Heute vor 20 Jahren wurde Andrea Wolf (Kampfname Ronahî) gemeinsam mit anderen Genoss*innen der kurdischen Freiheitsbewegung in den Bergen nahe der Stadt Catak in der Region Van von der türkischen Armee festgenommen, gefoltert und ermordet. Ein Gespräch mit Korbinian, einem langjährigen Genossen und Freund von Andrea Wolf: Es geht darum, herauszufinden, was Andrea und so viele andere damals umgetrieben hat, wie alles in München begann. Und was das für uns heute bedeutet.
Wir treffen uns in einem Café im Münchner Stadtteil Haidhausen. Heute ein reiches Viertel, längst gentrifiziert, in den 1980ern neben Nürnberg einer der Brennpunkte der autonomen Bewegung in Süddeutschland. Einige Straßen vom Café entfernt wurde hier Anfang 1985 ein autonomer Infoladen eröffnet, in dem auch Andrea aktiv war. „Es ging uns damals darum, einen Ort der Gegenkultur und Gegeninformation zu schaffen“, erinnert sich Korbinian. Der Infoladen wurde schnell zum Hotspot radikaler außerparlamentarischer Kräfte in Bayern, von dort gingen auch wichtige Impulse für die Proteste und Aktionen u.a. gegen die atomare Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) in Wackersdorf aus, die zum Kristallisationspunkt für die autonome Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland wurden.
Korbinian, was hat dich damals umgetrieben, was war da los in München?
Ich war in der autonomen Anti-Nato Bewegung der frühen 80er aktiv. Wir haben zum Beispiel Schulstreiks gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen der Nato (Pershing II) 1983 organisiert, auch Demos, Straßenaktionen und Blockaden. Andrea habe ich dann 1984 kennengelernt. Wir haben uns das erste Mal bei einem Solidaritäts-Treffen für politische Gefangene gesehen.
Worum ging es dann da genau?
Damals gab es in der BRD dutzende Gefangene aus den Stadtguerilla-Bewegungen, vor allem der früheren Bewegung 2. Juni und der Rote Armee Fraktion, RAF, aber auch aus anderen militanten Bewegungen, auch der türkischen und kurdischen Linken. Deutschland war ein Vorreiter in Sachen Hochsicherheitsgefängnisse und Isolationshaft. Damals gab es bereits internationale Kampagnen gegen Isolationshaft, weil Isolationshaft Folter ist. Wir haben uns damals getroffen, um die Zensur und die Isolationshaft durch direkte Kommunikation mit den politischen Gefangenen zu durchbrechen. Und haben die „Grußaktion“ für die politischen Gefangenen gestartet. Die Idee war, den politischen Gefangenen möglichst viele Briefe zu schreiben und Informationen zu schicken. Daraus sind viele langjährigen Briefkontakte zwischen draußen und drinnen entstanden, auch Besuche in den Knästen. Es gab auch größere Soli-Aktionen zu dem großen Hungerstreik der Gefangenen von Dezember 1984 bis Februar 1985. Der Hungerstreik wurde von zahlreichen militanten Aktionen begleitet und unterstützt. Allein die Forderung beziehungsweise gesprühte Parole „Für die Zusammenlegung der politischen Gefangenen aus RAF und Widerstand in große Gruppen“ verfolgten die Repressionsorgane damals Aktivist*innen mit dem § 129a – Werbung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Auch in München gab es zahlreiche Prozesse und Haftstrafen.
Andrea war ja zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren aktiv, wie ist sie denn dazugekommen?
Sie war bereits Anfang der 1980er in der Bewegung „Freizeit 81“ aktiv. Das war eine Jugendbewegung, die in München begonnen hat, mit dem Ziel der Verschmelzung von Kampf, Kunst, Punk und Politik. Es war eine sehr lebendige und offensive Bewegung, in einem Manifest der „Freizeit 81“ haben Andrea und ihre Genoss*innen damals geschrieben: „Wir müssen härter werden ohne unsere Zärtlichkeit zu verlieren.“ Mit 16 Jahren ging Andrea, zusammen mit ihrem Bruder Tom, dann zum ersten Mal für politische Aktionen in Haft. Wegen Graffitis und einem Brandanschlag auf eine Bank. Sie saß sechs Monate im bayerischen Aichach im Frauenknast.
