Am 12. Oktober demonstrierten in Berlin über 8.000 Menschen auf der Antikolonialen Demonstration in Neukölln/Kreuzberg. Unsere Autorin Chandrika Yogarajah war mit dabei.
Der 12. Oktober 1492 ist ein Tag mit unvergleichbarer historischer Tragweite. An diesem Tag setzte Christoph Kolumbus seinen Fuß auf den amerikanischen Kontinent und leitete eine jahrhundert- dauernde Geschichte europäischer Kolonisierung ein, mit den bekannten Konsequenzen: Genozid an den nicht-europäischen Indigenen weltweit und den Grundstein für die bis heute andauernde imperialistische Ausbeutung des globalen Südens.
An diesem historischen Tag, gingen laut einem Bericht von Neues Deutschland etwa 8.000 Menschen in Berlin auf die Straßen und nahmen an der Antikolonialen Demonstration teil, die von 600 Polizisten begleitet wurde. Die Demo startete um 15 Uhr am Hermannplatz in Neukölln und ging über den Kottbusser Damm, die Skalitzer Straße, wieder zurück über die Sonnenallee, zum Hermannplatz bis ca. 20 Uhr. Neukölln war wohl der perfekte Startpunkt dieser Demo, denn es ist einer der dichtesten besiedelten Bezirke Berlins, einst eines der Arbeiter*innenviertel der Stadt und hat nun den rassistisch geprägten Ruf des kriminalisierten „Brennpunkt Berlins“ inne, mit überwiegend dort wohnenden nicht-weißen Menschen. Die Demo war wie der Kiez: Die Teilnehmer*innen waren überwiegend nicht weiß. So zogen zahlreiche unterschiedliche politische migrantische und diasporische Gruppen mit Parolen des Widerstandes und der Solidarität durch die Straßen Neuköllns und Kreuzberg: „Thawra, thawra hat´tan nasr!“ („Revolution, Revolution bis zum Sieg“), „Biji Azadi biji Kurdistan“ („Es lebe die Freiheit, es lebe Kurdistan“), „Naan Kaar Azadi“ („Brot, Arbeit, Freiheit“). Die Stimmung war zweifelsohne emotional, willensstark, hoffnungsvoll und kämpferisch.
Das dominierende Thema dieser Demonstration war die türkischen Angriffe auf Rojava. In der großen Menschenmasse sah man tatsächlich überwiegend kurdische Flaggen und Parolen, wie „Erdogan Terrorist“ und „Kurdistan wird das Grab des Faschismus sein“ wurden lautstark gerufen. Auch die Verantwortung Deutschlands für den geplanten Völkermord in Rojava wurde immer wieder thematisiert. Die deutsche Rüstungsindustrie hat an die türkische Armee Waffen im Wert von über 180 Millionen Euro geliefert, was mit der Parole „Deutsche Waffen, Deutsches Geld, morden mit in aller Welt!“ kommentiert wurde. Demonstrant*innen zeigten sich solidarisch mit der willensstarken, mutigen Kurdischen Bewegung, die seit 40 Jahren für ein basisdemokratisches, selbstbestimmtes Zusammenleben mit Geschlechtergerechtigkeit, sozialistischen und ökologischen Prinzipien kämpft.
Aber die antikoloniale Demo war keine „Kurden-Demo“, wie sowohl die Polizei, als auch die Mehrheit der deutschen Medien sie beschrieb. Auf der Demo waren viele andere kämpferische migrantische Stimmen zu hören. Die Kaschmir Support Gruppe war ebenfalls an der Demonstration beteiligt und machte auf die seit dem 9. August vom indischen hindunationalistischen Militär besetzten Kaschmir aufmerksam. Genauso weitere Gruppen, die über die katastrophale Situation in der Siedlerkolonie in Palästina sprachen. Über die staatlichen Repressalien der anti-neoliberalen Proteste gegen den IWF in Quito, Ecuador, die von Indigenen angeführt wird, sowie die nicht aufhörenden Massaker an der indigenen Bevölkerung in Guatemala, Chile, Argentinien und in den Philippinen, ausgeführt von multinationalen Konzernen und den sie unterstützenden Staaten; die imperialistische Umweltzerstörung im Amazonas; und auch über den alltäglichen Rassismus und Faschismus in Deutschland, der seinen letzten mörderischen Ausdruck am 9. Oktober beim antisemitischen, antifeministischen und rassistischen Anschlag auf eine Synagoge in Halle, Sachsen-Anhalt, fand, bei dem zwei Menschen ermordert wurden.
