Alles andere als harmlos

28. August 2018

Wer in dieser Gesellschaft nicht irgendwann mal ausrastet, der ist nicht normal. Diese Abwandlung eines alten Spontispruchs hat heute mehr denn je Gültigkeit. Wer aber ausrastet, über den kommt der Polizeistaat. Mit zunehmender Härte und Brutalität. In Norddeutschland sind jetzt innerhalb von drei Tagen zwei offensichtlich psychisch kranke Menschen ums Leben gebracht worden – nach dem Einsatz von Pfefferspray durch Polizeibeamte. Auch wenn denen juristisch und vielleicht sogar persönlich nicht viel vorzuwerfen ist – hier lässt sich ein anderer Satz, aus einem anderen Fall bekannt, zitieren: Das war Mord!

Die Fakten, soweit sie bisher zugänglich sind:

Am 19. August, einem Sonntag, wurde in Hannover die Polizei gerufen, weil ein 39 Jahre alter Mann mit einer Eisenstange auf Autos einschlug. Als der Streifenwagen eintraf, vermutlich mit „Sonderrechten“, also angeschaltetem Blaulicht und Hornsignal, schlug der Mann auch auf das Polizeifahrzeug ein. Die Beamten griff er mit der Stange an, bewarf sie außerdem mit Steinen. An dieser Stelle fiel den beiden eingesetzten Polizisten nicht etwa ein, sich zurückzuziehen oder ein Einsatzkommando und einen Psychologen zu alarmieren – man zückte Pfefferspray und besprühte den verzweifelt Randalierenden. Wie anzunehmen ist, großflächig.

Im Beamtendeutsch heißt das, die Person habe sich so stark „gegen die Festnahme gewehrt“, dass „ein Reizmittel“ eingesetzt werden „musste“. Die Einsatzkräfte hätten, berichteten Medien später „vor Ort Drogenkonsum vermutet“. Lapidar wurde angefügt, der Mann sei im Krankenhaus verstorben, der NDR berichtete bereits am Montag, er habe an einer Herzkrankheit gelitten. Der Fall werde untersucht, ein toxikologisches Gutachten werde weitere Klarheit schaffen.

Am Dienstag der zweite Fall. Ein 57 Jahre alter Mann war in die psychiatrische Abteilung der Asklepios Klinik (AK) Harburg gebracht worden. Er sollte einem Richter vorgeführt werden, der, wie es das Gesetz vorsieht, über seine weitere Unterbringung entscheiden sollte. Der 57Jährige habe sich gegen diese Vorführung gewehrt, sich in einem Zimmer verbarrikadiert und – wie Asklepios und die Polizei Hamburg zunächst mitteilten – „dort randaliert und sich mit angespitzten Holzstäben bewaffnet“.

Na gut, ganz so war es nicht, aber man brauchte am Anfang offenbar irgendwas, um das Folgende vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Ein Sprecher des Klinikkonzerns stellte später richtig, dass es sich um herausgerissene Fußleisten gehandelt hatte, die auch nicht angespitzt waren.

Jedenfalls ging es dann, wenn man den Verlautbarungen Glauben schenken will, etwa so weiter. Die Polizei brach die Tür zu dem Zimmer auf, besprühte den Kranken mit Pfefferspray und brachte ihn zu Boden. Mitarbeiter der Station spritzten ihm ein Beruhigungsmittel, der Mann wehrte sich aber weiterhin. Daraufhin wurde er auf dem Boden fixiert. Er verlor das Bewusstsein und starb noch vor Ort – in der Psychiatrie des AK Harburg, in die er eingeliefert worden war, weil man bei ihm „Fremdgefährdung“ oder „Eigengefährdung“ annahm, also Suizidgefahr…

Zwei derartige Fälle in nur drei Tagen in Hamburg und Hannover, und was war es der bürgerlichen Presse wert? Längere Meldungen, Kurztexte, die den Opfern noch die Schuld zuwiesen. Wer „verrückt“ ist, wer durchdreht, der hat offenbar sein Lebensrecht für die bürgerliche Medien verwirkt. Ein Aufschrei blieb aus! Rühmliche Ausnahme der Lokalpresse: die tageszeitung.

