45 Tage unter Belagerung: Kaschmir im Ausnahmezustand

16. September 2019

Vor genau 45 Tagen, in der Nacht zum 5. August 2019,hat die indische Regierung eine Ausgangssperre über die Stadt Srinagar und in der Umgebung von Jammu City im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir verhängt. Per Dekret des indischen Präsidenten Ram Nath Kovind wurden die Artikel 370 und 35A der indischen Verfassung, die dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir Autonomierechte und Sonderrechte für Muslim*innen gewährten, aufgehoben – ohne die kaschmirische Bevölkerung zu fragen oder gar zu informieren. Dieser Beschluss wurde von indischen Aktivist*innen als illegal, verfassungswidrig und unmoralisch verurteilt. Die Bundesstaaten Jammu und Kaschmir wurden aufgelöst und in zwei Union-Territories aufgeteilt.

Vom 9. bis zum 13. August reiste ein Team solidarischer indischer Aktivist*innen um Kavita Krishnan (CPI-ML und AIPWA), Jean Drèze (Ökonom), Maimoona Mollah (AIDWA) und Vimal Bhai (NAPM) nach Kaschmir. Am 14. August publizierte die Gruppe online ein Informationsvideo, das die Situation in Kaschmir zeigt, sowie einen Bericht unter dem Titel „Kashmir Caged“ (“Kaschmir eingesperrt”) auf Englisch.

Keine Veränderungen seit August 2019

Laut den Autor*innen des Augenzeugenberichts, ist Kaschmir seit dem 5. August nahezu vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Internetservice, Mobilfunknetz, Festnetz und kaschmirische Fernsehsender wurden blockiert und abgeschaltet. Diese Situation hat sich bis heute nicht geändert. Mindestens 600 Politiker*innen und Aktivist*innen aus Kaschmir wurden innerhalb weniger Tage nach der Aufhebung der Artikel 370 und 35A von der indischen Regierung unter Hausarrest gestellt. Nach Schätzungen wurden über 4000 demokratisch gewählte Politiker*innen inhaftiert. In der Stadt Srinagar sind das indische Militär und paramilitärische Kräfte zu sehen. Es ist verboten in Menschengruppen unterwegs zu sein, nur maximal Zweiergruppen oder Einzelpersonen sind in der Öffentlichkeit gestattet. Kinder werden von der indischen Polizei inhaftiert, geschlagen und getötet. Frauen* und Mädchen* werden vom indischen Militär sexuell belästigt. Die Lebensgrundlage vieler Menschen in Kaschmir ist zerstört und eine neue Welle von psychischen Erkrankungen ist zu beobachten. Nach wie vor sind Geschäfte, Universitäten, Schulen, Büchereien, Banken, Regierungsbüros geschlossen. Wissenschaftler*innen rufen auf, den Blackout von akademischen Institutionen in Kaschmir zu beenden, der talentierte junge Menschen daran hindert, sich für die Förderung der Naturwissenschaften in Indien einzusetzen.

Bei friedlichen Protesten am 9. August mit 10.000 Menschen in Soura (Srinagar) benutzte das indische Militär Streumunition, wobei zahlreiche Menschen schwer verletzt wurden und einige erblindeten.

Soura ist seitdem regelmäßig an Freitagen Mittelpunkt der Proteste der Menschen aus Kaschmir gegen die indische Besatzungsmacht. Die Bevölkerung leidet stark unter dem Mangel an Medizin und Nahrungsmitteln. Amateur*innen mit keinerlei medizinischer Erfahrungen sorgen sich selbst um die Wunden, die von Streumunitionen verursacht wurden. Viele junge Menschen sterben jedoch dabei. Ein/e Amateur*in, die anonym bleiben will, erklärt im Gespräch mit Scroll.in: „Es gibt zwei Möglichkeiten, ein Pellet aus einem menschlichen Körper herauszubekommen. Wenn es näher an der oberen Hautschicht liegt, kann man es einfach herausdrücken, indem man an zwei Enden der Wunde auf die Haut drückt. Wenn ein Pellet tief in die Haut eingedrungen ist, lokalisieren wir es zunächst mit den Fingerspitzen. Dann schneiden wir mit einer Klinge die Haut in der Nähe dieser Stelle auf und ziehen sie heraus. Danach waschen wir die Wunde mit Dettol-getränkter Baumwolle und das war’s. Denken Sie daran, dass all dies ohne jegliche Lokal-Anästhesie geschieht. Und es braucht viel Zeit.“

