege jeden so wie dich selbst. Also Patienten sollten auch optisch gut gepflegt sein und sollten so viel Therapie wie möglich erfahren. So konnte ich wenigstens am Feierabend zu mir sagen, ich habe mein Bestes gegeben und konnte mit guten Gewissen nach Hause gehen.

Ein Glück hatte ich immer ein tolles Team an meiner Seite. Dann wurde die Station vergrößert und der Arbeitsaufwand wurde größer. Gefühlt betreute man jetzt im Frühdienst nicht mehr zwei, sondern drei Patienten, nachts sogar vier. Trotzdem war es ein schönes Arbeiten. Immer mehr junge Kollegen brachten Dynamik und Freude in den Arbeitsalltag. Junge Kollegen profitierten vom Wissen der Erfahrenen und anders herum. Durch die Teamstärke konnten wir die Belastungen des Alltags gut puffern. Wir traten für einander ein und halfen uns aus. Man hatte sich nie allein gefühlt. Auch außerhalb der Arbeit unternahmen wir viel. Es war sehr schön.

Viele Kollegen konnten sich jedoch nicht vorstellen ihre Zukunft unter diesen beruflichen Belastungen und dem Dauerstress fortzuführen und gingen. Entweder wollten sie studieren oder in Kliniken mit besseren Bedingungen arbeiten. In den letzten Jahren kamen und gingen die Kollegen, die Fluktuation war groß.

Ein Interesse der Klinik, daran etwas zu ändern, schien es nicht zu geben. Einmal riefen wir eine Notsitzung mit der Pflegedienstleitung ein, ein Hilfeschrei über die katastrophalen Arbeitsbedingungen. Die Leitung sagte am Ende nur, Hauptsache die Medikamente laufen und niemand stirbt. Hätte die Arbeit einen solchen Qualitätsanspruch, würde sie die Schulnote 4- bekommen. Wer möchte so gepflegt werden? Diese Leitung verbot es uns auch, die Personallücken mit Leiharbeitern zu füllen. Das Personal sollte dies kompensieren und wurde völlig verheizt.

Frustration und gewerkschaftliche Organisierung

Dass es so nicht weitergehen kann, war allen klar, nur etwas dagegen tun wollten die wenigsten. Der Gewerkschaft Ver.di gehörte fast niemand an. Auch der Betriebsrat wurde hämisch beäugt, bzw. fühlten sich die Kollegen dort nicht vertreten. Sie waren sogar genervt vom Betriebsrat und dessen Kleinkariertheit, z.B. bei der Kontrolle der Dienstpläne.

Ich habe deren Arbeit anders wahrgenommen. Es waren engagierte Arbeiter. Von der Putzfrau über die Physiotherapeutin bis zur Krankenschwester waren diese gewillt, mit Hilfe der Gewerkschaft die Arbeitsbedingungen zu verbessern und dafür zu streiken. Und so kam es auch, es wurde Streik angeordnet! Von meinem 60-köpfigen Team waren vielleicht zwei dabei. Sehr ernüchternd.

Wer kümmere sich dann um die Patienten, hieß es. Was soll das schon bringen? Bringt doch eh nichts. Das hörte man immer wieder von den älteren Kollegen. Manche hatte sogar Angst vor Repressalien des Arbeitgebers. Diese devote Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber konnte ich mir immer nur mit der DDR-Vergangenheit der meisten Kollegen erklären. Arbeit hat einen ganz anderen Stellenwert in deren Leben. Durchhalten ist die Devise, aber nicht beim Streiken, sondern beim Arbeiten. Hauptsache man kann meckern.

In mir wuchs die Frustration ebenfalls stetig. Zu oft bin ich fix und fertig und mit den Nerven am Ende nach dem Feierabend nach Hause. Immer öfter hatte ich schlechte Laune nach dem Feierabend und konnte nicht abschalten. Schlafstörungen kamen dazu. Nachts lag ich wach im Bett, schlecht gelaunt und demotiviert und habe mir Szenarien für den Dienst vorgestellt, die mich richtig nerven würden. Oft traten diese dann auch auch ein. Ich war schon vor Dienstbeginn genervt. Vor ein paar Jahren hätte ich niemals daran geglaubt, zu gehen. Ich hatte mich mit der Arbeit, den Kollegen und der Station identifiziert. Ich hatte eine Reputation, war ein angesehener Mitarbeiter und hatte trotzdem viel Spaß. Es gab auch weiter viele schöne und lustige Momente auf Arbeit. Aber das Negative schien immer mehr zu überwiegen. Mir war jedoch klar, dass ich etwas ändern musste.

