Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil ist in Südamerika unterwegs, beobachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und spricht mit Menschen im Alltag über die ökonomischen und sozialen Probleme der Region sowie über ihre verschiedenen Formen, Widerstand zu leisten. In den kommenden Wochen berichtet sie regelmäßig im Lower Class Magazine über ihre Eindrücke. Von der peruanischen Küstenstadt Trujillo, den Anden von La Libertad, der Regenwaldregion Perus und den Kämpfen von arbeitenden Frauen in Lima hat sie bereits berichtet. Weiter geht es vom Museum der Nation bis zur südlichsten Grenzstadt Tacna.
Wir gehen ins Museum der Nation an einer viel befahrenen Schnellstraße der Stadt, Javier Prado Este. Im Gebäude des Kulturministeriums befindet sich die Dauerausstellung der Comisión de la Verdad y Reconciliación (CVR), der Wahrheits- und Versöhnungskommission des Landes. Ähnlich wie in der Post-Apartheid Südafrika wurden in den 1990er und 2000er Jahren in ganz Lateinamerika, nach der sogenannten Rückkehr der Demokratie in Ländern mit jahrelangen (Militär-)Diktaturen, diese Kommissionen eingesetzt, um angeblich die ‚Verbrechen von allen Seiten‘ aufzuarbeiten und mit der Wahrheitsfindung zur Versöhnung der Gesellschaft beizutragen.
Die Ausstellung Yuyanapaq, quetschua1 für „zum Erinnern“, im 6. Stock des besagten Ministeriums, ist eine eindringliche Fotoausstellung. Fast komplett in schwarz-weiß gehalten, zeigt sie die Sicht der CVR auf den internen Krieg, der von 1980 bis 2000 Tausende Tote und Vertriebene zu verantworten hat. In der Ausstellung werden die Verbrechen des Staates und die von den Guerillas Partido Comunista del Peru – Sendero Luminoso (PCP-SL) und des Movimiento Revolucionario Túpac Amaru (MRTA) fast gleich gesetzt. Diese Darstellung deckt sich auch mit der hegemonialen Geschichtsschreibung des peruanischen Staates. Wenn über die Zeit des internen Krieges gesprochen wird, heißt es „Die Zeit des Terrorismus“. Dabei sind die bewaffneten Aktionen der maoistischen PCP-SL bzw. der guevaristischen MRTA bei weitem nicht gleichzusetzen mit der Brutalität und dem systematischen Terror, welcher die peruanische Armee sowie die paramilitärischen Kräfte des Staates zu verantworten haben.
In 24 Räumen werden Einblicke in eine Zeit gegeben, die nicht so weit her ist. In kaum einem Raum gibt es keine Bilder von verstümmelten Leichen; meist sind es die Militärs, die hierfür verantwortlich sind. Trotzdem heißt es oft verallgemeinernd „Alle Seiten waren an der Gewalt beteiligt“ oder „Es gab viele Tote zu der Zeit“. Eine historische oder gar ökonomische Kontextualisierung des „Warum?“ findet nicht statt.
Mich bewegen vor allem die Bilder von Kindern und Jugendlichen: ein junges Mädchen, höchstens zwölf Jahre alt, welches verzweifelt die Hand ihres Vaters nicht los lassen will, während dieser von der Polizei, mit dem Vorwand „Terrorverdacht“, abgeführt wird. Ein kleines Kind, vielleicht ein Jahr alt, welches auf dem Arm seiner Mutter hinter Gittern in die Kamera guckt. Das Baby ist Produkt der Vergewaltigungen, welche die Gefangene des PCP-SL in Haft überlebt hat. Die Frau ist zum Zeitpunkt der Aufnahme Anfang der 1990er Jahre weiterhin in Haft. Ausschnitte von journalistischen Aufnahmen, die jugendlich aussehende Männer zeigen, wie sie in den Kofferraum eines Autos gezerrt werden. Es sind die letzten Bilder der beiden Männer, bevor sie am nächsten Tag leblos von ihren Angehörigen auf einer Polizeistation abgeholt werden.
Der Kampf des peruanischen Staates um die Erinnerung und des „wie“ erinnert wird, ist stark. Solche Ausstellungen gehören genauso zur Staatsideologie wie Schulbücher, in denen in ein oder zwei Schulstunden von der „Zeit des Terrorismus“ erzählt wird und Marxismus oder Sozialismus mit einer spezifischen maoistischen Auslegung und einer kompletten Dämonisierung des PCP-SL sowie des kleineren MRTA vermittelt wird.
