Berlin-Neukölln unter Generalverdacht: Shisha-Bars, Razzien und „kriminelle Clans“

9. Dezember 2019

Deutschland hat ein existenzbedrohendes Problem. Kriminelle Ausländerclans. Libanesische, arabische, türkische und kurdische Großfamilien halten das Land im festen Würgegriff ihrer orientalischen Hände. Sie kassieren Hartz-IV, während sie in Luxuskarossen durch die Gegend protzen, die sie mit Drogengeschäften und Einbrüchen finanzieren. Sie gehen mit Messern und Schusswaffen aufeinander los, um ihre Reviere abzustecken. Ganze Bezirke kontrollieren sie, machen Teile deutscher Großstädte zu No-Go-Areas. Sie nutzen die Gutmütigkeit der Deutschen, die ihnen Asyl gewährten, schamlos aus, um sich endlos zu bereichern. Hierarchisch gegliedert, gleichen sie einer durchorganisierten Armee, die den Behörden immer und immer wieder durch die Lappen geht. Sie bedrohen unser friedliches Zusammenleben. Sie erpressen, plündern und morden. Wer ihrer Herr werden will, muss Stärke zeigen. Es braucht Law&Order. Es braucht die Abschaffung von Asylgesetzen. Es braucht die Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung. Und es braucht starke deutsche Jungs wie Herbert Reul und Martin Hikel.

So geht jene Erzählung, die seit Jahren gebetsmühlenartig in den Zeitungsartikeln der Leitmedien, in Dokumentarfilmen, Action-Serien, Büchern, politischen Reden und Lageeinschätzungen der Polizei wiederholt wird. Wöchentlich stürmen schwer bewaffnete Polizeieinheiten Shisha-Bars und andere migrantische Gewerbebetriebe – begleitet von den Reporterteams einer sensationalistischen Hauptstadtpresse, deren Berichterstattung zum Thema sich kaum noch von der auf Nazi-Hetzseiten unterscheidet. Frei nach der Devise: Was man sich über den Ausländer schlechthin nicht mehr zu sagen traut, über das Clan-Mitglied darf es gesagt werden.

Der so geschaffene Diskurs verfehlt seine Wirkung nicht: Je weiter man von „Brennpunkten“ wie Berlin-Neukölln oder Dusiburg-Marxloh entfernt lebt, desto eher bekommt man den Eindruck, dort gehe es zu wie in Medellin zur Zeit Pablo Escobars. Wer aber genauer hinsieht, den Stimmen Gehör schenkt, die wirklich in Neukölln leben und von den dutzenden Razzien, den willkürlichen Kontrollen, den rassistischen Zuschreibungen und der medialen Hetze betroffen sind, dem ergibt sich ein anderes Bild.

Wir sind tausend Leute. Natürlich kennen sich da nicht alle“

Einer der Anwohner, die derzeit gegen die Stigmatisierung der Shisha-Bars in Neukölln angehen, ist Mohammed. Zusammen mit anderen Einzelpersonen organisierte er Veranstaltungen, auch einen Flash-Mob zum Shisha-Rauchen. Warum er aktiv wird? Weil er es sich gar nicht so richtig aussuchen kann. „Ich habe eine sehr persönliche Motivation“, sagt er im Gespräch mit lower class magazine. „Ich heiße Mohammed Ali Chahrour. Ich habe einen Nachnamen, der als Clan-Name geführt wird.“

Wenn in den Medien von den „Clans“ die Rede ist, sind es immer dieselben Namen, die auftauchen: Remmo, Al-Zein, Abou-Chaker, Miri – und eben auch Chahrour. Man wird nicht falsch liegen, wenn man behauptet, es gibt kaum libanesische oder palästinensiche Namen, die dem Durchschnittsdeutschen geläufiger sind als diese. Mit Sicherheit würde eine Umfrage ergeben, dass unter den Deutschen ein – sagen wir – Arafat Abou-Chaker deutlich prominenter ist als die libanesische Nationalikone Fayruz oder der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch.

Wenn man einen dieser prominenten Nachnamen trägt, begleitet das ein Leben lang. „Als ich noch in der Schule war hatten wir einmal so eine Woche zur Berufsorientierung“, erinnert sich Mohammed. „Ich habe mich bei der Polizei angemeldet. Ich war 15 und dachte, das wäre irgendwie lustig. Ich habe dort dann bei den Eignungstests als Bester abgeschnitten. Dann kamen zwei Polizeioffiziere zu mir und sagten: ‚Das hast du echt super gemacht, Mohammed. Als wir die Namensliste bekommen haben, dachten wir nur: Was kommt da auf uns zu. Wenn du eine Zukunft bei uns einschlagen willst, wir helfen dir. Aber du musst deinen Namen ändern, wenn du bei der Polizei in Berlin anfangen willst.‘ Also bei all dem Lob: Eigentlich bist du raus, es sei denn du verleugnest deine Identität.“ Die Vorurteile haben sich bis heute nicht geändert: „Wenn ich beruflich mit der Polizei telefoniere und meinen Nachnamen nenne, gibt es auf der anderen Seite der Leitung diese kurze Pause, wo du die Verwunderung merkst. Ich nehme das mit Humor“, scherzt er.

