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Imad Mustafa bespricht Esther Dischereits Sammelband „Mama, darf ich das Deutschlandlied singen?“

Deutschland im Jahr 2020: In Magdeburg steht der Mörder und Rechtsterrorist von Halle vor Gericht. In Frankfurt am Main muss sich der rechtsradikale Mörder von Walter Lübcke verantworten. Der Rechtsterrorist, der im Frühjahr in Hanau neun Menschen ermordete, entging der Strafverfolgung, indem er sich selbst tötete. Und seit dem Frühjahr wütet eine Pandemie, die eine Melange aus Esoterik*innen, Nazis, Impfgegner*innen und Reichsbürger*innen unter dem Label Querdenker mobilisiert, die auch vor Gewalt gegen Journalist*innen nicht zurückschrecken und ein Ende der „Merkel-Diktatur“ fordern. In diese Gemengelage interveniert die radikale Intellektuelle Esther Dischereit mit ihrem aktuellen Buch „Mama, darf ich das Deutschlandlied singen?“.

Ihre Essays, Alltagsbeobachtungen, Berichte, Interviews, Reflektionen und erzählerischen Streifzüge durch New York oder Ostdeutschland kreisen um die (Un)möglichkeit jüdischen Lebens und Schreibens in Deutschland, gelebten politischen Aktivismus sowie Widerständigkeit in Theorie und Praxis. Sie schickt ihnen im Vorwort den gewiss programmatischen Satz voraus, wonach es „im Grunde darum geht, dass der Bürgersteig allen gehört und keine Gruppe beschließen kann, ob jemand da gehen darf oder nicht.“

Engagiert, emphatisch, schnörkellos und ohne Furcht, anzuecken, nähert sich Dischereit in der ihr eigenen Art den allzu deutschen Zuständen der jüngsten Vergangenheit an und lässt die Leser*innen an ihrem „dekonstruktiven Vergnügen“ teilhaben, ohne je selbst in den Verdacht zu kommen, einer Ideologie anzuhängen.

Im Gegenteil: In bester ideologiekritischer, dialektischer Manier schreibt Dischereit, dass ihr „Schreiben sich in dem gleichen Maß der >>Wahrheit<< nähert, wie es sich davon entfernt“. In ihrer Kritik gesellschaftlicher und politischer Missstände bleibt sie stets klar im Argument und klagt immer wieder an: Die Institutionen, die bei der NSU-Mordserie versagt haben, den strukturellen Rassismus, der dieses Versagen begünstigt hat, EUropa, das hilfsbedürftige Menschen in Moria sich selbst und der Witterung überlässt. Auch die völkerrechtswidrige israelische Siedlungspolitik spart sie in ihrer Kritik nicht aus und schlägt vor, die vertriebenen Palästinenser*innen in den zu räumenden Siedlungen zu repatriieren. Es sind die Armen, Entrechteten, Ausgeschlossenen, diejenigen ohne Lobby und öffentliche Stimme, denen sich die Autorin – auch in ihrer politisch-aktivistischen Praxis – zuwendet.

Das große Verdienst von Esther Dischereits Buch liegt jedoch darin, nicht bei der berechtigten Kritik gesellschaftlicher Missstände zu verweilen, sondern in ihren bisweilen biographisch gefärbten Essays immer wieder nach Anschlüssen und Bündnissen zwischen verschiedenen marginalisierten Gruppen und deren Perspektiven und Erfahrungen zu suchen. Die Schoah oder aktuelle antisemitische Anschläge wie der in Halle dienen immer wieder als Referenzpunkte ihrer Überlegungen.

Wenn sie etwa ihre Reaktion auf das Bekanntwerden der NSU-Mordserie beschreibt und unter Bezugnahme auf die Schoah – ohne diese zu relativieren – von der Notwendigkeit spricht, „das Gedenken und die Würdigung der Opfer des NSU sofort zu wollen“ und bloß nicht wieder „die Jahrzehnte des bleiernen Verschweigens und Beschweigens durch eine Mehrheitsgesellschaft“ zu erdulden, dann ist das mutig und stark. Dieser eine Satz gibt dem Leid der muslimischen Community in Deutschland mehr Anerkennung, als der deutsche Staat und seine Vertreter*innen seit der Selbstenttarnung des NSU.

Konsequent fordert die Autorin eine „Gemeinschaft der Vielen“, die trotz aller Unterschiede und Differenzen zwischen den Communities die gemeinsamen Interessen gegenüber einer weißen Dominanzgesellschaft hervorhebt und verfolgt, eine breite Bürgerrechtsbewegung, die „das Recht aller zu sein einfordert.“ Ohne Zweifel formuliert sie hier eine wichtige Vision, um den rechten Brandstiftern das Feld politischer Mobilisierung nicht gänzlich zu überlassen.

Allerdings muss hier kritisch nach den Möglichkeitsstrukturen einer solchen Bewegung gefragt werden: Politische Konflikt- und Trennlinien, lassen sich nicht ohne weiteres überwinden. Breite zivilgesellschaftliche Koalitionen erfordern die Erkenntnis, dass jede Gruppe für sich nicht stark genug ist, ihre Ziele und Forderungen zu realisieren sowie die Bereitschaft, Kompromisse auszuhandeln. Die kommenden Monate und Jahre werden in dieser Hinsicht entscheidend sein.

Esther Dischereits Werk gibt nicht nur in dieser Frage essenzielle Denkanstöße, die in unserer turbulenten Zeit ein absolut notwendiger politischer Kompass sind und von allen gelesen werden sollten, die für ein konstruktives gesellschaftliches Miteinander eintreten.

# Esther Dischereit Mama, darf ich das Deutschlandlied singen. Politische Texte, Wien: mandelbaum Verlag 2020, 237 Seiten, 19 €.

Imad Mustafa lehrt und forscht an der Universität Erfurt zu sozialen Bewegungen, Rechtspopulismus und Islam in Deutschland.

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei dreht sich um das Schaeffler-Imperium.

Maria-Elisabeth Schaeffler mag Privatjets, Pelzmäntel, Champagner und Kartoffelsuppe mit Trüffel-Spänchen. Sie kann es sich leisten, denn sie hält 20 Prozent an einem deutschen Prestigekonzern: Der Schaeffler AG. Ihr Sohn Georg nagt ebenfalls nicht am Hungertuch, nennt 80 Prozent des Familienbetriebs sein Eigen. Beide sind Multimilliardäre. Und beide sind Erben der Gebrüder Wilhem und Georg Schaeffler, deren Geschichte just im Jahr 1946 beginnt – zumindest, wenn man der Erzählung der offiziellen Homepage des Maschinenbau- und Automobilkonzerns folgt.

Dort wird sehr karg bis 1926 die Geschichte der Fischer AG erzählt, dann klafft eine kleine Lücke und 1946 der nächste Eintrag: „Die Brüder Dr. Wilhelm und Dr.-Ing. E. h. Georg Schaeffler gründen die Industrie GmbH in Herzogenaurach.“ War dazwischen was? Was war denn da nochmal in diesem Zeitraum? Man versteht gar nicht, wieso die Firma ihr Licht so unter den Scheffel stellt, denn Wilhelm Schaeffler jedenfalls war in der Zeit von 1933 bis 1945, der Zeit des großen deutschen Konjunkturprogramms, nicht untätig.

Ein jüdisches Unternehmen ist billig zu haben

Alles begann mit einem Schnäppchen: 1940 erwarb Wilhelm Schaeffler die Davistan AG des schon 1933 aus Deutschland geflohenen jüdischen Textilunternehmers Ernst Frank – unter Wert natürlich, die Rahmenbedingungen waren ja günstig. Der „Kauf“ legte die Grundlage nicht nur für die Geschäfte, welche die Schaefflers nun im Krieg machen würden, sondern auch für die nach 1946.

Wilhelm wird 1941 NSDAP-Mitglied, Bruder Georg engagiert sich in Hitler-Jugend und Wehrmacht. Die Davistan AG wird zur Schaeffler AG und die Produktion auf Krieg umgestellt: Teile für Panzerkampfwagen, Sturmgeschütze und Abwurfanlagen für Flugzeugbomben, Nadellager für Panzerketten. Selbstredend zum Einsatz kommt auch die billigste aller Arbeitskraftressourcen, Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen.

Auch wenn der mit der „Aufarbeitung“ der Firmengeschichte beuaftragte Historiker Gregor Schöllgen dies lange bestritt, weisen zahlreiche Indizien darauf hin, dass Schaeffler – der neben der Rüstungs- immer noch in der Textilfertigung tätig war – zudem Menschenhaar aus Auschwitz verarbeiten ließ. Das erzählen nicht nur polnische Zwangsarbeiter:innen, die bei Schaeffler zur Arbeit gezwungen wurden, auch der Historiker Andrzej Strzelecki vom Auschwitz-Museum ist fest davon überzeugt. Schöllgen, der zunächst kategorisch abstritt, lenkte ein, es fehlen ihm aber immer noch „direkte Belege“, wie der Spiegel 2009 berichtete. Naja.

Zweifellos aber steht fest: Ohne den Erwerb der Davistan AG, ohne die Kriegsproduktion und ohne die für selbige eingesetzte Zwangsarbeit hätte auch 1946 keine Firmengeschichte der Schaefflers begonnen. Und ohne Nationalsozialismus wäre Wilhelm Schaeffler mit ziemlicher Sicherheit nicht zum Gründer einer bis heute andauernden deutschen Familiendynastie geworden.

Nach dem Krieg war für die deutschen Kapitalisten keineswegs Schluss. Wilhelm Schaeffler wurde zwar kurz in Polen inhaftiert, weil er für die Nazis an der Arisierung polnischer Betriebe mitgewirkt haben soll. 1951 aber wird auch er entlassen, als „zweitrangige Person“ eingestuft und die Firmengeschichte beginnt von nun an 1946 in Herzogenaurach.

Krieg bleibt lukrativ

Noch bevor die Rote Armee anrückte, verschoben die Schaefflers Maschinen und Material aus dem polnischen Katscher gen Westen; das aus der Panzer-Zuarbeit gewonnene Know-How blieb ihnen auch. Und so begann der Wiederaufstieg der Schaefflers, zuerst als Mischkonzern für alles Mögliche, dann durch die Produktion industrieller Nadellager. Der Kommunismus stand vor der Tür und so hatte man auch unter den Westmächten bekanntlicherweise kein Problem mit den ehemaligen Nazi-Größen. Bald produzierte Schaeffler Lagernadeln und Gelenkwellenlager für das US-Militär und mit Genehmigung der US-Behörden für zwei deutsche Ersatzteilhersteller.

Die Geschichte der Bundesrepublik wurde dann zur Geschichte der Konsolidierung und des Ausbaus des Schaeffler-Konzerns, der sich als Zulieferer für die Autoindustrie, die Luftfahrt und für den Maschinenbau etablierte. Drei große Marken vereinigt die Schaeffler AG unter sich: FAG Kugelfischer, INA (Industrienagellager) und LuK (Lamellen- und Kupplungsbau).

2009 gesellte sich der Autozulieferer Continental zur Schaeffler-Gruppe. Bei Conti arbeiten in weltweit über 400 Standorten rund 240 000 Menschen, die Schaefflers halten 46 Prozent des weltweit zweitgrößten Automobilzulieferers.

Rüstung blieb dabei bis heute Teil des Geschäftskonzepts. Stolz erklärt FAG Aerospace in einer Firmenpräsentation: „Neben zivilen Anwendungsbereichen ist FAG auch ein Innovationspartner und Zulieferer in allen großen militärischen Triebwerkprojekten.“ Beim Eurofighter, dem Airbus A400M, dem Joint Strike Fighter Programm sowie für Lockheed Martin sei man tätig. Dazu kommen Kampfhubschrauber. Continental wiederum produziert „general-use“-Komponenten sowie Reifen für Militärfahrzeuge.

Niedriglohn und Fake-Gewerkschaften

Im Jahr 2019 machte Schaeffler rund 14,4 Milliarden Euro Umsatz. Wie kommt das zustande? Auch hier – wie bei allen in dieser Serie porträtierten Familienclans – gilt: Es gibt nur zwei Reichtumsquellen, die sie anzapfen können, Natur und menschliche Arbeitskraft. Bei den Schaefflers sorgen für letzteres offiziell ausgewiesen weltweit rund 90 000 Arbeiter:innen.

Offiziellen Statistiken zufolge sind davon im Jahr 2019 über 60 000 in Europa, knapp 13 000 in Südamerika und den USA, über 12 000 in Greater China und etwas mehr als 3000 im Rest Asiens beschäftigt. Wie viel darauf auf Deutschland entfallen, weisen die Konzernstatistiken nicht aus.