Die CVR ist keine neutrale Instanz. Sie ist Teil der Klassenjustiz des siegreichen peruanischen Staates gegenüber einem Feind, welcher mehrheitlich aus revolutionären Bäuer*innen, Arbeiter*innen und Student*innen bestand. Es gab nicht zu rechtfertigende Gewaltexzesse von Seiten der Guerillas, jedoch waren die Hauptziele der revolutionären Gewalt der peruanische Staat, sein Apparat sowie das nationale und internationale Kapital und seine Repräsentant*innen im Land. Die Strategie der hegemonialen PCP-SL Guerilla „des Volkskrieges vom Land in die Stadt“, kombiniert mit der Perspektive des Aufbaues eines Staates „neuen demokratischen Types“, motivierte von den 1970er bis 1990er Jahren eine ganze Generation junger Menschen für ein sozialistisches Projekt ihr Leben zu geben. Ohne große Präsenz anderer revolutionärer Organisationen wurde so der Marxismus-Leninismus-Maoismus Gonzalo Gedanke, nach dem Kampfnamen des Anführers der Partei, dem Philosophieprofessor Abimaél Guzmán, Anfang der 1980er Jahre zur vorherrschenden Kraft im Andenland.
Seit Anfang der 1990er Jahren sitzen alle Anführer/innen der Partei im Gefängnis oder leben im Exil. Es besteht keine Arbeit an der Basis der heutigen Kämpfe von Arbeiter*innen und Bäuer*innen im Land. Die einzige politische Aufgabe für die noch verbleibenden Mitglieder des PCP-SL besteht darin, die historischen Anführer/innen der Partei durch Verhandlungen mit dem peruanischen Staat nach nun mehr als 25 Jahren aus der Haft zu entlassen. Eine nennenswerte Verankerung in der Bevölkerung und ihren Kämpfen haben alle Guerillagruppen verloren.
Nach einem Monat Hauptstadt fahren wir weiter gen Süden. 22 Stunden dauert es bis nach Tacna, der südlichsten Stadt des Landes. Auch hier ist die nationale Erinnerungspolitik präsent. Es geht jedoch um einen anderen Krieg. In der südlichsten Provinz ist bis heute der Krieg gegen Chile Ende des 19ten Jahrhunderts durch riesige Denkmäler, Museen und Namen von Generälen des Krieges an jeder Straßenecke präsent.
In einem Stellvertreterkrieg Englands griff 1879 Chile die Allianz zwischen Peru und Bolivien, aufgrund der Einführung einer neuen Exportsteuer für chilenische Salpeterunternehmen in Bolivien, an. Der Salpeterkrieg, der bis 1884 wütete, kostete über 30.000 Menschen das Leben – mehrheitlich Peruaner*innen und Bolivianer*innen. Neben den Tausenden Toten war eine der zentralen Konsequenzen eine neue Grenzziehung der Länder. Bolivien verlor große Teile seines Territoriums, inkl. den Zugang zum Pazifik. Peru verlor einen Teil des Süden des Landes. In einem zum Ende des Krieges festgehaltenen Friedensvertrag sollten die Städte Tacna und Arica – unter chilenischer Verwaltung – selber entscheiden, ob sie zurück nach Peru oder weiterhin als Teil von Chile fortbestehen wollten. Die Bewohner*innen Tacnas entschieden sich für Peru. Arica entschied sich für Chile.
Der peruanische Nationalismus ist in dieser Grenzregion mit Chile gen Süden und Bolivien gen Osten besonders stark. Hier ist man Stolz auf die „Heroische Stadt Tacna“, wie Tacna seit 1929 offiziell heißt. Von gemeinsamen Interessen der Arbeiter*innen in Chile und Bolivien mit den Arbeiter*innen in Peru wollen die wenigsten etwas wissen.
Die Stadt mit knapp 300.000 Einwohner*innen ist überschaubar. Überall floriert der Grenzmarkt: Chilen*innen kommen nach Tacna, um sich günstig in den Dutzenden Praxen zahnärztlich behandeln zu lassen oder um Einkäufe zu machen. „Hier in Tacna ist alle so viel günstiger“, kommentiert eine chilenische Touristin ihren Aufenthalt, „in Chile wäre das alles für uns unbezahlbar“. Mittlerweile hat Chile durch seinen nachhaltigen Neoliberalisierungskurs Brasilien als teuerstes Land in Südamerika abgelöst.
Nach wenigen Tagen in Tacna geht es für uns über die nahegelegene Grenze weiter nach Chile.
1 Sprachfamilie in den Anden – die hegemoniale Imperialsprache des Tahuantinsuyo vor der spanischen Eroberung und Kolonisierung. Das Tahuantinsuyo war das politisch-militärische Einflussgebiet der Quetschua-Kultur, welches sich vom Norden Südamerikas bis zum heutigen Chile und Argentinien erstreckte.
# Eleonora Roldán Mendívil
# Titelbild: In den 1980er und 1990er Jahren ist der Maoismus unter Arbeiter*innen und Studierenden hegemonial: Ein Foto der Ausstellung Yuyanapaq zeigt die Innenansicht einer Universität in Lima während des internen Krieges, Eleonora Roldán Mendívil