Auch im Gespräch merkt man Mohammed an, wie die Debatte auf ihn wirkt. Er betont wieder und wieder, er sei gegen Kriminalität. Und für einen starken Staat – solange auf Grundlage von Rechtstaatlichkeit gehandelt werde. Aber das derzeit gängige Vorgehen gegen die „Clans“ sei weder rechtsstaatlich, noch Teil einer funktionierenden Strafverfolgung. „Es geht um Sippenhaft“, kritisiert Mohammed. „Wovon sprechen wir denn eigentlich, wenn wir von Großfamilien sprechen? Meine Familie, wenn wir alle nach dem Nachnamen nehmen, sind in Berlin um die tausend Leute. Da zu erwarten, dass sich alle kennen, ist Blödsinn“, so Chahrour. Auch dieses Bild von einem Paten, der wie ein König über die Familie herrscht, sei eine Erfindung. Was hier vielmehr gemacht werde, sei eine Umkehr der Beweislast der Strafverfolgung. Nicht kriminelle Handlungen würden verfolgt, sondern Menschen, weil sie Mitglied einer Familie sind – und damit per se als potentielle Kriminelle gelten.

Die offiziellen Papiere deutscher Behörden geben Mohammed Ali Chahrour recht. Der Begriff des Clans bleibt schwammig, das Phänomen wird unter dem abstrusen Titel „ethnisch abgeschottete Subkulturen“ beschrieben. Suggeriert werden soll: Die hängen alle miteinander zusammen. Die „Großfamilie“ ist die kriminelle Organisation. Dieser Narrativ hat Auswirkungen. Er bereitet Familien wie der von Mohammed Ali Chahrour Sorgen. Wenn man, wie Mohammed, im Alter von sechs Monaten das erste Mal einen Abschiebebescheid zugestellt bekommen hat, ist es nicht einfach nur eine Phrase, wenn die Mutter wieder anfängt, zu sagen: Wir sitzen auf gepackten Koffern.

Ähnlich wie er selbst, so sagt Mohammed, sehen das viele in Neukölln. Die andauernden schwer bewaffneten Razzien der Polizei seien für viele eine Demütigung. Für die Barbetreiber, sagt der Neuköllner, sei es sowieso einschüchternd. Aber auch für die Gäste: „Ich habe kürzlich mit jungen Syrern gesprochen, die haben gesagt: Wir sind hier her vor dem Krieg geflüchtet und wir werden hier jeden Freitag, Samstag mit Maschinengewehren durchsucht.“

Abgesehen von den sozialen Auswirkungen sei so ohnehin keine Strafverfolgung zu machen, meint Chahrour. „Um es mal so zu sagen: Ich glaube nicht, dass irgendwer kriminelle Geschäfte in den Bars der Sonnenallee und Karl-Marx-Straße organisiert, wenn man weiß, dass da jeden Freitag Abend die Polizei einreitet. Und dann findet ihr unverzollten Tabak? Sorry Leute, aber dann seid ihr genauso blöd, wie die Bullen aus 4Blocks.“

Die medial inszenierten Razzien, der Generalverdacht gegen ganze Bevölkerungsgruppen – das ist für Mohammed nicht mehr als ein „Spiel mit dem Rassismus“ – gerade auch seitens jener Partei, in der Mohammed Ali Chahrour eigentlich Mitglied ist: Der SPD. Die stellt mit Martin Hikel den Bezirksbürgermeister in Neukölln. Und der möchte sich gerne als der große Saubermann gegen die kriminellen Ausländerclans inszenieren. Tradition hat das in der Neuköllner Sozialdemokratie: Schon Hikels Amtsvorgänger Heinz Buschkowsky nutzte gerne rassistische Ressentiments, um am rechten Rand zu fischen.