Werke unterhält der Konzern auf der ganzen Welt: Italien, Brasilien, China, Vietnam, Rumänien, Mexiko, Südafrika – die Creme de la Creme der bei Auto- und Maschinenindusrtie beliebten Niedriglohnländer ist durchgängig vertreten. Was Arbeiter:innen in den jeweiligen Ländern verdienen und wie ihre Arbeitsbedingungen sind, lässt sich kaum erruieren, da es sich um kein unter Journalist:innen beliebtes Thema handelt. Es fragt schlichtweg kaum jemand nach.

Einen kleinen Einblick gibt eine Pressemitteilung mehrerer Menschenrechtsorganisationen zu Ausbeutung in Mexiko. Dort heißt es: „Die Montagewerke, die in Mexiko errichtet wurden, und die maquiladoras genannt werden, sind bekannt für ihre schlechten Arbeitsbedingungen, Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrückung von Gewerkschaften. Hinter dem Rücken von Arbeiter:innen unterzeichnen ‘sindicatos blancos’ genannte Fake-Gewerkschaften Pseudo-Kollektivverträge mit den Fabrikmanagern. Die Fabriken überweisen als Gegenleistung direkt von den Löhnen abgezogene Mitgliedsbeiträge an die Scheingewerkschaften. Mehrere EU-Unternehmen, darunter BMW und Schaeffler, haben solche Pseudo-Verträge unterzeichnet und verstoßen so gegen internationale Arbeitsrechte.“

Schaeffler unterhält, so weist Thomas Fritz in seiner Studie „Menschenrechte auf dem Abstellgleis“ nach, Fake-Kollektivverträge mit der berüchtigten Confederación de Trabajadores de México (CTM), die zur Durchsetzung der Profite der Bosse gelegentlich auch Schlägertrupps auf protestierende Arbeiter:innen losschickt. Selbst die deutsche IG Metall distanziert sich in aller Form von diesen korrupten Scheingewerkschaften und kritisiert, dass die illegalen Abbuchungen von „Mitgliedsbeiträgen“ für die gelben Gewerkschaften in Mexiko 80 Prozent aller (!) Tarifverträge ausmachen und einen eigenen Geschäftszweig der organisierten Kriminalität bilden. Löhne von 1 bis zwei US-Dollar die Stunde sind übliche Ergebnisse dieser Art von „Tarif“-Aushandlung.

Arbeitsplatzabbau in Deutschland, neue Fabriken in Niedriglohnländern

Den Preis der Ware Arbeitskraft so niedrig wie möglich zu halten, gehört zu den beliebtesten Methoden der Profitmaximierung. Und so bieten Krisen auch immer Chancen, denn man kann unter Verweis auf die drückende Notlage des jeweiligen Konzerns sogenannte „Umstrukturierungen“ vornehmen, also sich bessere Ausbeutungsbedingungen ergaunern.

Die Familie Schaeffler tut das vorhersagbar in jeder Krise – 2009 nach der sogenannten Finanzkrise genauso wie aktuell im Zuge der „Corona-Krise“. So war bereits im Herbst zu hören, dass Schaeffler 4400 Stellen vor allem in der Bundesrepublik abbauen wolle, die Werke in Wuppertal und Clausthal-Zellerfeld könnten ganz geschlossen werden. Für 2019 weist der Konzernbericht global einen Arbeitsplatzabbau von rund 5000 Stellen aus, davon auch wiederum proportional der größte Anteil in Deutschland. Die sogenannte „Strukturanpassung“ besteht aber nicht einfach nur in der Verringerung von Arbeitsplätzen, sondern zudem in der Verlagerung der Produktion in Niedriglohnländer. Im mexikanischen Huejotzingo wurde 2016 eine neue Fabrik eröffnet, im tschechischen Svitavy 2017, im vietnamesischen Bien Hoa 2019.

Noch deutlicher ist die „Umstrukturierung“ zur Kostenreduktion beim ebenfalls vom Milliardärsclan Schaeffler kontrollierten Auto-Riesen Continental. Bis zu 13 Prozent seiner Gesamtbelegschaft sollen betroffen sein, 30 000 Stellen sind gefährdet. Sowohl bei Conti wie auch bei Schaeffler selbst sind die Stellenstreichungen in Deutschland kein Ergebnis der Corona-Krise – der Prozess hatte bereits in den Jahren zuvor begonnen.

Die IG Metall – traditionell sozialpartnerschaftlich so eng verwoben mit dem Konzern, dass man nicht weiß, wo Management aufhört und wo Arbeiter:innenvertretung anfängt – ist ratlos. Viel mehr als einige symbolische Kundgebungen und die Mahnung von Gewerkschaftschef Jörg Hofmann, die Kapitalisten gefährden so ihre „eigene Zukunftsfähigkeit“, fand bislang nicht statt.

Anders als Hofmann vermutet, gefährden aber Outsourcing, Verlagerung der Produktion in Niedriglohnländer und Offshoring allerdings nicht die „Zukunftsfähigkeit“ kapitalistischer Konzerne. Vielmehr basiert ihre „Wertschöpfungskette“ genau darauf. Dementsprechend geht es auch bei Schaeffler und Continental um die Erschließung neuer Produktionsstandorte und Absatzmärkte in Ländern, in denen man nicht so genau nachfragt, zu welchen Konditionen Arbeit ausgebeutet und die Umwelt geschädigt wird. Und dieser Prozess wird allein durch „sozialpartnerschaftliche“ Liebkosungen nicht zu stoppen sein.

Profite privat, Verluste vergesellschaftet

Zu erwarten ist dagegen, dass mit gewerkschaftlichem Druck als Ausgleich für irgendwelche Kompromisse zur „Erhaltung“ von Arbeitsplätzen Schaeffler versuchen wird, sich auch hierzulande noch zu krallen, was zu krallen ist. Schon 2009 verhandelte der Milliardärsclan um Staatshilfen, hatte aber auch zuvor Subventionen in Millionenhöhe kassiert. Generell werden die Autoindustrie und ihre Zulieferbetriebe reichlich aus staatlichen Quellen „gefördert“. Eine Kleine Anfrage der Linkspartei dokumentiert etwa für Conti und Schaeffler jährliche Zuwendungen in Millionenhöhe für die Jahre 2010 bis 2016 aus verschiedenen Ministerien.

Derzeit sind es die lukrativen Corona-Angebote, die man im Konzern gern wahrnimmt: Kurzarbeit gab es sowohl bei Schaeffler wie auch bei Continental. Am Stellenabbau hat das nichts geändert. Und selbst am Willen zur Übernahme anderer Übernehmen nicht. Der Konzern, der so geschunden ist, dass ihm der Staat unter die Arme greifen muss, ließ zeitgleich verlauten, dass man sich Zukäufe auch in der Krise vorstellen könne: „In der Krise ergeben sich jede Menge Chancen, auch für Übernahmen“, so Vorstandschef Klaus Rosenfeld.

#Bildquelle: pixabay

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Drei Tage vor Weihnachten platzte die Nachricht in die adventliche Stille. „Verzweifelte Eltern sollen mit ihren Kindern auf Feldbetten schlafen“, berichtete Bild vom Flughafen Hannover. Nach dem Auftreten einer Mutation des Coronavirus waren Einreisende aus Großbritannien im Terminal festgehalten wurden. Wie viel Leid wird diese Pandemie noch über uns bringen?, dachte ich bei mir, als ich das las. Es ist erst wenige Tage her, da wurde bekannt, dass der TV-Quiz-Moderator Jörg Pilawa wegen Corona nicht mit seiner Familie auf seine Privatinsel in Kanada reisen kann. Wohin soll das alles noch führen?

Aber jetzt mal im Ernst. Es lässt sich einiges lernen, wenn man sich näher anschaut, was die Medien, und nicht nur die Bild-Zeitung, in diesen Krisentagen für berichtenswert halten, was in Fernsehen und Radio geplaudert wird, worüber man sich auf der Straße so unterhält. Vor allem lässt sich erkennen, dass die bürgerliche Gesellschaft in dieser Pandemie ihr hässliches Gesicht zeigt. Paradox genug, dass eine Zeit, in der alle gezwungen sind, Masken zu tragen, sich als entlarvend erweist.

In neuer Deutlichkeit treten die Befindlichkeiten und Defizite vor allem der saturierten Mittel- und Oberschicht in der Krise zu Tage. Ihre ständige Nabelschau und intellektuelle Beschränktheit, die von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgeschottete Ignoranz gegenüber den Nöten anderer, die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Privilegien als quasi naturgegeben aufnehmen. Man muss nur ein wenig durch die Fernsehprogramme zappen, um Beispiele zu erleben.

Neulich, kurz vor Weihnachten beschwerten sich abgesicherte Mittelschichtler auf irgendeinem dritten Programm vor laufender Kamera, dass sie hunderte Euro für Tickets für Musicaltickets nicht gleich erstattet bekämen. Wegen der Coronakrise sind die Vorstellungen ausgefallen, nach einer Gesetzesänderung dürfen Veranstalter ihre Kunden vorläufig mit Gutscheinen vertrösten. Da saßen diese Leute also in ihren bestens möblierten Eigenheimen und klagten lauthals, als wäre es ein schwerer Schicksalsschlag, über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ein Kanal weiter wurde erörtert, voran man einen ordentlichen Wildlachs erkennt. „Die Konsistenz ist sehr schön im Biss“, führte der Experte aus. „Gerade um Alaska ist das Fischmanagement sehr verantwortungsvoll“, ergänzte die Fischereifachfrau. Auch sehr interessant!

Zum Fest schien es ansonsten kaum ein anderes Thema zu geben, als die Frage, mit wie vielen Leuten und mit wem konkret man feiern durfte. Groß lamentiert wurde nur noch darüber, dass man diesmal nicht im Restaurant schlemmen könne. Der angeblich so knallharte Lockdown, der noch zwei Tage Shopping in den übervollen Innenstädten erlaubte und so gleich noch ein Superspreader-Ereignis produzierte, erscheint vielen offenbar als gewaltige Zumutung. Das Gejaule und Gejammer ist zeitweise nicht mehr zu ertragen.

Zum Glück gibt es ja noch unsere Bundestagsabgeordnete, die zum Fest auch an das Leid jenseits der deutschen Grenzen gedacht haben. In einem herzzerreißenden „Weihnachtsappell“ haben 250 Abgeordnete aller Fraktionen außer der AfD auf die „menschenunwürdigen Bedingungen“ aufmerksam gemacht, unter denen Flüchtlinge auf den griechischen Inseln und dem Festland untergebracht sind. Sie fordern die Bundesregierung auf, mehr Flüchtlinge von dort in der BRD aufzunehmen.

Und jetzt kommt der Clou: Diesen Appell haben auch Abgeordnete der CDU und der SPD unterschrieben. Hab ich da was verpasst? Stellen diese Parteien nicht die Bundesregierung, die die katastrophale Lage in den griechischen Flüchtlingslagern mit zu verantworten hat? Mitglied der CDU ist zum Beispiel auch eine gewisse Ursula von der Leyen, ihres Zeichens EU-Kommissionspräsidentin, die sich im März bei den griechischen Grenztruppen bedankte, nachdem diese Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei mit Tränengas beschossen hatten. Griechenland, so von der Leyen damals, sei „Europas Schild“. Schiebt Euch den „Weihnachtsappell“ sonst wo rein!

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Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) und Igor Dodon von der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) ab. Beide gebaren sich als Korruptionsbekämpfer:innen und positionieren sich gegen den einflussreichen Oligarchen Vladimir „Vlad“ Plahotniuc.

Vor den Parlamentsgebäuden in der moldawischen Hauptstadt Chișinău demonstrieren hunderte von Menschen. Sie fordern die Auflösung des Parlaments und sofortige Neuwahlen. Bei der aufgebrachten Menschenmenge handelt es sich um die Anhänger:innen der am 16. November zur Präsidentin gewählten Politikerin Maia Sandu von der liberalen Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate,  PAS). Sandu gewann im zweiten Wahlgang mit 57,72, steht jedoch einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die von den Demonstrant:innen verlangten Neuwahlen sollen die Situation ändern.

Vom antioligarchischen Allianz zur Neuauflage des Kampfes um die Wahl der Anlehnungsmacht

Die Harvard-Absolventin Sandu hatte bereits vom 8. Juni bis zum 14. November 2019 das laut Verfassung entscheidende Amt des Premierministers inne, doch ihr Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica MoldovaPSRM) des bisherigen Präsidenten Igor Dodon kündigte das Bündnis auf und entzog der Regierung die Mehrheit. Zur Regierungschefin wurde Sandu damals durch die Proteste im Sommer 2019. Damals einigten sich die als pro-russisch geltende PSRM und verschiedene prowestlich-liberale Kräfte gegen die Macht des Oligarchen Vladimir (Vlad) Plahotniuc.

