Die Geschichte Kolumbiens ist die Geschichte eines brutalen Krieges der Oligarchie und des Imperialismus gegen die Armen. Im “Krieg der tausend Tage” um 1900 verloren über 100 000 Menschen ihr Leben; beim Bananenarbeitermassaker am 6. Dezember 1928 tötete das kolumbianische Militär für die US-amerikanische United Fruit Company mehrere tausend Männer, Frauen und Kinder; und in der Periode der violencia nach der Ermordung des populären Politikers Jorge Eliécer Gaitán starben zwischen 1948 bis 1958 200 000 bis 300 000 Menschen. Kolumbien ist auch nach dieser Periode nie zur Ruhe gekommen und es blieb ein mit Gewalt im US-amerikanischen Einflussbereich gehaltener Staat der Kompradoren-Bourgeoisie. Diese setzte Militär und Todesschwadrone ein, vertrieb und ermordete Massen an Kleinbäuer*innen, Arbeiter*innen, Studierende und Intellektuelle. Das blieb bis auf den heutigen Tag so und während diese Zeilen geschrieben werden, greift die kolumbianische Regierung Hunderttausende Protestierende an, verhängt Ausgangssperren, lässt knüppeln und im Zweifelsfall schießen.
Aber die Geschichte Kolumbiens ist auch eine Geschichte des permanenten Widerstands. Von der liberalen Guerilla Rafael Rangels über die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens bis zur Ejército de Liberación Nacional, der Nationalen Befreiungsarmee, von der ein demnächst im Wiener Bahoe-Verlag erscheinendes Buch handelt. „Predigt und Patronen. Eine Geschichte der ELN-Guerilla in Kolumbien“ ist dabei nicht nur deshalb ein besonderes Schmuckstück, weil es von zwei altgedienten und hochrangigen Guerilleros, Nicolás Rodríguez Bautista und Antonio García, geschrieben ist. Es ist auch vor allem ein sehr plastisches Dokument jener Frühzeit der Guerilla, in der sie erst anfängt, sich zu formieren.
Der Band erzählt, ganz autobiographisch, wie ein 13-jähriger Junge sich der gerade im Entstehen begriffenen ELN anschließt, seine ersten Schulungen durchläuft, viele hundert Kilometer marschiert, seine ersten Gefechte absolviert, Freund*innen verliert und Überzeugungen gewinnt. Man kann ihn als Abenteuerroman lesen, denn er ist gut geschrieben, spannend, oft witzig und gelegentlich traurig.
Aber man sollte ihn zumindest nicht nur als Abenteuerroman lesen, denn er ist auch viel mehr als das. Er ist, wie alle Zeugnisse von Guerillers, sehr lehrreich. Obwohl es ganz und gar kein theoretisches Buch ist, stellt es viele Fragen, die in der liberalen Gegenwartslinken gar nicht mehr vorkommen.
Zum Beispiel die nach revolutionärer Führung: Die ELN versteht sich als Vorhut einer Volksbewegung; ihre ersten Kader wurden in Kuba ausgebildet, die in die Dörfer gehen und rekrutieren. Man kann das aus irgendwelchen in Uni-Seminaren gelernten Erwägungen ablehnen, aber am Ende bleibt wahr, was die Mutter des Protagonisten zum ersten Anführer der Guerilla, Carlos, sagt. Als der sie fragt, ob es in der Gegend Leute gibt, die bereit wären zu den Waffen zu greifen, antwortet sie: „Na sicher gibt es die! Aber es fehlt ein Anführer, der die Hosen anhat und ihnen sagt, wo es langgeht. Damit sie nicht genauso enden wie die Gaunerbande Los Picos, die noch den Hungerleidenden das letzte Essen stiehlt.“ Die Frage nach revolutionärer Leitung zieht sich durch das Buch – und da gibt es mit Carlos, historisch Fabio Vasquez Castaño, und Andrés auch gleich zwei Figuren, an denen man sieht, wie’s geht und wie’s nicht geht. Carlos hat eine natürliche Autorität und versteht seine Leute; Andrés ist hart und ideologisch, aber wird nicht respektiert.