Auch die willkürlichenFestnahmenund Folterungen halten weiter an. Wie am Beispiel von Abid Khan, 26, aus dem Dorf Hirpora im Bezirk Shopian in Jammu und Kaschmir. Er wurde am 14. August zusammen mit seinem Bruder von der indischen Armee festgenommen und gefoltert. Ihnen wurde vorgeworfen, Riyaz Naikoo von der Hizbul Mujahideen, eine pro-pakistanische militante Organisation, zu ihrer kürzlich stattgefundenen Hochzeit eingeladen zu haben. „Ich wiederholte immer wieder, dass das nicht wahr sei“, sagte Khan. „Dann gaben sie mir wieder Stromschläge auf meine Genitalien und Wunden. Einer von ihnen sagte: „Ich werde dich impotent machen“.

Die Regierung Modis treibt indes laut Raja Singh, Mitglied der hindunationalistischen BJP, den weiteren Ausbau der Armee voran. „Diese Armee wird in jeder Ecke Indiens aufgestellt werden. In den kommenden Tagen wird derjenige Verräter, der sich in Indien verbirgt, herausgezerrt und erschöpft und nach außen geschickt – oder sogar direkt nach Jahannum (Hölle). Das ist unser Versprechen, das ist unser Programm“.

Zudem hält sich der Oberste Gerichtshof Indiens im Fall Jammu und Kaschmir nicht an die Indische Verfassung. Dushyant schreibt treffend: „Vierzig Tage sind vergangen, und der Oberste Gerichtshof muss noch nicht einmal die Anfechtung des Gesetzes hören, das darauf abzielt, die verfassungsmäßigen Schutzmaßnahmen für Jammu und Kaschmir zu ändern. Es gibt eine Prima-Facie-Suspendierung der Freiheiten und Rechte, die den Menschen in Indien, einschließlich Jammu und Kaschmir, durch die indische Verfassung garantiert sind. In diesen mehr als 40 Tagen hat der Oberste Gerichtshof die indische Regierung nicht einmal gefragt: Wie steht diese Aussetzung der Rechte und Freiheiten unter verfassungsmäßiger Kontrolle? Es wurde nicht einmal behauptet, dass die Verletzung der Grundrechte einer rechtlichen Rechtfertigung bedarf.“

Internationale Komplizenschaft

Die weltweite Empörung um die indische Regierung und ihren illegalen Verfassungscoup in den Medien war kurz. Ein/e Aktivist*in aus Kaschmir, die zurzeit in Deutschland lebt, kritisiert im Gespräch mit Lower Class Magazine: „Deutschland oder Europa könnten Kaschmir enorm helfen, aber Indien ist ein großer Markt, und ich denke, keines der europäischen Länder würde sich irgendwelche Probleme mit Indien wünschen. Aber ich wünschte, sie würden ihre Interessen beiseite lassen und den Menschenrechtsverletzungen mehr Bedeutung beimessen und den Völkermord in Kaschmir stoppen.“

Der bilaterale Handel zwischen Indien und Deutschland lag im Jahr 2018 bei einem Volumen von rund 18,2 Mrd. Euro in den ersten Monaten. In der Rangfolge der deutschen Handelspartner steht Indien auf Platz 26 und bei Einfuhren auf Platz 27. Umgekehrt liegt Deutschland in Indien als Lieferant auf Platz 10, und als Abnehmer indischer Waren an 6. Stelle. Würde Deutschland nun den Handel mit Indien stoppen, wäre dies ein immenser wirtschaftlicher Schlag für Indien und würde die indische Regierung tatsächlich unter Druck setzen.