Obwohl seine Demokratischen Partei Moldaus (Partidul Democrat din Moldova, PDM) offiziell keine Mehrheit im Parlament besaß, kontrollierte Plahotniuc faktisch nicht nur das Parlament, sondern auch das Verfassungsgericht. In Moldawien kam Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht nie zu Stande – was von den westlichen Betreuer:innen der „Transformation“ vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft stets bemängelt wurde. Als Plahotniuc eine Wahlrechtsreform, die ihm Mehrheit sichern sollte in die Wege leitete und den Präsidenten Dodon faktisch entmachtete, kam eine Koalition von Sandus PAS und Dodons PSRM zustande. Plahotniuc musste aus dem Land fliehen, doch das im Februar 2019 gewählte Parlament blieb und dort entscheiden weniger die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen, sondern Plahotniucs Gelder.

Dodon und Sandu beschuldigten sich gegenseitig nicht nur der Korruption, sondern sprachen einander überhaupt ab, ernsthaft für die Unabhänigkeit des Landes einzustehen. Wie es in prowestlichen Kreisen Moldawiens üblich ist, bekennt sich Sandu zur rumänischen Identität und hält die „moldawische Sprache” für ein Konstrukt der sowjetischen Politik. Das ist aus der Sicht von Dodon und moldawischen „Linken” – die sich in vielen Fragen eher wertkonservativ gebähren – ein Verrat. Umgekehrt gilt das gleiche: Dodons Festhalten an sowjetischen Geschichtsnarrativen, seine Verteidigung des Moldawischen als eigenständiger Sprache, sein demonstratives Bekenntnis zur Freundschaft mit Russland gilt seinen Gegner:innen als ein sicherer Beweis dafür, dass er eine „Marionette des Kremls” ohne Sinn für Nationales sei.

Der ganze ideologische Konflikt um die richtige Auslegung des Nationalismus hat jedoch ganz materielle Demension. Denn seit der Unabhängigkeit der ehemahligen Sowjetrepublik müssen immer mehr ihre Bürger:innen ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen. Die chronische Abhängigkeit Moldawiens vom Visumsregime der EU und Russlands schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die in der EU arbeitenden Moldawier:innen stimmten geschlossen für Sandu ab. Da sie als Putz- und Servicekräfte, als Bauarbeiter:innen oder Sexworker:innen eben die Weltwährung Euro nach Hause überweisen, sind sie ein wichtiger Faktor des Politik- und Wirtschaftsleben im ärmsten Staat Europas. Dodon versuchte dagegen mit seinen Erfolgen in Verhandlungen um Kredite aus Russland zu punkten.

Die Koalition zwischen Sandu und Dodon zerfiel, als die PSRM ein Gesetz einbrachte, das vorsah, dass Supermärkte 50 % des Sortiments von den heimischen Produzent:innen beziehen müssen – ein Versuch die heimische Landwirtschaft zu retten. Denn diese leidet stark unter von Russland verhängten Einfuhrbeschränkungen. Sandu verweigerte jedoch die Zustimmung zum Gesetz mit dem Verweis auf Auflagen der EU – denn ihre Partei sieht Moldawiens Zukunft nur in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Daraufhin stimmten Dodons „Sozialisten“ zusammen mit Plahotniucs PDM ab und setzten eine Regierung der „unabhängigen Experten“ unter dem parteilosen Dodon-Berater Ion Chicu ein. Das konnte Sandu im Wahlkampf als Beweis für Dodons Verrat an den deklarierten „antioligarchischen“ Zielen ausschlachten.

Zudem war das pro-russischer Lager im Wahlkampf gespalten, Platz drei belegte mit 16, 90 % Renato Usatîi, der Bürgermeister der Stadt Bălți. Obwohl seine „Unsere Partei“ (Partidul Nostru, PN) es bei den letzten Wahlen gar nicht ins Parlament schaffte, punktete er unter der russischsprachigen Bevölkerung und unter Jugendlichen von Land mit seinen Hasstiraden auf den Westen und die Korruption. Mit Sandu eint ihn die Wut auf den „Verräter” Dodon. Sein Ruf als prorussischer Politiker wird allerdings dadurch relativiert, dass er von den russischen Behörden wegen illegalen Finanztransaktionen gesucht wird.

Sandus Vision und moldawische Realität

Die Bestandsaufnahme und das Programm der designierten Präsidentin lassen sich kurz zusammenfassen. Die Ursache aller Probleme in Moldawien sei die Korruption. Wenn man stattdessen richtig faire Konkurrenz etabliere, sich allen Anforderungen der EU und des IWF beuge, werde die Republik irgendwann das Lebensniveau der reichen europäischen Länder erreichen.

Im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitri Gordon am 12. November kündigte Sandu ihre Agenda als Präsidentin an: „das Gerichtssystem und die Staatsanwaltschaft zu säubern” und die Verteidigung der Interessen der „ehrlichen” Unternehmer:innen, die nicht länger vom oligarchenhörigen Staat drangalisiert werden sollten. „Ich werde die ernsthafte Anwältin des moldawichen Business sein!”. Nicht der eigenen Geschäftsinteressen, wie die „politische Klasse”, die sie säubern möchte, sondern eben Anwältin des Rechts auf kapitalistisches Wirtschaften an sich.

So viel guten Willen sollen die westlichen Demokratien nach ihrer Vorstellung belohnen, indem sie helfen die russischen „Friedenstruppen” aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien zum Abzug zu zwingen.

Weder die durchwachsene Erfolge dieser Strategie in anderen postsowjetischen Republiken, noch die Tatsache, dass sich die Geschäftswelt Moldawiens schlicht nicht in „böse Korrupte” und „ehrliche Unternehmer” sortieren lässt, da Kontakte zur Politik für erfolgreiches Kapitalistsein unverzichtbar sind und die Parteien häufig als Eigentum der Oligarchen fungieren, können Sandu ins Zweifeln bringen. Dass auch Plahotniuc sich zur Westintegration bekannte, während er den Staat zum Instrument seiner privatwirtschaftliche Interessen machte, erklärt Sandu schlicht damit, dass er und ihm nahestehende Politiker:innen „verlogen” seien. Wenn die erneuerten Gerichte endlich die alte politische Klasse kräftig durchsäuberten, würde im armen Moldawien auf einmal kräftig Kapital akkumuliert, so die Logik von Sandus Erneuerungsprogramm.

Ihre Gegner:innen mobilisieren gegen sie mit Ängsten vor „Lockdown-Politik” nach europäischen Vorblid, vor Verlust der Unabhängigkeit oder „westlichem Sittenverfall”. Die Abhängigkeit Moldawiens von Russland wird als Argument gegen Sandus EU-Pläne positiv gewendet.

Kampf um die Kompetenzen

Noch bevor Sandu ihr – laut der aktuellen Verfassung in Kompetenzen sowieso stark eingeschränktes – Amt als Präsidentin antreten konnte, beschloss das Parlament immer neue Gesetze, die die Macht beim Parlament selbst und der Regierung konzentriert. So soll unter anderem der Geheimdienst SIS nun nicht mehr der Staatschefin, sondern dem Parlament unterstellt werden. Zudem kann das Verfassungsgericht die Amtsführung des Präsidenten immer wieder unterbrechen. Da die Abgeordneten im moldawischen Parlament beständig die Fraktionen wechseln, war die Bedeutung der Wahlergebnisse in der Republik schon seit langem relativ klein. Sandu spricht dem Parlament, in dem nach wie vor eine Plahotniuc-hörige Mehrheit existiert, offen die Legitimität ab.

Ähnlich wie ihr ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj, der ebenfalls mit Antikorruptionsparolen an die Macht kam, stellt Sandu fest, dass die Legislative und die Judikative in ihrem Staat ein einziges Instrument der Oligarchie seien, die Abgeordente und Richter:innen fraktionsübergreifend mit Bestechung und Erperessung dazu bringt in ihrem Sinne abzustimmen. Als Mittel dagegen fällt den selbsterklärten Held:innen des Antikorruptionskampfes Sandu und Selenskyj vor allem die Stärkung der Präsidialmacht ein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Lieblingsfeind der beiden, der russische Präsident Wladimir Putin im Bezug auf sein Land und das dortigen Parlament sehr ähnliche Schlüsse gezogen.

# Titelbild: Jennifer Jacquemart, Europäische Union, 2019, Maia Sandu

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Vier Monate in Athen – so könnte eine Podcast-Folge von Reise-Bloggern heißen. Arash Dosthossein sitzt jedoch auf ungewisse Zeit in Athen fest. Deutsche Behörden lassen ihn trotz gültigem Aufenthaltsrecht in Deutschland nicht zurück reisen.

Seit acht Jahren lebt Arash Dosthossein nun schon in Deutschland. Das sind acht Jahre des Kampfes auf Anerkennung des Asylrechts, acht Jahre des Kampfes gegen Einschränkungen bei der Wahl seines Wohnortes, seiner Bewegungsfreiheit, seines Arbeitsrechtes. Unermüdlich geht er seit 2012 mit tausenden zur Flucht Gezwungenen für diese grundlegenden Rechte auf die Straße und nimmt immer wieder Repression in Kauf.

Als er sich im August 2020 entscheidet für drei Wochen nach Griechenland zu reisen, will er zur Ruhe kommen. Sonne, Meer, Strand – Frappé. Aber er will sich auch mit politischen Kontakten treffen. Seine Fiktionsbescheinigung, ein von der Ausländerbehörde ausgestelltes Ausweisdokument, erlaubt ihm das. Doch kaum ist er in Athen, wird ihm seine Geldbörse gestohlen. Mit all seinen Dokumenten. Was nun folgt, ist für deutsche Bürger:innen undenkbar. Zunächst wird ihm der Zutritt zur deutschen Botschaft verweigert. Erst als eine Person mit deutschem Pass vor der Tür der Botschaft in Athen steht, kann Dosthossein Kontakt mit der Behörde aufnehmen. Die deutsche Botschaft und die Ausländerbehörde in München verweigern ihm ein ums andere Mal die Ausstellung neuer Papiere. Woche für Woche wird er in der Ipsilantou-Straße 10 vorstellig, Woche für Woche wird ihm gesagt, dass es noch dauere und man auf die Überprüfung aus München warte.

In München heißt es wiederum, man müsse den Vorgang prüfen und wegen Corona ginge es nicht schneller. „Natürlich steckt dahinter der verlängerte Arm der deutschen Repressionsbehörden. In verwackelten Polizeivideos können mich die Behörden in Deutschland vor Gericht angeblich identifizieren. Jetzt tun sie so, als ob sie mich nicht kennen.“ , erzählt Dosthossein. Diese Hinhaltetaktik läuft nun schon vier Monate lang. In dieser Zeit hat er seine Wohnung in München und seinen Unterstützungsanspruch nach dem Sozialgesetz verloren. In Athen muss er sich eine Wohnung suchen und ist seitdem auf Spenden aus dem Bekanntenkreis angewiesen. In Griechenland kann er sich nicht anmelden. Sein Antrag auf Asyl hat Dosthossein in Deutschland gestellt, hier ist er auch zum ersten Mal auf europäischem Boden registriert worden. Deutschland ist somit nach europäischem Recht dazu verpflichtet sein Asylrecht umzusetzen.

Und wie kann es anders sein: Arash Dosthossein ist kein Einzelfall. In den Parks von Athen treffen sich Menschen mit ähnlichen Geschichten. Asylsuchende mit deutschem Aufenthaltsstatus auf Familien- oder Freund*innenbesuch oder einfach im Urlaub, ohne Papiere, weil diese geklaut oder verloren wurden. Für Monate von der deutschen Botschaft in die Warteschleife gesetzt. Eine Warteschleife, die die hart erarbeitete Existenz in Deutschland zerbrechen lässt und ein Leben auf einer Athener Parkbank bedeutet.

Wie wir ja alle spätestens seit der Finanzkrise wissen, sind es die griechischen Behörden, die inkompetent und arbeitsscheu sind – nicht die deutschen. Wie kann es also sein, dass eine deutsche Behörde innerhalb von vier Monaten daran scheitert, einen Drucker zu bedienen, einen Umschlag zu frankieren und diesen zur Post zu bringen? Greift der Fachkräftemangel schon so weit um sich? Wohl kaum. Struktureller Rassismus ist die erste Erklärung, die einem dazu einfällt. Nicht-Deutschen wird es um ein Vielfaches schwerer gemacht, ihre Rechte, für die sich der bürgerliche Staat ja weltweit verbürgt, wahrzunehmen und zu bekommen.

Es gibt zahlreiche Beispiele für Diskriminierung durch einzelne Beamte oder Angestellte, sei es beim Jobcenter, in der Verwaltung oder in der Ausländerbehörde. Die deutsche und europäische Gesetzgebung trägt hierzu ihr Übriges dazu bei. Auch wenn Rassismus nicht allein ökonomisch begründet werden kann, ist die Ökonomie des Rassismus ein Schlüssel zum Verständnis hinter solchen Vorgängen. Seit Jahrzehnten können wir in Deutschland beobachten, wie der Abbau staatlicher Infrastruktur nach und nach voranschreitet. Gerade im öffentlichen Dienst sind mehrere Millionen Stellen wegrationalisiert worden. Deutsche Ämter und damit der öffentliche Dienst sind seit Jahren chronisch unterbesetzt.

