„Wir führen jetzt einen Guerilla-Krieg“

23. März 2018

Autor*in

Karl Plumba

Der Widerstand gegen die Besatzer im Norden Syriens ist nicht vorbei. YPG und YPJ werden Afrin nicht aufgeben. Interview mit Şoreş Ronahî

#Şoreş Ronahî ist Mitglied der Leitung der Jugendunion Rojavas (Yekitiya Ciwanen Rojava, YCR) und zur Zeit in Shehba, Afrin.

Für uns ist die Situation in Afrin zur Zeit sehr undurchsichtig. Von Seiten der YPG gibt es lediglich das Statement, dass so viele Zivilist*innen wie möglich in Sicherheit gebracht wurden und der Krieg nun in eine neue Phase übergeht. Seitens der Türkei finden sich Propagandameldungen über die vollständige Einnahme der Stadt ohne nennenswerten Widerstand. Wie ist die Situation vor Ort, wie ist die Situation der Zivilist*innen, der Menschen in der Stadt?

Der Widerstand geht natürlich weiter. Klar behauptet der türkische Staat, Afrin wäre ohne Widerstand gefallen. Es wäre ja auch genau in ihrem Sinn, wenn ihre Offensive so glatt vorangegangen wäre. Aber natürlich ist das Gegenteil Fall.

Wie aus dem Statement der YPG erkennbar, haben wir lediglich eine neue Phase des Widerstands eingeleitet, die auch schon begonnen hat, und zwar mit dem Rückzug aus der Stadt. Sie läuft also seit 3,4 Tagen. In diesem Zuge wurden schon viele erfolgreiche Aktionen durchgeführt. Am 18. und 19. März gab es in Bilbile, Jinderese und Rajo Aktionen, bei denen über 70 feindliche Elemente, also sowohl dschihadistische Bandenmitglieder als auch türkische Soldaten, getötet wurden. So wird es jetzt weiter gehen.

Natürlich lassen wir Afrin nicht fallen und wir werden es auch nie aufgeben. Und wenn der Krieg 100 Jahre weitergeht, dann werden wir noch 100 Jahre Widerstand leisten. Klar, es ist eine kritische Situation, es sind hunderttausende Menschen auf der Flucht. Vor allem die Bilder der letzten Tage, was wir hier erlebt haben und was wir organisieren müssen, erinnern stark an das, was 2014 in Şengal passiert ist. Hunderttausende Menschen auf der Straße, ohne Essen und Trinken, ohne Dach über dem Kopf und ohne ausreichende medizinische Versorgung. Wir versuchen jetzt, für diese Menschen zumindest vorübergehende Lösungen zu finden.

Was genau bedeutet diese neue Phase des Widerstands, was für Änderungen wird es in der Taktik geben?

Der Krieg, der über die letzten zwei Monate in Afrin geführt wurde, war der Versuch, einen Frontenkrieg zu führen, um Afrin zu verteidigen. Das Problem war, dass es letztendlich ein Krieg zwischen einer revolutionären Volksarmee mit leichter Bewaffnung und einer hochgerüsteten, hochtechnologischen Kriegsmaschinerie eines NATO-Staates war. Der Krieg, den die Türkei und ihre Banden gegen die YPG,YPJ und die Bevölkerung Afrins geführt haben, war ein Krieg der Technik. Dutzende Drohnen über der Stadt, die jegliche Bewegung überwachen, registrieren und sofort mit Raketenschlägen reagieren.

Sobald die Banden irgendwo auf Widerstand gestoßen sind, haben sie sich zurückgezogen und die Artillerie oder die Luftwaffe angefordert. Insofern war es ein Krieg gegen die türkische Luftwaffe und Artillerie. Nichtsdestotrotz war es immer wieder möglich, dem Feind schwere Verluste zuzufügen.

Schauen wir in die Bilanzen, sehen wir natürlich hohe Verluste auf unserer Seite. Viele gefallene Freundinnen und Freunde, viele gefallene Zivilistinnen und Zivilisten. Erst vor wenigen Tagen gab es in Jinderese ein Massaker, bei dem über 200 Zivilistinnen und Zivilisten, die aus Jinderese fliehen wollten, durch die türkische Luftwaffe massakriert wurden. Es wurden aber eben auch dem Feind schwere Schläge zugeführt. Tausende getötete Dschihadisten, tausende getötete türkische Soldaten. Diese Phase des Krieges ist jetzt vorbei, wir führen keinen Frontenkrieg mehr, sondern Guerillakrieg. Das bedeutet: Hit-and-run-Angriffe, Hinterhalte, Fallen, Scharfschützen oder Raketenangriffe. Durch diese Taktik verliert die technologische Überlegenheit des Feindes an Bedeutung.

Der Unterschied ist, dass bisher Afrin in unserer Hand war und wir es verteidigt haben, nun aber offiziell – also nach Ansicht des türkischen Staates – in der Hand der Türkei liegt. Das heißt, die Freundinnen und Freunde operieren jetzt quasi „hinter feindlichen Linien“ und werden dort alle Taktiken anwenden, die ihnen zur Verfügung stehen, um dem Feind zu schaden, ihn zu zermürben, seine Moral zu zerstören und ihm keine Sicherheit oder Atempause zu gewähren. Diese Taktik benutzen wir ab jetzt und sie wird uns letztendlich zum Erfolg führen.

In einem Statement der YPG war vor einigen Tagen zu lesen, dass auch diejenigen, die jetzt in Afrin neu angesiedelt werden, also zumeist die Familien der Dschihadisten, auch als legitime, militärische Ziele angesehen werden. Ist also das mittelfristige Ziel, die Situation in Afrin für die Türkei zu einem permanenten militärischen Ausnahmezustand zu machen, so dass nicht wie in al-Bab oder Jarablus eine zivile Administration etabliert werden kann?