Da kommen Stimmen wie die Mohammeds wenig gelegen: „Man versucht, auf mich einzuwirken und mir meine Meinung zu verbieten. Ich finde das schamlos. Die, die mich da angreifen, verstehen nicht, dass da auch meine Nächsten angegriffen werden.“

Maschinengewehre gegen Ordnungswidrigkeiten

Ähnlich wie Mohammed spricht sich auch Melissa König* gegen die Clan-Hetze aus. Die 22-jährige arbeitete in einer Wilmersdorfer Shisha-Bar, hat eine der Razzien miterlebt. Und: in ihrem Freundeskreis sind viele, die „bekannte Nachnamen“ tragen, wie sie sagt. Für die Jungs mit den klingenden Namen bedeutet das aber in den seltensten Fällen eine Eintrittskarte in ein sorgenloses Leben aus Crime&Glamour. Sondern Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, komische Fragen bei Job-Bewerbungen und racial profiling durch die Polizei. „Einmal war ich mit einem dieser Freunde im Auto unterwegs und wir kamen in eine normale Verkehrskontrolle“, erinnert sich Melissa. „Alle anderen durften nach kurzer Kontrolle weiter, uns haben sie komplett durchsucht und das Auto auseinandergenommen– auch mich als Beifahrerin. Ich habe ja nachgefragt bei der Polizei, warum das jetzt so ist. Aber man konnte mir keine logische Begründung geben.“

Die Stelle in der Shisha-Bar hatte Melissa eigentlich nur als Zweitjob – um nach dem Umzug nach Berlin ein bisschen was dazu zu verdienen. Aber auch sie merkte, wie im Bekanntenkreis die mediale Dauerbeschallung ankommt. „Ich habe irgendwann nur noch gesagt, ich kellnere, wenn mich jemand gefragt hat. Sonst glauben immer gleich alle, man macht etwas mit Geldwäsche.“ Die meisten Klischees über die Shisha-Bars kann Melissa nicht bestätigen. Weder sei ihr Chef kriminell gewesen, noch habe sie sich als Frau unwohl gefühlt. Im Gegenteil, in der „deutschen Gastro, wo ich auch gearbeitet habe, habe ich viel mehr übergriffiges Verhalten erlebt. Und da ist im Unterschied zur Shisha-Bar niemand eingeschritten.“

Auch nachdem sie ihren Nebenjob aufgegeben hatte, war Melissa öfter an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz – als Gast. Einmal, als sie mit einer Freundin dort war, wurde sie auch Zeugin der gängigen Berliner Polizeipraxis. „Die sind mit Maschinengewehren reingekommen und haben die Leute da drei oder vier Stunden festgehalten. Meine Freundin wollte aufs Klo, durfte aber nicht. Die Beamten waren sehr unfreundlich. Viele Gäste waren sehr verängstigt“, erzählt König. Das Szenario hinterlässt, auch wenn keine inkriminierenden Gegenstände gefunden werden, Eindruck. „Würde ich meinen Chef nicht kennen und wüsste nicht, was er für ein Mensch ist – ich hätte selber gedacht, der muss ja ein Schwerkrimineller sein, wenn da 70, 80 schwer bewaffnete Polizisten reinstürmen.“

In den meisten Fällen führen die martialisch durchgeführten Polizeieinsätze zu nichts. Gefunden wird unverzollter Tabak oder es werden Ordnungswidrigkeiten festgestellt, wie zum Beispiel erhöhte CO-Messwerte. Wenn kleine Mengen an Drogen auftauchen, über die jeder Berghain-Türsteher milde lächeln würde, gilt schon das als Erfolg. Richtige Funde wie Waffen sind eine äußerste Seltenheit.

Eine Kleine Anfrage der Linken-Politiker Niklas Schrader und Anne Helm dokumentiert die Dimensionen der Show-Razzien eindrucksvoll. Alleine zwischen dem 27. Mai und dem 6. September 2019 rückte in Neukölln 14 Mal eine Armada von Polizisten „im behördenübergreifenden Verbund“ aus, um sich diverse Kleingewerbetreibende vorzunehmen. Dabei waren insgesamt 772 Dienstkräfte im Einsatz, die 4398,5 Einsatzkräftestunden ableisteten. Beteiligt waren neben der Bundespolizei und Berliner Dienststellen der Polizei das Finanzamt, das Ordnungsamt sowie verschiedene Stellen des Zollamts. Im Rahmen der Einsätze wurden „wurden insgesamt 978 Personen, 72 Lokale, 385 Kraftfahrzeuge und 22 sonstige Objekte kontrolliert beziehungsweise aufgesucht.“ Das Ergebnis: 197 Ordnungswidrigen, also Dinge wie „Verstoß gegen ordnungsgemäße Kassenführung“, Verstöße gegen das Nichtraucherschutzgesetz, Jugendliche, die sich in der Bar aufhalten oder Verstöße gegen die Pfandverordnung. Und 56 Mal der Verdacht auf eine Straftat: Darunter entweder der geringe Besitz von Betäubungsmitteln und Delikte wie „Fahren ohne Fahrerlaubnis“ oder Beleidigung – ein Delikt also, der ohne den martialischen Einsatz gar nicht zustande gekommen wären.