Nicht umsonst versuchten die Angestellten im öffentlichen Dienst in der diesjährigen Tarifrunde das Thema der katastrophalen Personalsituation zur Diskussion zu stellen. Aber weder die Gewerkschaftsführung noch die regierende SPD unterstützte die Kolleg:innen bei Forderungen zur Behebung des Personalmangels. Im Gegenteil: das Münchner SPD-Regierung strich direkt nach Abschluss der Verhandlungen gleich mal 1000 Stellen bei der Stadt. Die (Teil-)Privatisierung der Arbeits- und Sozialämter sowie die Austeritätspolitik der „schwarzen Null“ haben dazu geführt, dass die soziale Infrastruktur von Kommunen, Bund und Ländern einem Spardiktat unterliegt. Das wirkt sich bis an die Schreibtische der einzelnen Angestellten aus. Der Sparzwang wird umso aggressiver gegenüber Asylsuchenden und nicht-Deutschen Staatsbürger*innen durchgesetzt. Sei es durch bürokratische Diskriminierung, Lagerpflicht oder Abschiebungen.

Wenn also Arash Dosthossein seit Monaten keine Papiere erhält, die ihm zustehen, er sein Wohngeld und Sozialleistungen dadurch verliert, dann spart sich der deutsche Staat Sozialausgaben. Wenn die Münchner Stadtregierung tausende Stellen streicht, spart sie sich Gehälter, die dazu nötig wären, in Zeiten der Krise die dringend notwendige Infrastruktur aufrecht zu erhalten. Allein in München gibt es zehntausende Anträge auf Sozialwohnungen. Diese werden durch weniger Mitarbeiter*innen nicht schneller behandelt werden können. Und durch Corona droht noch mehr Menschen der Weg in die Armut. Die Verschlankung des Staates, besonders im sozialen Bereich, eröffnet der Privatisierung Tür und Tor. Es ermöglicht die Rekapitalisierung staatlicher Infrastruktur. Diese Rekapitalisierung ist für die deutsche Wirtschaft im Speziellen, für das europäische Kapital im Allgemeinen, von entscheidender Bedeutung, um im globalen Wettstreit nicht weiter an Boden zu verlieren. Für die Arbeiter:innen in Deutschland bedeutet das einen graduellen Rückschritt in die Zeiten vor den Revolutionen des 20. Jahrhunderts.

Der Fall von Arash Dosthossein kann daher nicht als Einzelfall betrachtet werden, sondern muss im Gesamtkontext der derzeitigen Entwicklung verstanden werden. Um der generellen Entwicklung etwas entgegen zu setzen, braucht es strategische Diskussionen. Die Unterstützung und die Politisierung der Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, sei es beim Nahverkehr, in den Krankenhäusern oder an den Universitäten, stellt dabei einen zentralen Punkt dar. Ein Kampf für mehr Personal und gegen Privatisierungen kann zu einem Kampf gegen Rassismus und Sozialabbau werden. Die aktuelle Situation von Arash Dosthossein verlangt aber auch nach kurzfristiger Unterstützung: die Kampagne „Grenzenlose Solidarität mit Arash“ hat daher zu Spenden aufgerufen. Unter folgendem Link kann man ihn unterstützen:

Grenzenlose Solidarität mit Arash | betterplace.me
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Vier Wochen lang belagerten die Cops die Felder und den Wald um das Dorf Dannenrod, bis sie die Schneise für die zukünftige Autobahn A49 gerodet hatten. Bisweilen schaffte es die hessische Polizei dabei, mehrere Aktivist_innen pro Woche mit teilweise schweren Verletzungen ins Krankenhaus zu befördern. Drum herum: Viele leichte Verletzungen, unnötige Schmerzgriffe, Tasereinsätze in mehr als 20 Meter Höhe, unzählige Angriffe auf die Pressefreiheit, willkürliche Festnahme einer Sanitäterin inklusive Brechen ihres Armes – das wäre unter anderen Umständen übrigens ein Kriegsverbrechen – durch die Beamt_innen, eine kirchliche Beobachterin wird ohne ersichtlichen Anlass von einer BFE angegriffen, ständig werden Bäume nur wenige Meter neben besetzten Traversen gefällt und so die Besetzenden in Lebensgefahr gebracht. Bei Protestaktionen werden Teilnehmende und Journalist_innen von Einsatzkräften massiv beleidigt, auch lachend geschlagen und zu Boden geworfen. Einem Menschen auf einem Tripod wird “Wenn du fällst, bist du selber Schuld!”, zugerufen, während das Kletter-SEK sich am Sicherungsseil zu schaffen macht. Ein paar Tage zuvor spielten bereits einige BFEler mit einer Säge an einer anderen nur wenige Meter entfernten Tripodsicherung herum. Die Liste ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen, und neben den Vorgängen im Wald selbst dürfen auch die Folterbedingungen, unter denen Unterstützende in der Untersuchungshaft festgehalten wurden und werden, nicht unerwähnt bleiben.

Exakt das, was von den hochmilitarisierten Riotcops dieses Staates zu erwarten ist? Ja klar, auch. Aber bei aller Desillusioniertheit über das alltägliche Verhalten der Staatsgewalt sollte nicht ausgeblendet werden, dass so etwas nicht nur passiert, weil die Funktion “Polizist_in” logischerweise von Waffengewalt nicht abgeneigten Menschen ausgeführt wird, sondern es sich insbesondere im Rahmen einer solchen Großprotestaktion um eine bewusste Brutalitätsstrategie handelt.

Die Verstöße der Polizist_innen gegen Versammlungs- und Presserechte sowie simpelste Grundlagen zwischenmenschlicher Ethik wurden vielfach dokumentiert und veröffentlicht. Dass die Einsatzleitung nicht davon weiß, welche ihrer Einheiten wann wo wie eskaliert hat, kann getrost ausgeschlossen werden. Des Weiteren fanden in den Wochen der Räumung mehrmals deutlich beobachtbare Wechsel des Aggressionslevels der eingesetzten Beamt_innen statt. So agierten sie beispielsweise in den ersten Tagen oder auch der ersten Dezemberwoche der Räumungs- und Rodungsarbeiten – also in Zeiträumen mit viel Aufmerksamkeit durch Tagespresse und sonstige Öffentlichkeit – spürbar vorsichtiger, kommunikativer und weit weniger eskalativ als in der Zeit zwischen diesen Punkten, vor allem in der Hauptphase des Einsatzes Ende November.

Da passierte dann der überwiegende Teil der oben beschriebenen Polizeibrutalität. Auch kamen dort vermehrt die für ihr besonders gewalttätiges Verhalten bekannten BFEs 38, 58 und 68 zum Einsatz und machten ihrem Ruf alle Ehre. Dem bekannten Demospruch entsprechend zogen sie wie gut ausgestattete Hooligans durch den Wald, zerschlugen auf dem Boden zurückgelassene Strukturen von Sitzmöglichkeit bis Pizzaofen, lauerten in der Nacht umherlaufenden Personen auf und pfeffersprayten aus etwas kindergartenhafter Bosheit heraus das Klopapier. Gegen Ende der Räumung sieht man diese Einheiten kaum noch, und auch sonst schlagen die Cops einen weit weniger aggressiven Ton gegenüber Aktivist_innen und Unterstützenden an. Offensichtlich war es also möglich, das Verhalten der Polizeitruppen zu regulieren, und folglich muss die wochenlange Inkaufnahme von teils Menschenleben gefährdenden Grausamkeiten durch die Einsatzkräfte als strategisches Mittel der Einsatzplanung gelesen werden.

Ziel von solchen durch nichts zu rechtfertigenden Brutalitätsaktionen ist es, Menschen durch Angst mundtot zu machen; das zeigt ein Blick auf die Geschichte jeder beliebigen linken Bewegung. Für eine solche Strategie findet die Polizei hier im Wald das perfekte Kampffeld, denn er stellt einen von der Öffentlichkeit praktisch komplett abgeschirmten Raum dar. Zu groß ist das Konfliktgebiet, zu langsam der Informationsfluss, um auch mit doppelt und dreifach so viel Presse jeden Vorfall adäquat dokumentieren zu können.

Die Cops wissen um solche öffentlichkeitsfernen Räume und setzen sie als strategisches Mittel ein, um mit möglichst weitreichender Willkür agieren zu können. Das trifft auf den Wald genauso zu wie auf den Bus, der regelmäßig Aktivist_innen zu Mahnwachen und Demonstrationen fuhr. Letzterer konnte keine Tour machen, ohne begründungslos aus dem Verkehr gezogen zu werden. Aber in einem Bus gibt es halt keine neugierigen Zuschauenden, die die Polizei bei ihrem Verhalten kontrollieren könnten – und im Wald auch nicht. Dort schufen sie sich diese Situation, indem sie die Presse von den Orten des Geschehens so weit weghielten, dass Beobachtung der Ereignisse im Detail unmöglich war. Zeitweise war es praktisch unmöglich, sich ohne polizeiliche Pressebegleitung durch den Wald zu bewegen – betreutes Berichten sozusagen.

Und so konstruierten sich die Cops Räume, in denen sie unbeobachtet und konsequenzbefreit Protestierende als “Stück Scheiße” bezeichnen konnten, während sie deren Leben durch mindestens bewusst fahrlässiges Verhalten gefährdeten. Solche verbale, physische und psychische Brutalität ist die Produktion einer Botschaft an die Menschen im Wald, ihre potentiellen Unterstützer_innen und allzu kritische Beobachter_innen/Journalist_innen: Die Cops können euch antun, was sie wollen; niemand wird sie aufhalten oder auch nur sehen; und auch ihr seid mögliches Ziel für die nächste Ladung Pfefferspray, den nächsten Schlagstockhieb oder die nächste Entführung in die GeSa. Am Ende bleiben die verstreuten Berichte der Betroffenen, vereinzelte Pressebilder und das diffuse Wissen aller, sich durch die von jedweder Negativkonsequenz für ihr Handeln befreiten Einsatzkräfte in dauerhafter, latenter Gefahr für Leben und Freiheit zu befinden.

Natürlich steht solches Verhalten im kompletten Bruch zum von der Propagandaabteilung der Polizei verbreiteten Erzählung eines besonnen, rücksichtsvoll, transparent-kommunikativ ausgeführten Einsatzes. Während sie in Pressekonferenzen innerhalb der Besetzung zum running-gag gewordene Sprüche wie “Sicherheit vor Schnelligkeit” vom Stapel ließen, gaben sich ihre Truppen an der tatsächlichen Frontlinie betont menschenverachtend und aggressiv. Wichtiger: Diese Strategie der eskalativen Grausamkeit folgte auf eine ausnehmend friedliche, kommunikative und für die Polizei ungefährliche Besetzung. Das grundlegende Kampfmittel der Aktivist_innen war das Besetzen von Bäumen und verschiedener Strukturen, die zwar mit einigem Aufwand, aber eben ohne Gefährdung für die ausführenden Cops geräumt werden mussten, bevor die Rodung fortgesetzt werden konnte. Jedes relevante Seil war markiert, und auch der dümmlichsten BFE dürfte klar sein, dass Leute, die in ihrem Baumhaus sitzend ohne Fluchtmöglichkeit auf die Räumung warten, aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gehwegplatten herunterwerfen werden. Die Cops hätten ohne Probleme so agieren können, wie sie es so gerne über ihren Twitter-Account behaupten, und hätten ihr Einsatzziel dennoch erreicht. Sieht man sich aber ihr tatsächliches Verhalten an, sollte man meinen, tagtäglich würden Polizist_innen von Scharfschützenfeuer niedergestreckt, Wasserwerfer von panzerbrechender Munition zerlegt und ihr Logistikzentrum mit Raketen beschossen. Kurzer Realitätsabgleich: Die einzigen ernstzunehmenden Verletzungen gab es auf aktivistischer Seite und es war die Staatsgewalt, die nachts durch den Wald rannte und Jagd auf Menschen machte. Diese Dissonanz zwischen den tatsächlichen Einsatzbedingungen und dem Verhalten der Einsatzkräfte bestätigt die These von oben: Die Eskalationsstrategie ist bewusst; the cruelty is the point.

