Die Debatte um Mesut Özil dreht sich um mehr als den Diktatoren-Faible eines Fußballers: Sie zerbricht die Illusion, dass wir Migrant*innen hier irgendwann und irgendwie doch „dazugehören“ können.
In den letzten Tagen scheint die bundesdeutsche Öffentlichkeit nichts so sehr zu beschäftigen wie die Özil-Affäre. Ist es Rassismus oder hat Özil Deutschland verraten? Haben wir sein Herz gebrochen oder kann der Junge sich nicht benehmen? Mesut, 1988 in Gelsenkirchen geboren, erfolgreicher deutscher Fußballspieler und „wir waren Weltmeister“ – 2014 in Brasilien; die gute alte Zeit, in der zu dem besagten „wir“ neben Jürgen und Detlef auch Ali und Mustafa irgendwie gehören sollten, so zumindest die recht optimistische – um nicht zu sagen, heuchlerische – liberale Interpretation des WM-Kaders, in dem Mesut, Sami, Miroslav und Jérôme mit Matthias, Philipp und Thomas Seite an Seite standen.
War der deutsche WM-Sieg 1990 zum Symbol der „Wiedervereinigung“, einer deutschen Nation und zum ersten Etappensieg eines neuen Nationalstolzes geworden, den es öffentlich abzufeiern galt, so hätte 2014 das Symbol eines neuen Deutschlands, einer neuen deutschen Nation darstellen sollen, zu der man nicht mehr nur durch Blut, sondern durch Boden, d.h. Geburtsort, gehören könne. Lassen wir mal beiseite, wie es 2014 um Ali und Mustafa stand; Mesut war Weltmeister und irgendwie Deutscher.
Nun liegt aber 2014 vier Jahre zurück; seitdem ist verdammt viel Wasser den Bach heruntergeflossen. Und auch Mesut ist in der Wüste der Gegenwart angekommen: Er ist Türke in Deutschland; vom erfolgreichen Deutschen ist er wieder zum gescheiterten Immigranten geworden: „Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, aber Immigrant, wenn wir verlieren.“
Ob in Mesuts Brust tatsächlich zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches, schlagen, oder ob er sich zumindest in den letzten Tagen eher „türkisch fühlt“, aber aus publicity-Gründen zu solchen Worten gezwungen sieht, können wir nicht wissen. Es kann uns im Grunde genommen auch egal sein, wie und wo er seine aus dem Showbiz namens Fußball verdienten Millionen ausgeben, ob er sich in der Zukunft mit Merkel auf einem Integrationsgipfel oder mit Erdogan wo auch immer fotografieren lassen wird.
Egal ist die Debatte um Özil aber dennoch nicht, denn sie ist einerseits der Ausdruck des gesellschaftlichen Rassismus, mit dem Migrant_innen in Deutschland – deutscher Pass hin oder her – tagtäglich konfrontiert sind, und lässt andererseits selbst den/die dümmste_n Migrant_in in Deutschland, der/die es bisher nicht verstanden hatte, begreifen: „Du bist kein_e Deutsche_r und wirst es niemals sein.“
Was auch immer sie schreibt, bitter ist die Bild nicht, sie ist nur scheiße. Bitter sind aber für viele Migrant_innen die Reaktionen der Otto Normaldeutschen, mit denen man im Alltag zu tun hat – zusammen arbeitet, zur Schule geht oder vielleicht befreundet ist. Die meisten jungen Migranten in Berlin, mit denen ich darüber diskutierte (und es sind einige, da das mein Job ist), sind gekränkt und wütend zugleich. Und das unabhängig davon, was sie von Özils Fotoaktion oder von Erdogan überhaupt halten. Es kommen Erinnerungen hoch, die man verdrängt hatte, um sich an die Illusion eines ausgesprochenen, aber nicht eingelösten Versprechens festzuklammern: Dem, dass man wirklich „dazugehören“ könne.
