Das System »Einzelfall«

10. Februar 2019

Autor*in

Ronny Rauch

Die deutsche Polizei, ihr Korpsgeist und die systematische Straflosigkeit von Verbrechen im Amt

Am 29. Januar 2018 gegen 13 Uhr rast ein Streifenwagen in der Berliner Grunerstraße in das Auto der 21-jährigen Fabien M. Die junge Frau stirbt. Die Hauptstadtpresse verbucht die Angelegenheit als tragischen Unfall. Springers BZ titelte „Starb Fabien (21), weil sie abgelenkt war?“ – und berief sich auf Informationen aus Ermittlerkreisen, dass die Tote während des Crashs telefoniert habe.

Ein Jahr später ist die Erzählung eine ganz andere: Der Fahrer des Einsatzwagens, Peter G., hatte noch im Krankenhaus 1,0 Promille. Niemand hatte recherchiert – weder seine Kollegen, noch die selbsternannte „fünfte Gewalt“, die Presse. Dass die Polizistin, die neben G. im Auto saß, nicht bemerkt haben soll, dass der schon vorher durch Gewaltandrohungen gegen Linke auffällige Exzentriker schwer betrunken war, ist unglaubwürdig. Dass niemand anders davon Kenntnis erlangte, ebenso. Kein Alkoholtest wurde angeordnet. Man schwieg, wie man schweigt, wenn es um die Kameraden geht. Peter G. – von moralischen Selbstzweifeln offenbar unberührt – schrieb wenig später auf Facebook: „Ich bin grad verdammt froh, dass #polizeifamilie wirklich real sein kann. Danke an euch, die gerade da sind und ihren Arsch riskieren.“

Dass die Hauptstadtpresse nach dem Unfall nicht nachfragte, hat ähnliche Gründe. Die Polizeireporter der großen Blätter pflegen ein enges, oft freundschaftliches Verhältnis zu Beamten der Behörde. Der Deal ist: Ihr steckt uns gelegentlich Informationen, wir behandeln eure Verlautbarungen, als wären sie Fakten.

Man deckt sich gegenseitig, eine unabhängige Kontrollinstanz gibt es nicht. Nur wenn es gar nicht anders geht – im Fall der Tötung von Fabien M. weil ein „anonymer Hinweisgeber“ das Schweigen brach -, dann wird eingestanden. Das aber immer mit der Einschränkung: Ein Einzelfall. Tragisch. Schlimm. Passiert. Aber hat keinen tieferen Grund. Gehen sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen.

Wie ein Clan, nur besser

Es sind tausende solcher „Einzelfälle“ jährlich, die bekannt werden. Sie reichen von selbstverständlich begangenen Körperverletzungen auf Demonstrationen oder bei „normalen“ Festnahmen, gelegentliche Misshandlungen von psychisch Kranken über Drogendelikte bis hin zu Freiheitsberaubung wie im Falle Amad Amads oder gar Tötungsdelikten, deren Aufklärung verhindert wird. Die Liste der „Einzelfälle“ von Polizisten, die Straftaten von Faschisten und Neonazis begünstigten, oder selbst aus politisch rechter Gesinnung Straftaten begingen, lassen sich hier nicht vollständig nennen: Verstrickungen in das Umfeld der neonazistischen Terrorbande NSU, Weitergabe von Informationen an Nazis, rechte Drohbriefe an unliebsame Personen, Drohbriefe an Linke – um nur einige wenige jüngere Beispiele zu nennen.

Wer hin und wieder mit der Polizei zu tun hat, kennt die Mentalität eines Großteils der Beamten. Viele sind stramm rechts. Viele haben eine ordentliche Portion Rassismus entwickelt, von der sie glauben, dass sie empirisch durch ihre Berufserfahrungen gedeckt sind. Und ein noch größerer Teil glaubt, dass die Regeln, die sie anderen gegenüber durchsetzen, für sie selbst nur eingeschränkt bis gar nicht gelten. Mal eine Faust ins Gesicht eines Festgenommenen, wer kann es einem verdenken, man ist ja auch nur Mensch und da gehen einem schon mal die Nerven durch …

Jeder, der politisch aktiv ist, eine andere Hautfarbe als die der deutschen Mehrheitsgesellschaft hat oder in Armut lebt, weiß, dass die öffentlich bekannten „Einzelfälle“ nicht einmal die Spitze des Eisberges darstellen. Warum? Weil die meisten Opfer von Gewalttaten durch Polizeibeamte überhaupt keine Chance sehen, ihren Fall juristisch zum Erfolg zu bringen.

Vor Gericht greift nämlich ein weiterer Mechanismus des Verschleierns und Vertuschens. Die Staatsanwaltschaften sind auf die Polizeibeamt*innen angewiesen, sind mit ihnen auf Du und Du. Man kennt sich. Polizisten sprechen ihre Aussagen untereinander ab. Und es ist ein offenes Geheimnis: Wenn du einen Cop wegen einer Straftat anzeigst, kommt automatisch die Gegenanzeige durch die Polizei – schon damit sie den Übergriff als legitime Gewaltanwendung gegen einen Straftäter verkaufen können.