Diese unberechenbare Brutalität gegen die Menschen im Wald spiegelte auch das Vorgehen bei der Rodung der geplanten Autobahnschneise insgesamt: Auf der einen Seite wurden Aktivist_innen mit körperlicher und physischer Gewalt sowie hanebüchenen Straftatvorwürfen ausgebrannt, auf der anderen Seite wurde in den ersten Wochen des Einsatzes oft an drei Fronten gleichzeitig agiert, um Widerstand durch Überlastung zu unterbinden. Und bedauerlicherweise muss eingestanden werden, dass diese Strategie aufging: Schneller, als die meisten gedacht hätten, fraßen sich die Maschinen von Norden und Süden durch den Dannenröder Wald, zerrissen Baumhaus um Baumhaus und zerstörten in einigen Wochen, was in mehr als einem Jahr aufgebaut wurde. Was bleibt, ist ein riesiger Erfahrungsschatz, den vor allem ein großer Teil der Fridays-for-Future-Aktivist_innengeneration in dieser Schlacht um den Dannenröder Forst sammeln konnte. Und es wurde gezeigt, dass weder die eingespielten noch die neuen Aktivist_innen sich von der Kälte des Winters und einer Polizeiarmee, die bereitwillig ihre Leben bedroht, vom Kämpfen gegen die Klimakatastrophe und für eine lebenswerte Zukunft abbringen lassen werden. Man darf davon ausgehen, dass sie angemessene Antworten auf die alltäglichen Grausamkeiten der Staatsgewalt finden werden.

# Titelbild: Channoh Peepovicz, Wasserwerfereinsatz hinter Stacheldraht im Danni

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Philippinische Frauen schließen sich den Reihen der NPA-Guerilla gegen die Duterte-Diktatur an. Ich hatte die Gelegenheit, mit zwei von ihnen zu sprechen. Hören Sie hier ihre Geschichte.

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land der Dritten Welt, zum Beispiel auf den Philippinen. Gewalt ist allgegenwärtig, die Regierung ist bis ins Mark verfault und Ihre Identität als Frau wird traditionell unterdrückt. Ihre Situation sieht nicht gut aus. Fragen Sie sich, wie Sie die Armut in einem System überwinden können, das Sie im Stich lässt? Wie bekämpft man einen faschistischen Macho-Diktator, der Aktivistinnen als „Hündinnen“ betrachtet? Die Frauen auf den Philippinen fanden ihre Antwort in einer umfassenden Rebellion gegen ihren alltäglichen Feind.

Der Diktator Rodrigo Duterte ist die Verkörperung eines Machos. In einer Rede sagte er: „Es gibt einen neuen Befehl des Bürgermeisters: ‘Wir werden dich nicht töten. Wir werden dich einfach in die Vagina schießen.’“ Er fuhr fort, dass Frauen ohne ihre Vagina „nutzlos“ wären. Es gibt unzählige Beispiele für diese Art von Verhalten. Aber es gibt auch Tausende und Abertausende Beispiele von Frauen, die sich der Guerilla-Bewegung „New Peoples Army” (NPA) anschließen, um diesen Zustand zu beenden.

Die NPA ist der bewaffnete Flügel der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP). Die Organisation ist auf den Philippinen, in den USA und in der EU verboten. In einer Erklärung behauptet sie: „Die NPA wird von Zehntausenden von Männern und Frauen in der Volksmiliz und Hunderttausenden in Selbstverteidigungseinheiten der Massenorganisationen unterstützt. Sie ist an mehr als 110 Guerilla-Fronten tätig.“

Frauen nehmen in der Guerilla einen ganz besonderen Platz ein. Eine große Anzahl von Kombattant:innen sind weiblich. Ich sprach mit zwei jungen weiblichen NPA-Kadern, Ka Mimi und Jellyn, beide 23 Jahre alt, um ihre Situation in einer Gesellschaft zu verstehen, die Frauen gegenüber so feindlich eingestellt ist, dass sie in einem bewaffneten Aufstand dagegen einen Ausweg suchen.

Hallo! Bitte stellt euch doch zu Beginn ein wenig vor.

Ka Mimi: Als ich 20 Jahre alt war, trat ich der New People’s Army bei. Ich bin bereits seit 3 Jahren Guerillera, seit ich 2017 eingetreten bin. Ich wurde von einer ehemaligen Guerilla-Frau namens Ka Maxin empfohlen, die als Kontaktperson zu der Einheit diente, der ich beigetreten bin.

Bevor ich mich dem bewaffneten Kampf anschloss, war ich bereits mit der revolutionären Bewegung vertraut. Meine Schwiegermutter ist eine ehemalige Guerilla-Kämpferin, die jetzt als lokaler Parteikader in unserer Gemeinde dient. Ich folgte der Einladung von Ka Maxin, mich in die NPAs zu integrieren und ihren Kampf kennenzulernen. Ich stimmte zu, eine Woche in der Einheit zu bleiben, entschied mich aber später, das auf Wochen, Monate und letztlich Jahre auszudehnen. Ich habe kürzlich in der 2. Oktoberwoche einen Kameraden geheiratet, nachdem ich drei Jahre im Kampf geblieben war.

Ich habe die Einladung, der NPA beizutreten, auch wegen meiner Bestürzung gegenüber meinem missbräuchlichen Ex-Partner angenommen. Mein Partner hat mich mit anderen Frauen betrogen. Als ich ihn konfrontierte, würgte er mich und versetzte mit mit einem defekten Stromkabel einen elektrischen Schlag. Ich beendete die Beziehung und zog danach aus dem Haus.

Ich beschloss, in der Einheit zu bleiben und eine Vollzeit-Guerillera zu werden. Meine Entscheidung war kein Heureka-Moment, sondern ein Produkt von Widersprüchen und Spannungen von Erleuchtung und Verwirrung.

Jellyn: Ich bin Jellyn, eine Manobo (Lumad / Mitglied einer nationalen Minderheit, Anm. d. Red), 23 Jahre alt. Ich bin im November 2014 dazugekommen. Mein Mann (Maki, ebenfalls ein Manobo) trat zuerst ein und nach einem Jahr überzeugte er mich, ihn zu besuchen und sein Leben zu erleben.

Als ich noch kein Mitglied war, hatte ich zunächst kein Verständnis für die Revolution. Erst als ich mich anschloss, wurde mir klar, dass uns die Regierung unsere Rechte und Grundversorgung nicht gewährt hat. Erst dann verstand ich, wie Frauen und Lumaden ausgebeutet und unterdrückt wurden. Deshalb habe ich mich nach einem Jahr entschieden, Vollzeit zu arbeiten.

Was habt ihr gemacht, bevor ihr zur Guerilla gekommen seid? Welche Position habt ihr in der NPA?

Ka Mimi: Ich wurde in eine Familie von Bauern geboren, bin aber in einer Stadt aufgewachsen und habe nie Landwirtschaft erlebt. Ich bin das einzige Mädchen unter meinen 5 Geschwistern. Ich wurde im Alter von 14 Jahren schwanger und hatte eine Tochter. Der Vater meiner Tochter verließ mich nach der Schwangerschaft und leistete keine Unterstützung für das Kind.

Im Alter von 18 Jahren arbeitete ich als Vertragsarbeiterin eines multinationalen Agrobusiness-Konzerns, der Palmöl verarbeitet. Ich arbeitete als Wäscherin und wusch Arbeiteruniformen. Nach dem Vertrag arbeitete ich als Packerin für eine Junk-Food-Firma, die einem philippinischen Bourgeois gehörte. Ich arbeitete von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends und erhielt einen dürftigen Tageslohn von 180 Peso. Unsere männlichen Kollegen erhielten 280 Pesos. Ich habe bei der Arbeit unfaire Arbeitsbedingungen erlebt. Wir durften nicht sitzen, nur eine 30-minütige Mittagspause und begrenzte Toilettenpausen einlegen. Wir hatten unter anderem keine angemessenen Gesundheitsschutz.

Da mein Lohn nicht ausreichte, um über die Runden zu kommen, wurde ich gezwungen, mich an anderen Aktivitäten zu beteiligen, um ein wenig mehr zu verdienen, ohne meine Eltern zu informieren. Ich arbeitete in einer Bar und wurde eine Prostituierte. Ich habe auch kleine Drogengeschäfte gemacht, um Milch für mein Kind kaufen zu können.

Derzeit bin ich als Zugärztin tätig. Wir errichten Massenkliniken und bieten Bauern und Lumaden kostenlose medizinische Dienstleistungen an. Dies umfasst zahnärztliche Leistungen, Beschneidung und einfache chirurgische Operationen. Im Zuge der Pandemie nahm ich an mehreren medizinischen Missionen und Informationsverbreitungskampagnen teil. In der NPA wird uns beigebracht, wie man einheimische Gesundheitspraktiken praktiziert und pflanzliche Arzneimittel als Alternative zu teuren kommerziellen Arzneimitteln einsetzt.

Gleichzeitig bin ich auch als politische Führerin in der Guerilla-Einheit tätig. Ich nehme an der Massenarbeit teil, um die Bevölkerung zu organisieren und zu mobilisieren. Wir helfen den Massen beim Aufbau ihrer Organisationen, bei der Durchführung von Bildungsdiskussionen und bei der Lösung interner Konflikte.

Ich glaube, ich konnte mein Selbstwertgefühl wieder herstellen, als ich Guerilla wurde. Früher hielt ich mich für schmutzig, für eine Sünderin und als Schlampe. Als kommunistische Guerilla zu dienen, gab meinem Leben einen neuen Sinn und eine neue Richtung, ein Leben nicht nur für mich selbst, sondern für das kollektive Wohl.

Jellyn: Bevor ich mich einschrieb, half ich meinen Eltern bei der Hausarbeit und bei der Ernte von Süßkartoffeln. Ich hatte noch keine Menstruation, als meine Eltern meine Ehe mit meinem Mann arrangierten. Ich war minderjährig, als ich schwanger wurde, und unser erstes Baby starb, weil mein Körper nicht bereit war, schwanger zu werden, weil ich zu jung war und es in meiner Gegend keine Gesundheitsdienste gab.

In der Volksarmee war ich Versorgungsoffizierin, dann wurde ich politische Ausbilderin des Alpha-Zuges.

Wie kann man sich das tägliche Leben in der NPA vorstellen?

Ka Mimi: Das tägliche Leben in der NPA beinhaltet eine Menge Arbeit, die von militärischen, politischen, produktiven bis zu technischen Aktivitäten reicht. Die Einheit plant ihre täglichen Aktivitäten gemäß ihren kurzfristigen und langfristigen Plänen.

In Bezug auf die militärische Arbeit gewährleistet das Kommando die Sicherheit der Einheit. Es setzt Teams für Aufklärung und Vermessung ein, überwacht Nachrichtennetze und so weiter. Wenn es die Situation zulässt, führt die Einheit gestaffelte militärische Trainings, Hindernisläufe und körperliche Übungen durch.

Die politische Arbeit ist in zwei interne und externe Felder unterteilt. Interne politische Arbeit beinhaltet ideologisches Training, Bildungsdiskussionen, Bewertungen und Konfliktlösung, Alphabetisierung und Rechnen für Genoss:innen, die nicht in der Lage waren, zur Schule zu gehen. Externe politische Arbeit umfasst die Organisation, Durchführung sozialer Ermittlungen und die Planung von Massenkampagnen.

Guerillas helfen auch den Bauern bei der wirtschaftlichen Produktion. Dazu gehören unter anderem manuelle landwirtschaftliche Arbeiten, die Durchführung von Seminaren und Diskussionen zur Förderung des ökologischen Landbaus und des kollektiven Landbaus.

Die technische Aufgabe umfasst die täglichen Aufgaben im Camp wie Kochen, Wasser holen und Brennholz sammeln. Diese Aufgaben werden von allen Guerillas im Zug sichergestellt. Ich übernehme oft politische und technische Aufgaben im Rahmen meiner täglichen Aktivitäten.

Jellyn: Es gibt Zeiten, in denen es schwierig ist, es gibt Opfer, wie das Marschieren, wenn es heiß ist und nachts regnet. Es gibt aber auch Zeiten, in denen wir Studien über Politik und militärische Arbeit durchführen und unsere ideologische Einheit stärken können. Es gibt auch Zeitangaben für Massenarbeiten. Im Allgemeinen werden tägliche Aufgaben gemeinsam entschieden und wir führen sie aus, indem wir uns gegenseitig helfen.

Was unterscheidet Euren Alltag in der Guerilla von dem der Männer?

Ka Mimi: Es ist anders, aber in vielerlei Hinsicht ähnlich. Zum Beispiel gibt es immer noch Vorurteile gegenüber Frauen in Bezug auf die militärische Tätigkeit, mit denen Guerilleras im Inneren zu kämpfen haben. Die meisten militärischen Aufgaben – Aufklärung, Vermessung und taktische Offensiven – werden hauptsächlich männlichen Kämpfern zugewiesen. Frauen bestehen darauf, dass sie die Arbeit auch erledigen können, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Die Kommunistische Partei der Philippinen kämpft seit langem für die Emanzipation von Frauen, und die Genossen versuchen ihr Bestes, um Vorurteile gegenüber Frauen abzubauen. Während die Partei einen langen Weg für den Kampf der Frauen zurückgelegt hat, müssen sich Frauen in Bezug auf die militärische Arbeit immer noch doppelt so hart beweisen.