Das zumindest im deutschen Norden kämpferische Blatt wies auf die Gefährlichkeit des Grundstoffes hin, aus dem Pfefferspray hergestellt wird. Und darauf, dass es sich um eine im Krieg verbotene Waffe handle, die im Inneren aber eingesetzt werden darf (und wie alle linken Demonstrant*innen wissen, auch in Literweise verbraucht wird). Darauf, dass aus Sicht von Amnesty International für bestimmte Risikogruppen – Asthmatiker, Allergiker und Menschen mit psychischen Störungen – der Einsatz von Pfefferspray tödlich enden kann, gerade auch wenn diese unter dem Einfluss von Psychopharmaka oder illegalisierten Drogen stehen, wird keine Rücksicht genommen.

In Hannover dekretierte ein Oberstaatsanwalt gegenüber der taz, er sehe keinen Grund für irgendwelche Ermittlungen. Es sei keinerlei strafbares Handeln zu erkennen. In Hamburg bekannte die Staatsanwaltschaft immerhin, im dortigen Fall ermitteln zu werden und wenn dabei Ansätze für den Verdacht strafbaren Handelns auftauchten, dem auch nachzugehen. Warten wir es ab.

Es häufen sich in den vergangenen Monaten die Fälle, in denen Menschen, die abweichende Verhaltensweisen zeigen, von der Polizei schwer verletzt oder getötet werden. Kaum jemand fragt danach, warum offenbar immer mehr Menschen Amok laufen und scheinbar anlasslos randalieren. Das ist eine Frage, die uns allen weiterhelfen könnte, wenn wir eine Antwort darauf suchen würden.

Bei der Polizei zeigt sich, dass sie gnadenlos überfordert ist und die Beamten fast durchweg nicht wissen, wie sie in solchen Fällen angemessen zu reagieren haben. Noch skandalöser und erschreckender ist aber, was immer noch in den Psychiatrien geschieht und wie immer noch Ärzt*innen und Pflegepersonal über angeblich Kranke herrschen. Menschen, die ihrer Fürsorge und Hilfe bedürfen. Der pensionierte Gefängnispsychologe und Buchautor Götz Eisenberg aus Gießen, einer der wenigen, der gesellschaftliche Vorgänge in diesem Land in ihrer ganzen Tiefe begreifen, schrieb in seinem Buch „Zwischen Amok und Alzheimer“, 2015, folgendes:

„Der italienische Psychiater Franco Basaglia hat von Befriedungsversprechen gesprochen, wenn Pfleger und Ärzte sich dazu hergeben, psychisch kranke Menschen all ihrer bürgerlichen Rechte zu berauben, sie zu fesseln und abzuspritzen, bis sie sich vollständig unterwerfen, weil ihre Widerstandskräfte verbraucht sind.“

Die Kritik Basaglias, erläutert Eisenberg, habe sich auf die Zustände in den „Irrenhäusern“ im Italien der 60er und 70er bezogen. Aber man müsse sie heute, „auf die Gesamtgesellschaft und das Spinnennetz des psycho-sozialen Helfer- und Spezialistentums ausweiten, das seine subtiler gewordenen Befriedungsverbrechen an all jenen begeht, die von einer gnadenlosen sozialdarwinistischen Leistungskonkurrenz als untauglich ausgespuckt werden“.

#Kristian Stemmler

#Titelbild Willi Effenberger

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Ein Kommentar über “Alles andere als harmlos”

    - 9. September 2018 - 14:03

    Das steht zuerst „Befriedungsversprechen“ und dann „-verbrechen“, weiß nicht ob das ein Fehler ist.