Ich tat das, was viele Kollegen taten. Ich ging in die Zeitarbeit. Das heißt, ich arbeite auf sämtlichen Intensivstationen in Berlin und helfe dort aus. Meine Bezahlung ist besser, ich bestimme meinen Dienstplan komplett selber und gehe nur an den Tagen arbeiten, an denen ich möchte.

Erlauben tut dies das völlig desolate Gesundheitssystem. Es fehlt überall an Fachkräften und die Kliniken sind auf Zeitarbeiter angewiesen. Anders können sie ihrem Versorgungsauftrag nicht nachkommen. Und es ist günstiger als festes Personal. Natürlich nur auf sehr kurze Sicht.

Mir geht es aktuell damit viel besser, weil es mit dem Familienleben besser vereinbar ist. Des Weiteren habe ich mit all den Quereleien auf Station nichts mehr zu tun und die mangelhaften Zustände tangieren mich auch nur wenig. Ich bin Dienstleister. Ich versuche überall mein Bestes zu geben. Die Qualität leidet dadurch natürlich. Du kannst nirgends gleich gut und effizient arbeiten, wenn du die Gegebenheiten vor Ort nicht kennst. So gesehen wäre es für die Patienten besser, die Kliniken würden ihr Personal besser bezahlen und behandeln, damit diese von derer Expertise besser profitieren können.

Ich vermisse meine alte Reputation auf Station und all die Späße, die ich mir dadurch erlauben konnte. Die Kollegen die man schon seit Jahren kennt. Alles, was man hat, wenn man im festen Team arbeitet. Die Station kannte ich in und auswendig und jeder Handgriff saß. Das war echt toll.

Eine Rückkehr ist für mich jedoch aktuell nicht vorstellbar. Ich fühle mich für meine Arbeit zum ersten Mal angemessen und fair bezahlt.

#Raul Dahn

Das Kiezecho gibts in Friedrichshain bisher an folgenden Adressen:

  • Café Tasso
    Frankfurter Allee 11, 10247 Berlin
  • Café & Bäckerei CaMelina  
    Waldeyerstraße 12, 10247 Berlin
  • Espressobar La Tazza D’Oro
    Grünberger Str. 40, 10245 Berlin
  • Weder gestern noch morgen
    Gärtnerstraße 22, 10245 Berlin
  • Getränkemarkt Soso
    Schreinerstraße 12, 10247 Berlin
  • Kiez Coffee & Wash Center
    Samariterstr. 12, 10247 Berlin
  • Bier und Mehr Bier
    Rigaer Str. 77, 10247 Berlin
  • Eco-Express Waschsalon
    Warschauer Str. 22, 10243 Berlin
  • SB Waschsalon Schleudertraum
    Frankfurter Allee 33, 10247 Berlin
  • Wash Box
    Boxhagener Str. 114, 10245 Berlin
  • Waschsalon Friedrichshain Lavanderia
    Lenbachstraße 1, 10245 Berlin
  • Pizzeria Castello       
    Rigaer Str. 2, 10247 Berlin
  • Bäckerei 2000       
    Rigaer Str. 12, 10247 Berlin
  • Bäckerei Spätkauf OLIVE 
    Proskauer Str. 13, 10247 Berlin
  • FRIEDA-Frauenzentrum e. V.
    Proskauer Str. 7, 10247 Berlin
  • Vétomat – Siebdruckcafé
    Wühlischstraße 42, 10247 Berlin
  • UBI KLiZ e. V. / Mieterladen
    Kreutzigerstraße 23, 10247 Berlin
  • Bezirkszentralbibliothek Frankfurter Allee
    „Pablo-Neruda-Bibliothek“       
    Frankfurter Allee 14 A, 10247 Berlin
  • Filmclub K18       
    Kreutziger Strasse 18, 10245 Berlin
  • b-ware! Ladenkino
    Gärtnerstraße 19, 10245 Berlin
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Ein Kommentar über “Bericht eines Pflegers über den Arbeitsalltag im Vivantes-Klinikum im Friedrichshain”

    Lina Seidel 10. Februar 2021 - 8:59

    Ich will in der Zukunft eine Kinderkrankenschwester sein und lese deswegen gerne die Geschichten aus verschiedene Pflegeberufen. Vielen Dank, dass Sie mit uns Ihre Erfahrung als Pflegerin auf einer großen Intensivstation geteilt haben. Gut zu wissen, dass die Arbeitsbedingungen im Klinikum eine große Rolle spielen.