Und dann gingen auch schon die Proteste gegen die WAA in Wackersdorf los. Der Startschuss für eine ganze Reihe von militanten Kämpfen für Gerechtigkeit und Ökologie…
…Die sich bis heute durchziehen. Wenn ich heute die Bilder aus dem Hambacher Forst sehe, und von den Baumhäusern, dann kommen auch die Erinnerungen an unsere Kämpfe in Wackersdorf wieder hoch. Anfang 1985 ist bekannt geworden, dass Franz Josef Strauß die WAA in Wackersdorf bauen will. Seit Jahren gab es bereits von Umweltschutzverbänden und Initiativen Proteste dagegen. Wir vom Infoladen München waren damals im bayernweiten Autonomen-Plenum organisiert, wo sich regelmäßig aus allen bayerischen Städten Leute getroffen haben. Wir haben dort beschlossen, dass wir in die Mobilisierung gegen die WAA voll einsteigen. Für uns war dabei auch immer klar, dass Atomkraft eine Technik ist, deren friedliche und militärische Nutzung nicht voneinander zu trennen ist. Deshalb war für uns der Kampf gegen Atomkraft immer auch ein Kampf gegen Krieg und gegen den Griff des deutschen Imperialismus nach der deutschen Atombombe. Man muss dazu wissen: Strauß und auch der Münchner Polizeipräsident haben sich damals noch offen für die atomare Bewaffnung Deutschlands ausgesprochen.
Und Wackersdorf wurde verhindert – auch wegen der Proteste. Wie habt ihr das geschafft?
Wir haben als autonome Bewegung im Wald von Wackersdorf damals eine Lichtung besetzt, erst ein Camp, und während der Rodungssaison dann Hütten aufgebaut. Das war ein riesiger politischer Erfolg. Den ersten Räumungsversuch der Polizei haben wir zurückgeschlagen. Die Polizei musste aus der ganzen Republik neue Hundertschaften holen und konnte den Platz erst einen Tag später räumen. Wenige Wochen danach gab es dann aber eine noch größere Besetzung, die mehrere Wochen lang dauerte. Auf dem großen Münchner Widerstandszelt hing ein Transparent mit dem Porträt der ehemaligen Journalistin und RAF-Kämpferin Ulrike Meinhof und einem Zitat von ihr: „Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht“. Dieser Satz drückt auch viel von der Haltung und Stärke von Andrea aus: Nicht lockerlassen, hartnäckig, konsequent und unbequem sein. Sich nicht mit Protest zufriedengeben, sondern in die Aktion kommen. Den Bruch mit dem System zu leben und für eine andere Gesellschaft zu kämpfen. Denn Kapitalismus bedeutet immer Ausbeutung von Mensch und Natur.
1986 ist Andrea dann von München nach Frankfurt am Main gezogen, warum?
Sie wollte noch mal frei von Zuschreibungen und unabhängig von Altlasten in einer neuen Stadt anfangen. Und auch der Tod ihres Zwillingsbruders Tom war für sie ein schwerer Schlag. Sie ist dann zu Genoss*innen in ein besetztes Haus nach Frankfurt gezogen, die wir bereits aus dem Widerstand gegen die WAA und die Startbahn West in Frankfurt am Main kannten. Sie wollte noch einmal neu anfangen und vieles hinter sich lassen. Aber ihre Haltung und ihr Einsatz haben sich nicht geändert. Sie war in der autonomen feministischen Frauenbewegung aktiv, in der Hausbesetzerszene und auch in den Kämpfen gegen die Startbahn West, den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Der Widerstand gegen die Naturzerstörung durch den Ausbau wurden schnell auch zu einem sehr wichtigen Bezugspunkt der Autonomen und der Umweltbewegung. Dort ist viel zusammengelaufen, man kannte sich ja auch schon vom Widerstand gegen die WAA. Die zwischenmenschlichen Bindungen waren sehr stark damals, wahrscheinlich stärker als heute.