Man denkt an die Nachbarin, die einem nie Hallo sagt, erinnert sich daran, dass die Grundschullehrerin vor Jahren sagte, dass man „hier in Deutschland pünktlich zur Schule kommt“, und regt sich darüber auf, dass man den schlecht bezahlten Callcenter-job nur bekommt, wenn man bereit ist, sich am Telefon als Manuel Schmidt zu melden. Ali und Mustafa sind junge Menschen, die in Deutschland geboren sind und im Gegensatz zu ihren Großeltern keine andere Sprache besser können als Deutsch, kein anderes Land besser kennen als Deutschland. Lasst uns aber für einen Moment ehrlich sein: Das macht sie nicht zu Deutschen, zumindest nicht zu „echten“ Deutschen. Wer in Deutschland geboren wurde oder nach einer harten, eigenen Migrationsgeschichte völlig willkürliche Kriterien erfüllt hat, bekommt einen deutschen Pass. „Deutsch“ aber ist nur wer deutsche Eltern hat. So die Empfindung von Ali und Mustafa, so die Empfindung ihrer Eltern, so die Empfindung von Millionen Migrant_innen, so die gesellschaftliche Realität.
Özil hätte sich nicht mit Erdogan fotografieren lassen sollen. Niemand sollte sich mit Erdogan fotografieren lassen. Erdogan sollte am besten in einem dunklen Loch einsam verrecken oder wie Benito Mussolini kopfüber an den Füßen hängen. Aber wenn Mesut Özils Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, in der keinem Nazi das „Deutschsein“ abgesprochen wird, das ihm – nicht nur seinem eigenen Verständnis, sondern auch dem der ganzen Gesellschaft nach – per Blutrecht zusteht, von irgendwelchen zu erfüllenden Kriterien, von einer Bekenntnis zu der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, die weder freiheitlich noch demokratisch ist, abhängt, gibt es einen Namen dafür: Rassismus.
Wenn wir schon mal ehrlich sind: Das Problem, das diese Gesellschaft mit Mesut Özil hat, ist nicht, dass er sich für Erdogans Wahlpropaganda instrumentalisieren ließ, sondern dass er eben kein „echter“ Deutscher ist. Es war nicht das erste Mal, dass Erdogan aus Deutschland Wahlkampfhilfe erhielt: die letzten Male davor war es Merkel, die Erdogan kurz vor den Wahlen am 1. November 2015 und dem Verfassungsreferendum am 16. April 2017 besuchte, um Unterstützung der Bundesregierung und der EU zu signalisieren. Und wenn ich ein Horkheimer-Zitat etwas verunstalten darf: Wer von Waffen- und Flüchtlingsdeals nicht reden will, sollte auch von Özil schweigen.
Cem Özdemir und Fatih Akin sind – irgendwie – Deutsche, Mesut Özil – irgendwie – nicht mehr. Ali und Mustafa waren es noch nie und werden es niemals sein. Und sie sind wütend; wir sind wütend. Zum Glück sind wir, Mustafa, Ali und ich, aber auch nicht ihr, Jürgen, Detlef oder wie auch immer ihr heißt, nicht zu einer Entscheidung zwischen Pest und Cholera, zwischen deutschem Rassismus und dem Erdogan-Regime in der Türkei gezwungen. Man kann und muss nämlich gegen beides kämpfen. Vielleicht können wir dabei von den an Mesut Özil gerichteten Worten eines anderen Fußballers, des ehemaligen St. Pauli- und Amedspor-Spielers Deniz Naki, mehr als von jedem anderen Beitrag zu dieser Debatte profitieren: „Man muss gegen jeglichen Faschismus, Rassismus, Ungerechtigkeit, Despotie und alles, was die Menschenwürde runterschraubt, kämpfen; unabhängig davon, wo es stattfindet. Aus diesem Grunde fordere ich dich dazu auf, nicht nur gegen den Rassismus in Deutschland zu kämpfen, sondern auch gegen jegliche Art davon auf der Welt. Ich fordere dich dazu auf, den in der Türkei den Kurden entgegengebrachten Rassismus und Faschismus sensibel wahrzunehmen und diesen ebenfalls zu bekämpfen. Rassismus ist eine Krankheit; gestern hat es mich betroffen; heute betrifft es dich; und übermorgen wird es jemand anderes sein. Für eine freie, friedliche Welt voller Hoffnung und ohne Rassismus und Ausbeutung.“
# Von M. Salih Akin [sg_popup id=“5″ event=“onload“][/sg_popup]
dankbar 31. Juli 2018 - 16:39
endlich ein stabiles kommentar zu dieser „debatte“
ein großes dankeschön, das wird erst mal den konservativen verwandten vorgelegt – thx!