Das Wunderbare an dieser Demonstration war das Erhabene und die Würde der eigenen Kulturen. Aktivist*innen aus Lateinamerika tanzten, spielten auf Flöten und Trommeln. Unter den Demonstrant*innen wurde brüderlich und schwesterlich internationale Solidarität gezeigt und die gegenseitige Unterstützung von kurdischen, türkischen, arabisch, spanischen oder deutschen Parolen in verschiedenen Blocks – begleitet mit Musik – wie „Los pueblos unidos jamás serán vencidos“ („Die vereinten Völker werden nie besiegt werden“) bildeten einen einheitlichen Sprachchor. Sogar Menschen, die nicht mitliefen, zeigten von ihren Fenstern gemalte Transpis, wie „Stop the War-RiseUp4Rojava“ und demonstrierten der Masse dadurch ihre Teilnahme. Doch das Schöne und gleichzeitig Hoffnungsvolle am Gesamtbild der Menschenmasse war die enthusiastische Teilnahme von Müttern, die mit ihren Babys im Kinderwagen und Kleinkindern mitliefen.
Natürlich, wie zu erwarten war, wurde diese Demonstration von der bekannten stumpfen deutschen Polizei schon von Anfang an aggressiv angegangen. Diese hatte es besonders und mehrfach provokativ auf den kurdischen Block abgesehen. Der behördeneigene Rassismus zeigte sich in Kommentaren, wie beispielsweise Demonstrant*innen gegenüber: „Geht doch einfach in eurem eigenen Land demonstrieren!“ Zudem wurde der kurdische Block aufgrund des Zündens von Feuerwerkskörpern von der hoch aufgerüsteten Polizei angegriffen, die – laut Augenzeugenberichten – Menschen verletzten. Nach offiziellen Angaben wurden sechs Demonstrant*innen festgenommen. Doch auch die leider alltägliche Repression der Polizei, die versuchte ihren massiven Einsatz durch willkürliche Festnahmen zu legitimieren, konnten nichts gegen die kämpferische Atmosphäre ausrichten. Im Gegenteil.
Die Erste Antikoloniale Demonstration wurde von unterschiedlichen migrantischen und diasporischen Gruppen in Berlin organisiert, die als Internationalist*innen und Revolutionär*innen ihren Widerstand und ihre Solidarität gegen antikoloniale, kapitalistische Ausbeutung, imperialistische Umweltzerstörung und Rassismus vereinigen. Die Demo war Teil des antikolonialen Monats, der noch mit zahlreichen kulturellen Events, Tanzworkshops und Bildungsveranstaltungen bis zum 15. November weitergeht, der Tag, an dem die Berliner Kongo Konferenz im Jahr 1884 anfing. An diesem Tag teilten europäische Großmächte, die USA und das Osmanische Reich den afrikanischen Kontinenten unter sich auf. Das Programm des Antikolonialen Monats ist hier zu finden.
Die Demonstration war bis jetzt der Höhepunkt dieses Antikolonialen Monats. Sie scheint keine Standard-Solidaritäts-Demo zu sein, bei der hinterher alle schlafen gehen und niemand mehr für die Menschheit aufsteht. Nein, diese Demonstration verspricht eine sich noch jung formierende hoffnungsvolle antikoloniale Solidaritäts- und Widerstandsbewegung. Es war eine der seltenen Demonstrationen, bei der nicht-weiße Stimmen im Zentrum standen und von den rassistischen Konflikten in Deutschland und in ihren Heimatländern berichteten und internationale Solidarität ausriefen. Das Motto der Demonstration „Widerstand ist Leben“ vereinigte alle Demonstrant*innen an diesem Tag.
#Titelbild: Dalila Muñoz vom Rayuela Kollektiv