„Den Sprung von der spontanen Bewegung zur organisierten revolutionären Kraft einleiten“ heißt es in einem Strategiepapier aus dem Jahr 1987, an dem auch Andrea beteiligt war. Wie haben sich sie und ihre Genoss*innen diesen Organisierungsprozess vorgestellt?
Es ging vor allem darum, die Kämpfe zusammenzuführen und sich verbindlicher zu organisieren. Wichtig war Andrea dabei, sich nicht nur auf Kämpfe in der BRD zu beschränken, sondern international Solidarität aufzubauen. „Kein Friede“, die Gruppe in der sie später in Frankfurt aktiv war, war gemeinsam mit dem Münchner „AK Internationalismus“ eine der treibenden Kräfte für den Widerstand gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Sie war in der Organisierung für den Gegenkongress aktiv – dort wollten wir gemeinsame Perspektiven internationalistischer Bewegungen diskutiert. Es waren Vertreter*innen aus der ganzen Welt eingeladen, unter anderem aus El Salvador und Nicaragua, die Nachfolger*innen der Black Panthers und des militanten Indian Movement (AIM) aus den USA, von den Philippinen und nicht zuletzt auch die PKK, die damals noch nicht verboten war.
Ziel war es nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus eine neue Standortbestimmung der Linken zu beginnen. Für Andrea war der Austausch und das voneinander Lernen zwischen verschiedenen Bewegungen aus aller Welt immer sehr wichtig. Nach den Protesten gegen den Weltwirtschaftsgipfel ist Andrea dann auch für einige Monate selbst nach Nicaragua, El Salvador und in die USA gereist, um die Verbindungen, die in München geknüpft worden waren, weiter auszubauen.
Wie hat denn der deutsche Staat damals auf diesen neuen Anlauf, auf die Vernetzung der Widerstände reagiert?
Mit Repression. Bereits 1987 war Andrea in Frankfurt einige Monate in Untersuchungshaft, man warf ihr und anderen damals vor, am Aufbau einer terroristischen Vereinigung zu arbeiten. Und 1993 wurde dann ja auch die PKK in Deutschland verboten, auch eine Reaktion auf die Proteste und den Widerstand – und nicht zuletzt auch ein Bekenntnis des deutschen Staates zur Türkei, die damals schon einen sehr blutigen Krieg gegen die Kurd*innen und die Freiheitsbewegung in Kurdistan führte.
Die Repression hat dann ja auch dazu geführt, dass Andrea in den Untergrund ging…
Ja genau. Als sie 1994 von ihrer Reise nach Mittel- und Nordamerika zurückkam, stand ein Haftbefehl gegen sie aus. Die Behörden warfen ihr vor, an einem Sprengstoffanschlag der RAF auf den (noch leeren) Neubau des Gefängnisses in Weiterstadt beteiligt gewesen zu sein – was absurd ist, weil sie in dieser Zeit nachweislich nicht in Deutschland war.
Und dann?
Andrea hat sich ihrer bevorstehenden Verhaftung entzogen und ist erstmal in Europa für einige Monate untergetaucht, um sich die Entwicklungen in Ruhe anschauen zu können. In dieser Zeit hat sie durch Briefe und Texte weiter an der Diskussion teilgenommen und sich darauf vorbereitet, nach Kurdistan zur Frauenguerilla zu gehen.
Im zweiten Teil wird es um Andreas Zeit bei der Frauenguerilla in Kurdistan gehen. Um ihre Ermordung und darum, was ihr Leben und ihr Tod für uns heute bedeuten.
Interview: Anselm Schindler
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• Gedenkveranstaltung am Samstag, 27. Oktober 2018
18.30 – 22 Uhr Bellevue di Monaco, Müllerstraße 2
80469 München
• Internationalistische Demonstration in München
Auftakt: 13 Uhr Marienplatz am Samstag, 27. Oktober 2018
Heike Hütt 23. Oktober 2018 - 18:57
so lange nicht an Andrea gedacht
anderes Leben, andere Wege
was für eine wunderbare junge Frau in Erinnerung bleibt
Rest in Power