Dazu kommt das Image der Polizei. Der Staat muss die von ihm lizensierte Truppe natürlich als eine Art objektive Instanz inszenieren. Da geht schon alles mit rechten Dingen zu. Vor Gericht hat dann etwa ein Dealer, dem der Kommissar mal rasch noch eine mitgegeben hat, kaum Chancen.

Das System funktioniert nicht viel anders als in einem Clan oder der Mafia. Eine Hand wäscht die andere. Man verpfeift keinen aus der „Polizeifamilie“. Der maßgebliche Unterschied: Dieser Clan wird vom Staat mit dem Gewaltmonopol ausgestattet, um ihn und seine Eigentumsordnung durchzusetzen. Die Möglichkeiten, Straftaten unter den Tisch zu kehren, sind unter diesen Bedingungen grenzenlos. Davon können Abou Chakers oder Miris nur träumen.

Deckel drauf

Dann und wann bricht natürlich auch die schärfste Omerta. Ein Polizist bekommt moralische Zweifel, ein Staatsanwalt nimmt seinen Beruf zu ernst, ein Untersuchungsausschuss gräbt Dokumente aus. In diesen Fällen tritt dann an die Öffentlichkeit, wie ernst es der Behörde mit der „lückenlosen Aufklärung“ von Straftaten aus ihren eigenen Reihen ist.

Wenn Beamte einem deutschen Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klans beitreten, dann wird schon mal ein Verfahren jahrelang verzögert und die Dienstanweisung ausgegeben, „nicht in die Breite zu ermitteln“. Auch Foltervorwürfe werden rasch abgewickelt – „da soll der Deckel drauf“, sagt selbst ein früherer CDU-Bürgermeisterkandidat und Anwalt. Und wenn es schließlich gar nicht mehr geht und doch mal ein Kollege verurteilt wird, fallen die Strafen so gering aus, dass er weiter Dienst tun kann – und medial wird lang und breit erklärt, welche Probleme, den armen Uniformierten zum Zuschlagen trieben.

Die systematische Straflosigkeit von Gewalttätern in Uniform muss nicht an Beispielen allein belegt werden. Die Statistiken sprechen Bände. Tausende Anzeigen gibt es jedes Jahr gegen Polizeibeamte wegen Körperverletzung, davon werden – so der Kriminologe Tobias Singelnstein – nur zwei, drei Prozent überhaupt zur Anklage gebracht. Den Rest wickelt die Staatsanwaltschaft schon vorher ab.

Die von bürgerlichen Politikern aller Farben immer wiederholte Mär, die Polizei kontrolliere sich selbst und außerdem sei da ja noch die Justiz, scheitert an den Fakten. Das geschieht einfach nicht. Der Staat weiß das – und toleriert es nicht nur, sondern verleiht den Beamten immer mehr und mehr Kompetenzen, Mittel und Sonderrechte, aktuell etwa durch die „Polizeiaufgabengesetze“. Das ist der Lohn dafür, dass die Polizei ihre eigentliche Aufnahme wahrnimmt. Und die besteht keineswegs dafür, die „Bürger“, „Menschen“ oder die „Gesellschaft“ dieses Landes „zu schützen“, sondern schlichtweg die Verfasstheit dieses Staates und seiner Eigentumsordnung.

#Ronny Rauch

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2 Kommentare

    HB 13. Februar 2019 - 18:03

    Dazu als hilfreicher Hinweis die Tatsache, dass Amtsmissbrauch in Deutschland seit 1942 keinen Straftatbestand mehr erfüllt:

    „Dieses Beamtendelikt wurde im Dritten Reich auf der Grundlage des Erlasses des Führers über besondere Vollmachten des Reichsministers der Justiz[2] vom 20. August 1942 durch Art. 10 lit. b, Schlussvorschrift S. 1 der (Ersten) Verordnung zur Angleichung des Strafrechts des Altreichs und der Alpen- und Donau-Reichsgaue (Strafrechtsangleichungsverordnung) vom 29. Mai 1943[3] zum 15. Juni 1943 von dem Reichsminister der Justiz Otto Georg Thierack ersatzlos aufgehoben; dort hieß es: „§ 339 des Reichsstrafgesetzbuchs wird gestrichen“. Seitdem wurde der Amtsmissbrauch als Einzelstraftatbestand nicht wieder in das deutsche Strafgesetzbuch aufgenommen.“

    Via: https://de.wikipedia.org/wiki/Amtsmissbrauch_(Deutschland)

    Die Folgen werden im Artikel beschrieben.

    Götz 15. Februar 2019 - 17:37