Der große Durchbruch bleibt bei den Massenrazzien – erwartungsgemäß – aus. Weder die geklaute Goldmünze aus dem Bode-Museum, noch Drogendepots oder die zur Verurteilung realer oder imaginierter „Clan-Chefs“ so gierig herbeigesehnten Beweise werden sich in Neuköllner Bars finden lassen. Das wissen alle Beteiligten.

Die Wirkung des Vorgehens ist aber eine andere, weiß Melissa König. „Auch mein ehemaliger Chef klagt, dass ihm die Kunden wegbleiben nach der Razzia. Und ich kenne viele andere Shisha-Bar-Betreiber, denen es ähnlich geht.“ Warum die Behörden das machen? Auch darauf hat Melissa eine plausible Antwort: „Der Kiez verändert sich. Die, die jetzt nach Neukölln ziehen, die wollen keine Sishabars oder Männercafes. Mit Kriminalität hat das gar nicht so viel zu tun. Die wollen ja auch keine türkischen und arabischen Gemüsehändler.“

Bankster welcome!

Dass es sich bei der Offensive gegen die „kriminellen Clans“ um einen Teil des Saubermachens für Investoren, Touristen und betuchte Zugezogene handelt, vermutet auch Alia Kutlu. Die Neuköllnerin engagiert sich in verschiedenen Initiativen gegen Gentrifizierung in Neukölln – zum Beispiel gegen den Mega-Neubau am zentralen Hermannplatz. Und auch Kutlu hat an Veranstaltungen gegen den Clan-Generalverdacht mitgearbeitet. „Beides hängt zusammen“, so Kutlu gegenüber lcm. „Das Projekt am Hermannplatz wird das Leben in der Nachbarschaft komplett verändern.“ Für Alia und ihre WG ist es ohnehin schon so, dass sie nicht darauf rechnen, in Neukölln langfristig bleiben zu können. „Wenn wir jetzt aus unser Wohnung raus müssten, würden wir in Neukölln nichts mehr finden. Aber es sind eben nicht nur Mieter betroffen, sondern auch die Gewerbetreibenden. Die passen langfristig nicht zu dem, was hier im Bezirk geplant ist. Gewerbemieten steigen, die kleinen migrantischen Läden, die wir hier haben, werden so nicht weiter hier sein“, befürchtete die Mittzwanzigerin. Gerade in den migrantisch geprägten Teilen Neuköllns spüre die Bevölkerung das. „Die Leute merken ja, dass die Bevölkerung ausgetauscht wird. Sie sehen, dass die neuen Läden, die aufmachen, nicht für sie sind. Ich meine, wer sitzt denn in diesen ganzen Hipster-Läden? Die Leute merken natürlich: Wir sind hier nicht mehr willkommen“, so Kutlu.

Die Razzien seien ein „politisches Muskelspiel“: „Vorreiter war da ja der CDU-Politiker Herbert Reul mit seiner sogenannten Taktik der tausend Nadelstiche. Da wird dann eben jede Kleinigkeit zum Fall für die Kavallerie. Flaschen ohne Pfand, erhöhte Messwerte – und das wird mit Maschinengewehren gemacht.“ Das Vorgehen findet Alia Kutlu rassistisch: „Es reicht, dass du Türke, Kurde, Araber bist. So wird dieser Generalverdacht ausgeweitet.“ Ausgeblendet werde dabei, wo eigentlich die Ursachen von Kriminalität liegen. „Die hat ja Gründe: eine enorme Prekarität. Wo wächst Kriminalität? Wo Leute arm sind, wo keine Perspektive ist.“ Man habe sich viele Jahre überhaupt nicht um Neuköllnerinnen und Neuköllner gekümmert. „Aber jetzt hat man ein Interesse an der Aufwertung des Viertels. Und da erfüllt die ganze Debatte um Clans einen Zweck. So ein Martin Hickel, der freut sich, wenn ein René Benko kommt und Milliarden investiert. Und wenn Leute verdrängt werden, die ärmer sind, damit reichere herziehen können. Kapitalinteressen und Politik verfolgen hier eine gemeinsame Agenda.“

Da übrigens dreht man dann nicht jeden Cent zweimal um auf der peniblen Suche nach dubiosem Geschäftsgebahren. Der Name des österreichischen Immobilienspekulanten Benko, der den Hermannplatz aufhübschen soll, fällt aktuell immer wieder im Spendenskandal um die faschistische Partei FPÖ und ihren geschassten Chef Heinz-Christian Strache. Und Benko ist vorbestraft – wegen Korruption.

*Name von der Redaktion geändert

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