Alle anderen technischen Aufgaben (Kochen, Wasser holen, Brennholz sammeln) werden von Männern und Frauen geteilt.

Jellyn: Meiner Meinung nach haben Männer und Frauen die gleichen Aufgaben. Draußen werden Männer und Frauen unterschiedlich betrachtet, aber hier werden sie als gleichberechtigt angesehen.

Eine der größten Guerilla-Organisationen ist die kurdische YPJ mit 26.000 weiblichen Kadern. Sie stellt reine Fraueneinheiten auf. Warum sind bei euch die Einheiten gemischt?

Ka Mimi: Weil wir als Kollektiv agieren und weil Männer und Frauen gleichermaßen unterdrückt werden. Männer, Frauen und LGTB sind in einer Einheit integriert, genauso wie Genoss:innen aus verschiedenen Klassen, darunter Bauern und Bäuerinnen, Arbeiter:innen und Kleinbürger:innen, vereint sind. Wenn wir die Frauen von den Männern trennen, wie können die Männer dann etwas über die Probleme und den Kampf der Frauen lernen?

Letzten Monat haben wir eine Frauenkonferenz durchgeführt, auf der alle Guerilla-Frauen ihre Erfahrungen und Kämpfe austauschten. Wir haben etwas über die Befreiungsbewegung der Frauen und unsere Rolle in der Revolution gelernt. Wir haben das Wissen, das wir auf dem Kongress gelernt haben, an unsere männlichen Kameraden weitergegeben. Wir erkennen die verschiedenen Ebenen der Unterdrückung und insbesondere die Unterdrückung von Frauen. Aber wir in der NPA sind als Einheit in einen Kampf gegen einen gemeinsamen Unterdrücker integriert.

Jellyn: Vielleicht können wir so Erfahrungen von allen sammeln. Damit wir die Eigenschaften des anderen kennen und verschiedene Klassen und Schichten sich kennen.

Wie war Eure erste Kampferfahrung? Hattet ihr Angst vor dem Tod?

Ka Mimi: Ich habe noch keine tatsächliche bewaffnete Auseinandersetzung miterlebt. Die dem am nächsten kommende Erfahrung, die ich gemacht habe, war, als feindliche Truppen uns so nahe kamen, dass wir sie auf einem angrenzenden Hügel sahen. Unsere Einheit konnte den Feind ausmanövrieren, aber ich war damals so nervös. Ich sagte mir, ich sollte nur dem Befehl vertrauen. Ich habe gelernt, die Angst vor dem Tod in der Revolution zu verinnerlichen und zu überwinden und sie als Realität im Krieg zu betrachten. Wir sind nicht ohne Angst, aber wir fühlen uns mutiger, weil wir nicht allein sind. Wir haben Kameraden:innen bei uns.

Jellyn: Bei mir war es ein Hinterhalt im November 2018. Dies war eine Reaktion auf die Forderung der Region nach koordinierten taktischen Offensiven. Etwa eine Stunde dauerte der Schusswechsel, dann zogen wir uns zurück. 17 Elemente des 66. Infanteriebataillons der philippinischen Streitkräfte wurden getötet. Wir hatten aber auch einen Gefallenen. Aber ich hatte keine Angst, meine Haltung blieb fest. Ich verstehe, dass dies Teil unserer Opfer ist, um den Sieg zu erringen.

Wie sehen Euch Frauen außerhalb der NPA?

Ka Mimi: Sie fragen mich immer, ob ich das Guerilla-Leben mit schweren Lasten und langen Strecken ertragen kann. Sie fragen mich immer, ob mein Gewehr zu schwer für mich ist und ob ich mit meinem riesigen Körper wirklich richtig laufen kann. Ich denke, sie sind erstaunt, Frauen zu sehen, die die Nöte und Opfer ertragen und ihre Söhne und Töchter für eine größere Sache zurücklassen.

Jellyn: Es gibt Respekt, Vertrauen und Zuversicht. Sie ermutigen mich, sagen mir, ich solle in Sicherheit sein, mich nicht erwischen lassen usw.

Habt ihr noch eine Botschaft für unsere Leser:innen?

Ka Mimi: Ich denke, Frauen müssen an der Revolution teilnehmen. Wir können die Unterdrückung von Frauen nicht beenden, wenn wir nicht alle Formen der Unterdrückung in Klasse, ethnischer Zugehörigkeit und Rasse beenden können. Deshalb müssen wir uns Hand in Hand mit anderen Sektoren der Gesellschaft wie den indigenen Völkern, Arbeitern, Fischern, Bauern und anderen zusammenschließen.

Jellyn: Als Frau draußen wurde ich von der Regierung vernachlässigt. Aber in der Guerilla werde ich respektiert. Und ich danke der Partei und der Armee, dass sie mich geweckt haben.

# Titelbild: Photo from Communist Party of the Philippines

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„Corona? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ Diese Umdichtung von Tucholskys „Französischem Witz“ fasst die Attitüde der Bundesregierung zur Coronakrise ganz treffend zusammen. Die bis jetzt mehr als 24.000 Toten allein in Deutschland waren ein einkalkuliertes Opfer, das zu bringen war, um die kapitalistische Wirtschaft am Laufen zu halten.

Von wegen Gesundheitsschutz

Die öffentlichen Erklärungen sind selbstverständlich andere: „Wir sind zum Handeln gezwungen“, so Angela Merkel (CDU) nachdem vergangenen Freitag mehr als 600 Menschen an einem Tag an Corona gestorben waren. „Letztendlich bleibt der Maßstab der Gesundheitsschutz“, so Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Wirklich? Die Toten der Wochen davor waren kein Grund zu Handeln? Oder die Warnungen von verschiedensten Wissenschaftler:innen der letzten Monate?

Die unerträglichen Folgen dieser Politik zeigen sich nicht nur in den Todeszahlen, die unter ferner liefen den Grundton der täglichen Berichterstattung bilden. Vor allem die Gesundheitsarbeiter:innen, die nach Jahrzehnten neoliberaler Austeritäts- und Privatisierungspolitik sowieso schon unter katastrophalen Arbeitsbedingungen zu leiden hatten, tragen die Folgen der Krise. Beschäftigte in Pflegeheimen und Krankenhäusern haben ein sieben Mal höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Ihre Hilfeschreie sind wohl unter dem Lärm des ganzen Applauses untergegangen.

Der Gesundheitsschutz war während der ganzen Pandemie nur nachrangig, das wichtigste war und ist, dass möglichst viele Menschen weiter arbeiten gehen und die irre Selbstmordsekte Kapitalismus am Laufen halten. Allein die Ausrichtung der Maßnahmen nach der verfügbaren Zahl der Intensivbetten kalkulierte das massenhafte Sterben von Menschen mit ein. Aber auch im seit gestern geltenden „harten Lockdown“ zeigt sich diese Menschenverachtung: Ausgangssperren in Sachsen und Baden-Württemberg, Aufenthalts- und Versammlungsverbote bundesweit, private Treffen sind auf ein Minimum zu reduzieren. Der einzige Bereich der nicht reguliert wird: der Arbeitsplatz, wo wir die Profite für die Kapitalist:innen erschuften. Und während einfach immer weitergearbeitet werden soll, schließen Kitas und Schulen. Eltern (vor allem Frauen*) sollen dann alles gleichzeitig machen: Arbeiten gehen, Kinder betreuen, den Haushalt schmeißen und dabei natürlich nicht das Konsumieren vergessen – online bei amazon versteht sich. Unternehmer:innen hingegen werden lediglich nett gebeten, Betriebsferien auszurufen oder Homeoffice zu ermöglichen, während der Rest des gesellschaftlichen Lebens von der Polizei kontrolliert und Zuwiderhandlungen hart sanktioniert werden. Die Frage, ob man sich nicht auch am Arbeitsplatz mit der tödlichen Seuche anstecken kann, stellt dabei niemand.

Gleichzeitig steigen die Vermögen trotz Corona-Krise weiter , haben 40 Prozent der Bevölkerung Einkommenseinbußen, von den geschätzt 500.000 sowieso illegalisierten in Deutschland ganz zu schweigen. Während Arbeiter:innen in Kurzarbeit gehen, schütten sich die Aktionäre großzügig Dividenden aus – dieses Jahr voraussichtlich über 37 Milliarden Euro allein aus DAX-Unternehmen. Und die so gebeutelten Unternehmer:innen können Hilfen von läppischen 500.000 € pro Unternehmen und Monat klar machen. Für den Rest bleibt Hartz IV. Alles zum Wohle „der Wirtschaft“ – oder anders formuliert: der besitzenden Klasse.

Die Schuldfrage

Diese zynische Politk des Sterbenlassens kann natürlich nicht eingestanden werden. Deswegen wird, wie beim Klimaschutz, die Verantwortung für die grassierende Epidemie ins private verlagert. Wenn die Frage im Raum steht, wer an der fortlaufenden Verbreitung des Virus Schuld hat, ist der anklagende Zeigefinger schnell ausgestreckt: Die jungen, rücksichtlosen Leute, die feiern wollen; die Demonstrant:innen auf den Black Lives Matter Demonstrationen; die arabischen Großfamilien in Neukölln und ihre ach so großen Hochzeiten; die Gastronomie; und jetzt, ganz aktuell, die unverfrorenen Glühweintrinker:innen. Oder wie es im WDR heißt: “Die Menschen haben sich nicht genügend an die Appelle von Politik und Wissenschaft gehalten.”

Im neoliberal verstellten Blick auf die Welt werden gesellschaftliche Zusammenhänge, wie der Zwang zur Arbeit, der Zwang sich den mörderischen Vorgaben in Betrieben zu beugen weder erkannt noch thematisiert. Statt den staatlich orchestrierten Zerfall der Sozialstrukturen zugunsten der Profitmaximierung in den Blick zu nehmen, wird die Schuld den Einzelnen in die Schuhe geschoben. Soll heißen: Schuld an der Misere haben weder die Regierung, noch die viel zu engen Arbeitsbedingungen, zum Beispiel in den Fleischfabriken, sondern die Arbeiter:innen, die sich erdreisten, nach der Maloche dort noch ihre Oma zu besuchen. Dieser Blick auf die vermeintlichen Ursachen der Pandemie kennt dann eben auch nur die neoliberale, vereinzelnde Antwort, die wir jetzt gerade sehen: Zuckerbrot für die Kapitalist:innen, die autoritäre Peitsche für den Rest. Neoliberale Ideologie und staatlicher Autoritarismus gehen schließlich gerne auch mal Hand in Hand.

Die Coronakrise offenbart einmal mehr, wie verkommen und menschenfeindlich dieses Gesellschaftsmodell ist. Die Maschine muss weiterlaufen und weiter Profite aus den Arbeiter:innen pressen, im Krankenhaus, am Band, im Einzelhandel; dafür sind ein paar Coronatote schon ok. Und wenn‘s dann gar nicht mehr geht, werden eben die Büttel des Staates auf die Leute losgelassen – it‘s the economy, stupid.

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmet sich der Familie Quandt/Klatten.

Im Forbes-Rating der reichsten Deutschen belegt Stefan Quandt mit 18,1 Millarden US-Dollar Platz 7, seine Schwester Susanne Klatten ist mit 24,2 Milliarden US-Dollar auf Platz 3. Beide stammen aus einem alten Geschlecht des deutschen Geldadels und wenn man sich die Frage stellt, wie jemand so reich wird, muss man in der Geschichte ein klein wenig zurückschauen. Denn Stefan Quandt und Susanne Klatten sind schon reich geboren. Also ist die nächstliegende Frage: Wie sind beider Eltern, Herbert und Johanna Quandt, so reich geworden? Das Ergebnis ist ähnlich, auch die beiden kamen schon wohlhabend zur Welt. Eine Generation vorher, also bei Herbert Quandts Vater Günther sind wir immer noch nicht am Ziel, weil der war auch schon Fabrikantensohn, und zwar von einem gewissen Emil Quandt.

Geld machen im Ersten Weltkrieg

Und mit Emil Quandt können wir jetzt beginnen. Denn Emil war nicht immer reich, sondern arbeitete zunächst in der Pritzwalker Tuchfabrik der Gebrüder Draeger, bis er die Fabrikantentocher Hedwig Draeger ehelichte und so in die Lage versetzt wurde, 1883 seinerseits den Laden zu übernehmen. Produziert wurde schon vor dem 1. Weltkrieg fürs Militär, bis zur Jahrhundertwende wuchs der Betrieb. Emil Quandt lernte früh seinen Sohn Günther an und gab ihm die Werte eines Kapitalisten der Jahrhundertwende mit: „Der Junge erlebte das Unternehmen mit seiner strengen Hierarchie aus Arbeitern, Vorarbeitern und Meistern. Über allem thronte der Vater, ein großer, früh ergrauter Mann mit mächtigem, nach oben gezwirbeltem Schnauzbart“, schreibt der (leider gelegentlich sehr beschönigende) Chronist der Dynastie, Rüdiger Jungbluth, in seinem Buch „Die Quandts. Deutschlands erfolgreichste Unternehmerfamilie“.