Wie in jedem anderen Buch über wirkliche Kämpfe ist es auch interessant zu sehen, wieso eigentlich Menschen – die Hauptfigur im Alter von 13 Jahren – den so gewichtigen Entschluss fassen, sich auf Leben und Tod dem Kampf um eine neue Welt anzuschließen. Es ist zumeist kein Entschluss, der daraus erwächst, dass man nun endlich die Marx-Engels-Werke von Band 1 bis 42 durch hat; der Sozialwissenschaften-Master endlich abgeschlossen ist und man nun als voll ausgestattete*r, alleswissende*r Linke*r zur Tat schreiten kann. Bildung ist auch in der ELN ein fester Bestandteil der Praxis der Guerilla. Aber der Entschluss, mitzumachen, entsteht aus der Kombination Unterdrückungserfahrung + beispielhaftes Vorleben der anderen Guerillas + Hoffnung auf ein besseres Leben. Liest man sowjetische Romane aus der Revolutionszeit, ist es immer der eine bolschewistische Kader, der in irgendeine Stadt kommt, anfängt zu arbeiten, sich mit seinen Eisenbahnerkollegen anfreundet und ihnen im entscheidenden Moment auf die Schulter klopft und erklärt, dass sie auch Bolschewisten sind. In Kurdistan ist es der/die PKK-Aktivist*in, die*der von Haus zu Haus geht und den Menschen erklärt, dass sie als Kurd*innen eine unterdrückte Nation sind und kämpfen können. Und am Anfang der ELN ist es Carlos, der im Dorf auftaucht, sich mit allen anfreundet und dann mit der Hälfte der Männer in die Berge abdüst. Tatsächlich allerdings nur der Männer, denn Frauenfiguren bleiben am Anfang der ELN stark im Hintergrund. Man merkt die patriarchale Rollenaufteilung deutlich. Im Roman kommen sie kaum vor, eine einzige Frau geht mit in die Berge, bleibt in den Erinnerungen farblos und muss dann gehen, als sie schwanger wird. Ansonsten näht die Mutter von Nicolás Rodríguez Bautista die ersten Armbinden der ELN, aber das war´s dann auch.
Was kann man noch lernen? Klandestinität ist wichtig. Aber am Ende bringt sie nichts, wenn die Bevölkerung nicht auf der Seite der guten Sache steht. Und schon daraus folgt eine bestimmte Ethik der revolutionären Linken. Auch wenn du noch so hungrig bist, du klaust nicht von armen Leuten – „nicht ein einziges Bindfädchen“, um es mit Carlos zu sagen. Die Guerilla sieht sich als Dienerin des Volkes. Und zwar aller Armen, unabhängig davon, ob die der liberalen oder konservativen Partei angehörten, ob sie katholisch sind oder nicht.
Im Buch trifft man auch Camilo Torres. Der berühmte Befreiungstheologe, damals schon ein in der Bevölkerung Kolumbiens unheimlich beliebter Agitator, schließt sich Ende 1965 der ELN an – und fällt wenig später in seinem ersten Gefecht. Und dennoch, oder vielleicht auch gerade deshalb, bleibt er eine ikonische Figur. Ihm wären andere Wege offen gestanden. Er war ein Star. Und doch ging er in die Berge, als einer wie alle anderen. Der noch minderjährige Rodríguez Bautista wird sein Ausbildner. Torres bringt seine Fähigkeiten ein, das Schreiben, die Theorie. Und er lernt die der anderen, das Überleben und Kämpfen.
Ähnlich wie in anderen in deutscher Sprache (relativ) neu erschienen autobiografischen Erzählungen aus dem bewaffneten Kampf – z.B. die dreibändige Autobiographie von Sakine Cansiz oder die Erinnerungen von Dimitris Koufontinas – sollte man zwar auch bei „Predigt und Patronen“ nicht zu sehr in romantisierendes Schmachten verfallen, aber zugleich kann man sich an den Geschichten auch ein wenig von der tödlich langweiligen Nüchternheit abgewöhnen, die wir uns in den kapitalistischen Metropolen antrainiert haben. Eine Linke, die sich in der eigenen Ohnmacht geradezu suhlt und jedem Aufbruch von vornherein das erwartbare Scheitern attestiert, kann von zwei Dutzend Leuten, die beinahe unbewaffnet und in Gummistiefeln in den Dschungel aufbrechen, auf jeden Fall was lernen. Und wer’s nicht glaubt, der soll zurückrechnen, wie viele der „Organisationen“ der radikalen Linken in Deutschland länger als ein paar Jährchen überdauern. Die ELN jedenfalls kämpft noch heute, 55 Jahre nachdem sich der 13-jährige Nicolás Rodríguez Bautista die alte 7,65er-Pistole seines Vaters umgeschnallt hat.
# Bildquelle: eln-voces.net