Vor allem die Vereinten Nationen hätten schon im August schnell und effektiv handeln müssen, zumal Indien um einen permanenten Sitz im UN Sicherheitsrat bemüht ist. Doch bislang geschah nichts.

Es ist jedoch nicht nur Passivität und Tatenlosigkeit zu sehen, sondern auch aktive Legitimation und Ehrungen von Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen. Das geht so weit, dass der indische Premierminister Narendra Modi am 24. September in New York City bei den Global Goals Awardmit dem „Global Goalkeeper“ Preis der Bill & Melinda Gates Foundation ausgezeichnet werden soll. Diese wird im Rahmen der Veranstaltung rund um die UN-Generalversammlung verliehen. Der Preis wird an Personen vergeben, die sich für die Verbesserung der Lebenssituationen von Armen eingesetzt haben. Narendra Modi soll dabei für seine Swacch Bharat Mission (Clean India Mission) für den Bau von Toiletten für Millionen von ländlichen Indern geehrt werden. Die Realität ist jedoch, dass Arbeiter*innen in Kanalisationen aufgrund von giftigen Gasen sterben, da sie nicht mit Schutzausüstungen ausgestattet sind. Aktivist*innen fordern die Stiftung auf, den Preis wegen den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, vor allem in Jammu und Kaschmir, zurückzuziehen. Mehr als 100.000 Menschen haben eine Petition unterzeichnet, in der sie sich an die Bill & Melinda Gates Foundation wenden, um die Ausszeichnung an Modi zurückzuziehen. “Sollte Modi tatsächlich ausgezeichnet werden, so bedeutet dies Menschenrechtsverletzungen zu tolerieren, die indische Zivilgesellschaft und Menschen, die für Gerechtigkeit kämpfen, zu demoralisieren, Straffreiheit zu honorieren und Minderheitenrechte zu ignorieren”, so der Menschenrechtsanwalt Arjun Sethi in einem Tweet.

Des Weiteren besucht Modi am 22. September in Houston, Texas, eine Megarallye mit dem Titel “Howdy Modi”. Partisan*innen in Indien bezeichnen diese als “Pep-Rallye” für Modi und Politiker*innen, wie der Bürgermeister von Houston, Sylvester Turner, planen daran teilzunehmen. Dabei wird “Howdy Modi” von Führer*innen der US-Ableger der faschistischen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, “Nationale Freiwilligenorganisation”) organisiert.

Internationale Dimension

Die Annektierung Jammu und Kaschmirs von der indischen Regierung ist eine Provokation vor allem für Pakistan, aber auch für China, Pakistans ältestem Verbündeter. Am 15. August forderte China den UN-Sicherheitsrat auf, noch in derselben Woche zur Lage in Kaschmir zu tagen und unterstützt dabei die Forderung Pakistans. Pakistans Premierminister Imran Khan ist der Meinung, Indien würde Angriffe auf den pakistanischen Teil Kaschmirs planen und bringt Truppen in Stellung. Russland und Israel hingegen sind enge Verbündete Indiens. Israel ist daran interessiert rechte Politik international zu unterstützen und befürwortet Siedlerkolonien und Mauernziehungen in Kaschmir und anderen Staaten, um auch ihre eigene Kolonialmacht zu legitimieren. Die Vereinigten Staaten würden Indien unterstützen, da China und die USA zurzeit wirtschaftlich einen Krieg führen. Auch konkurriert China mit Indien wirtschaftlich. Es droht nach wie vor ein verheerender Konflikt zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan, der internationale Dimensionen hätte.

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