Günther übernimmt Vaters Fabriken und expandiert. In einer Zeit der beschleunigten Monopolisierungstendenzen des Kapitalismus setzt er sich an die Spitze eines Kartells deutscher Tuchfabrikanten. Und dann kommt die Chance: Das große Schlachten und Sterben des 1. Weltkriegs beginnt. Nicht dass man den Krieg nicht ins Geldmachen eingerechnet hatte: „Für alle drei Fabriken lagen schon seit Jahren Pläne für den Fall der Mobilmachung bereit. Wurden bisher etwa 400 Uniformen in der Woche gefertigt, stieg deren Zahl nun in kurzer Zeit auf das Vierfache. Die Werke waren bald voll ausgelastet“, schreibt Jungbluth.

Krieg ist Sterben fürs Proletariat und eine Feier des Profits für Leute wie die Quandts. Also ging´s auf den Leichenbergen von Verdun steil nach oben. Günther Quandt selber ist natürlich, wie konnte es anders sein, ausgemustert, muss selber nirgends seinen Kragen riskieren. Er verdient und verdient. Irgendwann aber endet der Krieg und viele Proleten haben es satt. Es kommt die Zeit, in der auch Deutschland fast eine sozialistische Revolution stattfindet, wenn da nicht die nun schon gewendete SPD wäre, die das Alte vor dem Untergang schützt. „Unser Vaterland stand vor dem Chaos“, schreibt Günther Quandt später, aber immerhin hätten die Sozialdemokraten „etwas Ordnung in das Staatswesen“ gebracht. Die „Ordnung“, die die Sozialdemokraten durch den Massenmord an Arbeiter:innen und Sozialist:innen stabilisierten, war die, die den Quandts ermöglichte, ihre Geschäfte weiterzuführen.

Geld machen im Zweiten Weltkrieg

Man kann nicht alle krummen Geschäfte dieser Dynastie in einen Artikel packen, also voran im Zeitraffer zum nächsten Glücksfall für die Familie Quandt: Hitler-Faschismus und Zweiter Weltkrieg. Schon in der Weimarer Republik hatte Günther Quandt das Protfolio des Clans diversifiziert. Er war in die Kali-Industrie eingestiegen. Schon seit 1918 war er im Vorstand von Wintershall, das in den 1920ern konkurrierende Kali-Konzerne aufkaufte. Und im Zuge der 20er schichtete er auch einen Großteil seines Vermögens um in Steinkohle-, Braunkohle- und Kaligruben. Und er hatte eine feindliche Übernahme des Elektrokonzerns Accumulatoren-Fabrik AG (AFA) durchgedrückt. Quandt war nun im Besitz eines Weltkonzerns – und baute ihn weiter aus. Zudem gelangte er noch an die Spitze der Firma Berlin-Karlsruher Industriewerke (BKI), ehemals: Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken (DWM).

Gut gerüstet zog die Familie also in die neue Zeit. Als Hitler an die Macht kam, war Günther Quandt stinkreich und sein Sohn Herbert, da Anfang seiner 20er-Jahre, schon strammer Antikommunist. Noch 1979 wird er von Hitler schwärmen, der „in sehr eindrucksvoller und kerniger Weise immer und immer wieder dem Kommunismus in Deutschland den Kampf angesagt hat.“

Das Quandt-Imperium wird zu einer tragenden Säule und einem Gewinnler des Hitler-Faschismus und ist in alle möglichen Verbrechen verwickelt. Produktion für den mörderischen imperialistischen Krieg sowieso. Aber die Quandts profitieren auch von Zwangsarbeit und unterhalten – auf dem Gelände der AFA-Tochterfirma Varta – ein hauseigenes KZ. Systematisch wurden Häftlinge im Dienst des Imperiums zu Tode geschunden. „In der Fabrik des Industriellen Günther Quandt mussten sie Batterien für deutsche U-Boote bauen. Ohne Schutzkleidung hantierten sie mit giftigen Schwermetallen“, zitierte der Spiegel den ehemaligen Gefangene und Widerstandskämpfer Adolf Soerensen. In Karlsruhe unterhielt die Quandt-DWM eine eigene „Strafabteilung“ für Zwangsarbeiter:innen, von der es in einem Schreiben des Gauarbeiteramtes hieß, dass „1. die Unterbringung in geschlossenen Lagern möglich ist, 2. genügend Bewachungskräfte vorhanden sind, 3. Gewähr für strenge Zucht und Ordnung gegeben ist und 4. mindestens 12 Stunden gearbeitet werden kann“, wie der Historiker Jungbluth dokumentiert.

Das Quandt-Imperium hatte Hitler schon vor der Machtergreifung finanziert, Günther Quandt fand auch ideologisch Gefallen am Faschismus. Der Hitler-Faschismus wäre ohne ihn und seine Klassenkameraden aus der Bourgeioisie nicht an die Macht gekommen und als er an der Macht war, profitierten sie von seinen Verbrechen. Im Falle der Quandts ging es um das volle Programm: Rüstungsproduktion für den Angriffskrieg, Konzentrationslager auf Firmengelände, Zwangsarbeit, Arisierungen. Alles. Sogar der V2-Bombenterror gegen Zivilist:innen trägt die Handschrift der Verbrecherfamilie.

Geld machen in der Bundesrepublik

Der Faschismus aber unterlag trotz aller Bemühungen von Quandt und Co. Und die Kapitalisten mussten sich umstellen. Doch sie waren flexibel. Einer der heute noch lebenden direkten Erben des Varta-Vermögens, Sven Quandt, wird später sagen: „Wir müssen endlich mal versuchen, das“ – Shoa, Hitler-Faschismus, Krieg – „zu vergessen. Es gibt in anderen Ländern ganz ähnliche Dinge, die passiert sind. Auf der ganzen Welt. Da redet keiner mehr drüber.“ Und der kapitalistische Westen, der sich schon für den Kampf gegen die Sowjetunion in Position brachte, war dazu gerne bereit.

Die Quandts wurden nicht, wie sie es redlich verdient gehabt hätten, enteignet und bis zu ihrem Verrotten eingekerkert. Warum eigentlich nicht? Die britischen Behörden verfügten über die Dokumente, die von der schweren Schuld der Quandts zeugten, doch sie schickten sie nicht an die für das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal Zuständigen, „wohl auch deshalb, weil Quandts Werke schon seit Mai 1945 für die Briten Batterien produzierten“, so Eric Friedler, einer der Macher des Films „Das Schweigen der Quandts“. Und er fährt fort: „Wir haben die Dokumente dem ehemaligen amerikanischen Ankläger Benjamin Ferencz gezeigt. Er sagt, hätten diese Unterlagen in Nürnberg vorgelegen, wären die Unternehmer angeklagt worden.“

Günther Quandt war indessen vor den Sowjets gen Westen geflohen, es drohte ihm also keinerlei Vergeltung für seine Verbrechen. 1948 wurde der Mann, der Hitlers Uboote und Raketen mitbaute, als „Mitläufer“ eingestuft und straflos entlassen. Und so begann der Wiederaufstieg, diesmal in der Bundesrepublik. Statt der Zwangsarbeiter kamen nun die „Heimatvertriebenen“ aus dem Osten als billige Arbeitskräfte und später die Gastarbeiter:innen. Die Räder, die für den Krieg rollten, rollten nun für den Wiederaufbau des deutschen Kapitalismus.

Spulen wir ein wenig vor: Die Quandts machten aus so gut wie allem Profit. Während die Währungsreform von 1948 die Mehrheit der Deutschen ihres Geldes beraubte, gingen die Quandts als Gewinner aus ihr hervor; sie verdienten am Korea-Krieg der USA, der Millionen Menschen das Leben kostete; und sie machten Kohle aus dem Wiederbau des Landes, das sie maßgeblich in Schutt und Asche gelegt hatten. Ende der 70er war´s kurz mal brenzlig, da hatte die RAF ihren Kumpel und ebenfalls hochrangigen Ex-Nazi Hanns Martin Schleyer entführt und erschossen. Ansonsten war alles ein immerwährender Sommer des Geldzählens.

Günther Quandt starb 1954, der Laden ging an seine Söhne über: Herbert und den bei Goebbels, den Günther Quandts Ex-Frau Magda geheiratet hatte, aufgewachsenen Harald. Die setzten das Werk des Vaters fort – und begannen in die wachsende Auto-Industrie zu investieren. Zuerst bei Daimler-Benz, aber da war schon ein anderer Nazi-Kapitalist am Werk, Friedrich Flick. Ab Mitte der Fünfziger stiegen sie bei BMW ein und legten so die Grundlage für den immensen Reichtum der heutigen Quandts.

Geld machen im modernisierten kapitalistischen Welt-System

BMW ist heute ein weltumspannender Konzern, eines der Flaggschiffe der deutschen Auto-Industrie, des Prestigesektors des deutschen Kapitalismus. Die zwei Quandt-Erben, Susanne Klatten und Stefan Quandt, teilen sich die Anteile. Wie funktioniert so ein riesiges Firmenkonglomerat?

BMW unterhält Produktionsstandorte in Deutschland, den USA, Großbritannien, Österreich, Mexiko und natürlich China. Zusätzlich gibt es Werke, in denen sogenannte CKD-Sätze produziert werden. CKD steht dabei für „completely knocked down“, die Werke produzieren also Komponenten von Autos, die dann im Importland nur noch zusammmengebaut werden müssen – ein Weg zur Umgehung höherer Einfuhrzölle. Die CKD-Werke befinden sich in Russland, Ägypten, Indien, Thailand und Brasilien.

Die Grundlage des Reichtums der Quandts ist, wie könnte es anders sein, die Ausbeutung von Mensch und Natur. Entlang der Wertschöpfungskette der BMW-Modelle arbeiten hunderttausende Proletarier:innen. Die Lebensrealität dieser Arbeiter:innen variiert äußerst stark. Während in Deutschland gewerkschaftlich ausgehandelte Tarifverträge ein relativ hohes Lohnniveau selbst für Produktionsmitarbeiter sichern, sieht es anderswo in der Wertschöpfungskette ganz anders aus.

Schon im Werk in den USA erhalten Produktionsarbeiter:innen nur noch 15 US-Dollar die Stunde, in China noch deutlich weniger und in Mexiko sind es sage und schreibe umgerechnet 1 US-Dollar Einstiegsgehalt, maximal können Arbeiter sich auf 2,30 US-Dollar die Stunde steigern. Für Indien, Indonesien, Südafrika sind Zahlen schwerer zu finden, aber auch hier sind die durchschnittlich für Produktionsarbeiter:innen gezahlten Löhne extrem niedrig. Die Fabriken in den Niedriglohnländern produzieren vor allem für den Export, denn in Südafrika oder Mexiko wird man die Luxuskarossen logischerweise nicht los. Gewerkschaftliche „Sozialpartnerschaft“ wie in Deutschland gibt es in all diesen Ländern nicht.

Noch „unter“ den jeweiligen Kernbelegschaften auch in vom Imperialismus abhängigen Ländern stehen die jeweiligen Zulieferbetriebe. Auch sie sind kapitalistische Betriebe, auf die der Monopolkapitalist Druck ausüben kann, die die „kleineren“ Kapitalisten dann noch viel schärfer an die Arbeitskräfte weitergeben. Die Mehrheit der Arbeiter:innen, die an der Produktion eines Autos beteiligt sind, sind in solchen Zulieferbetrieben beschäftigt. So kommen etwa für Südafrika auf 5000 Arbeiter:innen im BMW-Werk rund 40 000 Arbeiter:innen bei „first tier supplier“, also Zulieferbetrieben der ersten Stufe. Der Wertschöpfungsanteil von Zulieferern in der Autoindustrie liegt bei 75 Prozent und schon heute wird der überwiegende Teil der verbauten Teile im Ausland produziert. Der Konzern selbst spricht von 12 000 solchen Betrieben in 70 Ländern, die seiner Produktion zuarbeiten.

Aktuell sind es u.a. die Hersteller von Batterien für Elektro-Autos, die diesen Druck bekommen und weitergeben. Wie alle anderen Auto-Hersteller macht auch BMW den „grün“ angestrichenen Wandel zu E-Mobilität mit und dafür braucht es eben vor allem zweierlei: Kobalt, Lithium und billige Arbeitskraft. Die Arbeitsbedingungen beim Kobalt-Abbau im Kongo sind berüchtigt, Kinderarbeit weit verbreitet. Wer BMW-Elektroautos kauft, kauft die Arbeit von einigen der 40 000 Kinder, die im Kongo unter brutalsten Bedingungen für einen Dollar am Tag in 12-Stunden-Schichten Kobalt schürfen – fürs gute Gewissen und die Umwelt. Und der Lithiumabbau, etwa in Chile, ist wiederum bekannt für seine verheerenden Auswirkungen auf die Natur und indigene Communities.

Das System BMW ist typisch für jene imperiale Produktionsweise, bei der man die Arbeiter:innen im imperialistischen Heimatland des jeweiligen Konzerns mit Zugeständnissen in Sachen Lohn ruhig stellt, während anderswo, weit weg von Regulierungen und heimischer Öffentlichkeit, die Zeche gezahlt wird.

Geld für alle, von CDU bis Grüne

Dieses System der Ausbeutung lohnt sich für die Eigentümer. 2019 lag der Umsatz des Konzerns über 100 Milliarden Euro. 425 Millionen Euro Dividende konnte sich Stefan Quandt ausschütten lassen, Susanne Klatten rund 344 Millionen Euro. Die Portfolios beider Clanchefs sind natürlich diverser, BMW ist „nur“ die Haupteinnahmequelle. Beide beziehen aber auch aus anderen Investitionen Einkünfte, kontrollieren eine Reihe weiterer Milliardenunternehmen, die nach dem selben Prinzip wie BMW als internationale Konzerne funktionieren.

Ein Taschengeld aus dem Profit gibt es traditionellerweise für diejenigen, die in Deutschland demokratisch zur Lenkung des Staates bestimmt werden. Die Lobbytätigkeit der Quandts ist umfangreich. CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne – alle bekamen schon mal was. Die NGO Lobbycontrol rechnet vor, dass seit 2000 rund 10 Millionen Euro an die genannten Parteien flossen. Besonders eng sind traditionell die Beziehungen zu den Christdemokraten, so war etwa der Leiter des Bereichs „Konzernkommunikation und Politik“, Maximilian Schöberl, zuvor Leiter der Pressestelle der Münchener CSU.

Die Investitionen – zusammen mit der erpresserischen Macht der sogenannten „Standortsicherung“ – lohnen sich: So intervenierte etwa CSU-Politiker Horst Seehofer nach dem sogenannten Abgasskandal, in den auch BMW verwickelt war, bei Merkel, um strengere Auflagen für die Autokonzerne zu verhindern. Die staatliche Intervention lohnt sich aber auch ganz ohne Korruption und legal, wie die „Eingriffe“ ins sogenannte freie Unternehmertum in Krisenzeiten zeigen. In der Corona-Pandemie kassierte BMW für gut 20 000 Arbeiter:innen staatlich subventionierte Kurzarbeit, schüttete aber dennoch Dividenden an die Quandts aus.

Die vielen Millionen Euro jährlich, die bei BMW&Co. In Öffentlichkeits- und Kampagnenarbeit fließen, haben aber nicht nur Auswirkungen auf die staatliche Stabilisierung der Ausbeutungsbedingungen. Sie sorgen auch dafür, dass das „Image“ von Konzernen wie diesen stets sauber bleibt. Wenn Artikel in den Mainstreammedien erscheinen, die ja auch vom Anzeigengeschäft der Großkonzerne leben, sind das meist handzahme Auftragsberichterstattungen ohne jede kritische Stoßrichtung. Um überhaupt Informationen zu finden, was ein:e BMW-Arbeiter*in in Südafrika oder Indien verdient oder wie die Arbeitsbedingungen bei Zulieferern sind, muss man lange suchen – es interessiert niemanden. Der Reichtum der Ausbeuter wird als „unternehmerische Leistung“ verbrämt, die Frage, woher er denn kommt, ist eines der großen Tabus der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Die Verbrechen der Reichen-Clans kommen dabei stets viele Jahre später ans Licht – wenn überhaupt. Und so kann sich jede Generation einreden, dass ja „früher“ sicher was schief gelaufen ist, aber heute doch nicht mehr. Denn heute, erklären die PR-Abteilungen in riesigen orchestrierten Kampagnen, ist alles grün, sozial und gerecht.

Quandts und ähnliche Gestalten leben nicht nur völlig unbehelligt, sie werden geehrt und hofiert, erhalten Preise und Auszeichnungen. Nach Herbert Quandt sind Straßen in Dingolfing, Göttingen, Hildesheim, Regensburg und München benannt, eine Schule und ein Medienpreis tragen seinen Namen. Die Namen derer, die in den KZs seiner Sippe starben, kennt dagegen kaum noch jemand. Und die der heute im Kongo verwerteten Kinderarbeiter:innen sowieso nicht.

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Während Deutschland und andere Staaten des globalen Nordens sich schon Millionen Impfstoffdosen verschiedener Hersteller gesichert haben, ist für die Länder des globalen Südens nicht absehbar, wann dort überhaupt ein Impfstoff zur Verfügung steht. Die Sicherung von Profiten für die Pharmaindustrie hat vor der Gesundheit der Menschen Priorität, wie sich auch am Beispiel der HIV/AIDS-Epidemie gezeigt hat.

Es handele sich um ein globales öffentliches Gut, den Corona-Impfstoff zu produzieren und ihn dann auch in alle Teile der Welt zu verteilen, erklärte Angela Merkel noch vor acht Monaten. Damals war noch gut reden, denn der Impfstoff schien in weiter Ferne. Heute, wo verschiedene Impfstoffkandidaten in greifbarer Nähe sind, handeln sowohl die deutsche Bundesregierung, als auch alle anderen Staaten des globalen Nordens nach dem Motto: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“.

Alle Versuche beispielsweise der Weltgesundheitsorganisation WHO eine globale Verteilung zu erarbeiten, an der alle Staaten gleichmäßig beteiligt wären, blieben ungehört. Stattdessen handelten einzelne wohlhabende Staaten, wie die USA und Deutschland, private Verträge mit der Industrie aus. Mit diesen Einzelverträgen sicherten sich einige wenige Länder des globalen Nordens, die 13% der Weltbevölkerung repräsentieren, bereits über die Hälfte der zur Verfügung stehenden Impfstoffdosen.

Solidarität, wie sie vorher oft beschworen wurde, ist zu einem Hauen und Stechen um die verfügbaren Impfstoffdosen geworden. Und im Hauen und Stechen haben Jahrhunderte kolonialer und imperialer Ausbeutung die Macht im globalen Gefüge entsprechend verteilt.

Die Doppelmoral, die deutsche Politiker*innen zur Schau tragen, ist dabei besonders irritierend. Während sich in den vergangenen vier Jahre über Donald Trumps „America First“ Strategie echauffiert wurde, tun in Krisensituationen alle Staaten, die es sich leisten können genau das selbe. Hauptsache vor der eigenen Haustür kehrt die Normalität ein und das Wirtschaftswachstum zurück. Und während in Deutschland Provinzfürsten wie Markus Söder schon anfangen zu blöken, wie weit oben Polizist:innen auf der Impfprioritätenliste stehen sollen, ist in Ländern des globalen Südens noch nicht einmal absehbar, wann das medizinische Personal und die Risikogruppen geimpft werden können.

Was in all dem Tamtam untergeht ist allerding, dass es bei dieser globalen Verteilungsfrage tatsächlich um ein menschengemachtes Problem in einer kapitalistischen Gesellschaft handelt: Patente von Pharmaunternehmen sichern deren Profite und verhindern, dass Medikamente im großen Stil produziert und in den Staaten des globalen Südens verfügbar sind, obwohl dies technisch gesehen bereits möglich wäre.

Der Streit um die Patente

Das hat eine lange Tradition, denn der Streit um Patentrechte für Medikamente, zieht sich schon seit Jahrzehnten hin. Das TRIPS Abkommen von 1995 regelt handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, darunter fallen auch Patente für Medikamente und medizinische Forschungserfolge. Eines der federführenden Unternehmen, welches damals dieses Abkommen maßgeblich mitgeformt hat, war übrigens Pfizer. Pfizer hat jetzt einen der ersten Corona-Impfstoffe auf den Markt gebracht hat und wird von eben dieser Regelung profitieren. Die Patentierung von Medikamenten führt dazu, dass andere Firmen die „Rezepte“ nicht benutzen dürfen um die patentierten Medikamente „nachzubauen“, sondern warten müssen bis der Patentschutz ausläuft, was bis zu 20 Jahre dauern kann. „Generika“ nennt man solche Medikamente, mit den gleichen Wirkstoffen wie das Original Präparat, die sich höchstens in den Zusatzstoffen und Herstellungsprinzipien unterscheiden. Die Kosten für Generika betragen häufig nur einen Bruchteil des Originalpreises.

Patente und die HIV/AIDS Pandemie

Die bislang größte Auseinandersetzung um Generika betraf die Medikamente gegen das HI-Virus und die AIDS Erkrankung. Insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent wurden jahrzehntelange Auseinandersetzungen geführt. Bis Generika dort eingesetzt werden konnten, vergingen Jahre, hunderttausende Menschen starben in dieser Zeit, obwohl die lebensrettenden Medikamente längst vorhanden waren. Viele Länder des globalen Südens sind mittlerweile Mitglieder in der Welthandelsorganisation (WTO), was sie dazu verpflichtet ebenfalls dem TRIPS Abkommen zuzustimmen. Durch dieses Abkommen müssen sie wie oben bereits erwähnt, den Patentschutz auf Medikamente wahren. Ein großer Teil der HIV Medikamente kam auf den Markt, bevor viele Länder des globalen Südens dem TRIPS Abkommen beigetreten sind, daher konnten für diese, kostengünstige Generika produziert werden. Für neuere Medikamente gilt allerdings der Patentschutz. Viele Patient*innen müssen mit der Zeit auf Grund von Nebenwirkungen der alten Medikamente auf neuere Substanzen umgestellt werden, die ihnen nun verwehrt bleiben. Für sie bleibt also nur ein Abwägen zwischen Nebenwirkungen und einem möglichen Ausbruch von AIDS.

Einige Länder, unter anderem Deutschland, pochen auf Verschärfungen des TRIPS Abkommens, welches die Herstellung von Generika noch weiter erschweren würde. Unter anderem eine Konsequenz dieser Verschärfung wäre die Notwendigkeit Medikamentenstudien zu wiederholen, weil auch Forschungsdaten geschützt werden sollen. Das bedeutet einen enormen Kosten- und Zeitaufwand der häufig von Generikafirmen nicht gestemmt werden kann. In Deutschland muss sich jede medizinische Studie einer ethischen Prüfung unterziehen, beispielsweise dürfen Versuche an Menschen nur durchgeführt werden, wenn dadurch neue, essenzielle und nicht anders zu erlangende Kenntnisse erzielt werden können. Diese ethischen Überzeugungen enden offensichtlich an den EU Außengrenzen.

Die aktuelle Auseinandersetzung um die Coronaimpfstoffe

Als hätte man nichts gelernt aus der HIV-Pandemie geht derselbe Streit aktuell um die Corona-Impfstoffe von Neuem los. Die Industrie forscht an ihren Impfstoffen, behält die Nutzungsrechte an dem erlangten Wissen für sich und patentiert dann ihre Erfolge, damit sie bloß keiner nachahmen kann. Die Forschung für die Coronaimpfstoffe wird zu großen Teilen mit öffentlichen Geldern finanziert und die Gewinne werden privatisiert und einzelnen Firmen vorbehalten. Ein erster Versuch der WHO diesem Trend entgegen zu wirken, ist bereits gescheitert. Costa Rica regte an, einen Patentpool zu erstellen, in dem das Wissen und Technologien für Impfstoffe und Medikamente gegen Covid 19 gebündelt werden würde und mehr Ländern zur Verfügung gestellt werden würde.

Mit dem C-TAP genannten Programm sollten Forschungsergebnisse transparent gemacht werden und finanzielle Unterstützung für die Forschung sollte an Bedingungen geknüpft werden, wie zum Beispiel einen globalen Zugang und günstige Preise. Die Bundesregierung verweigert ihre Teilnahme an dem Programm, gleichzeitig investierten sie 500 Millionen in die Forschung privater Firmen. Während sich zahlreiche Länder des globalen Südens an diesem Projekt beteiligten, boten nur fünf EU Länder ihre Unterstützung an. In einem zweiten Versuch beantragten Südafrika und Indien wenigstens den Patentschutz für die Coronaimpfstoffe auszusetzen, was in Krisensituationen explizit im TRIPS Abkommen festgelegt wurde. Die EU, sowie die USA, Kanada und die Welthandelsorganisation lehnten diesen Antrag ab. Der Abgrund zwischen Nord und Süd wird weiter vertieft.

Bis ein Impfstoff den Ländern im globalen Süden ausreichend vorhanden sein wird, wird es noch lange dauern. Nur knapp 800 Millionen Impfstoffdosen sind bis jetzt für die ärmsten Länder vorgesehen. Die Prämisse der Pharmaindustrie ist und bleibt eben die Profitmaximierung; die Regierungen des globalen Nordens machen munter mit, und internationale Verträge sichern diese Profite ab – auf Kosten von Millionen Menschenleben.

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