Mit der Besetzung Afrins verfolgt die Türkei ja verschiedene Ziele, die miteinander verbunden sind. Zum einen will sie natürlich die Revolution in Rojava zerstören. Zum anderen ist ihr Ziel eine demografische Veränderung der Region. Das bedeutet sowohl ethnische Säuberung als auch die erzwungene Umsiedlung der Menschen Afrins und die Neuansiedlung anderer Menschengruppen.

Bei denen, die in Afrin angesiedelt werden sollen, handelt es sich zum Großteil um die Familien der Mitglieder von diversen sogenannten „FSA-Gruppen“. Das sind also Angehörige vom IS, von Al-Nusra, Al-Quaida und anderen dschihadistischen und faschistischen Gruppen. Die Durchsetzung dieser politischen Ziele der Türkei und der anderen imperialistischen Staaten werden wir natürlich nicht einfach schweigend hinnehmen, sondern mit aller uns zur Verfügung stehenden Kraft dagegen angehen. Unsere Realität ist nun mal eine Realität des Krieges, und insofern sind der türkische Staat, die türkische Armee und alle ihr zugehörigen Kräfte militärische Ziele. Unser Ziel ist die Befreiung Afrins, und bis wir das geschafft haben, werden wir hier kämpfen und Krieg führen. Wir werden weder die Besatzung, noch die Existenz des türkischen Staates auf unserem Boden jemals akzeptieren. Wir werden sowohl als Jugend, als auch als Völker Rojavas bis zum Niedergang der Besatzung gegen sie kämpfen und Widerstand leisten.

Dabei geht es uns um die Zerschlagung der Besatzung, um antifaschistischen Widerstand gegen den brutalen türkischen Faschismus und natürlich auch um die Verteidigung der Werte, die mit der Revolution in Rojava geschaffen wurden. Wir verteidigen hier ein neues Leben, ein neues System, was die Geschwisterlichkeit der Völker und ein friedliches Zusammenleben aller Völker der Region unter demokratischen Bedingungen vorantreibt.

Die Situation der Zivilbevölkerung hast du eben schon mit der von Şengal 2014 verglichen. Besteht denn die Möglichkeit, dass Menschen weiter nach Cizire fliehen können, dürfen sie das Regime-Gebiet passieren, wollen die Menschen überhaupt weg? Ist es absehbar, dass sich die humanitäre Situation für die, die bleiben, verbessern wird?

Es sind schwierige Tage, die jetzt gerade in Afrin durchgemacht werden müssen. Vor allem für die Zivilbevölkerung. Es gibt kein Wasser, kein Brot, keine Medizin. Kleinkinder und alte Menschen müssen auf der Straße oder in ihren Autos schlafen, sofern sie es geschafft haben, diese mitzunehmen. Viele sind bei Familien in Sheba untergekommen und für andere wurden vorübergehende Unterkünfte errichtet. Es gibt auch Pläne, ein Camp in der Region Sherbas zu errichten. Wir haben zuerst versucht ein Camp in einer anderen Region zu errichten, aber sobald wir die ersten Zelte aufgestellt hatten, wurde es mit Haubitzen beschossen. Der Übergang nach Cizire ist schwierig. Es gibt Menschen, die es bis dahin geschafft haben, aber für die große Masse werden jetzt gerade in Sherba Unterkünfte geschaffen. Unser Ziel ist aber, Afrin zu befreien, so dass alle Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren können.

Die Situation ist natürlich immer kompliziert und undurchsichtig. Wir befinden uns im Mittleren Osten, in einem Krieg, an dem alle Weltmächte beteiligt sind, und gegen die versuchen wir als revolutionäre Volksbewegung unsere eigene Linie durchzusetzen.

Erdoğan wird ja nicht müde, zu erklären oder gar zu schwören, auch den Rest Rojavas und inzwischen auch Gebiete im Nordirak anzugreifen und zu „befreien“. Wie ernst werden diese Drohungen genommen und wie denkst du werden sich die anderen imperialistischen Mächte, insbesondere die USA, verhalten, wenn es zu direkten Konfrontationen kommen sollte?

Erdoğan ist ein Wunschträumer, aber auch ein faschistischer Diktator. Natürlich nehmen wir das Ernst. Der türkische Faschismus kennt in seiner Unmenschlichkeit und Brutalität keine Grenzen. Unsere Antwort auf einen solchen Krieg wird erneut Widerstand sein.

Ich sehe keinen Sinn darin, jetzt eine Analyse der aktuellen Syrienpolitik der USA zu machen. Wir haben gesehen, was in Afrin passiert ist, dass alle NATO-Staaten und Russland ihre schweigende Zustimmung zu diesem Angriffskrieg gegeben haben. Selbst wenn es irgendwelche Erklärungen oder Versprechen gäbe, wären sie nicht mehr als leere Worte. Wir verlassen uns auf keine äußere Macht, sondern auf unsere eigene Kraft.

Dieser Krieg wird ja nicht nur gegen alle Weltmächte geführt, es gibt auch auf der ganzen Welt Widerstand dagegen. Wie bewertest du die Solidaritätsbewegung und insbesondere die militante #fight4afrin Kampagne?

Wenn die Mächtigen der Welt, die Besatzer, Faschisten und Imperialisten sich gegen uns vereinen, dann müssen auch wir uns als Revolutionärinnen und Revolutionäre, als Unterdrückte dieser Welt, vereinen und Hand in Hand gegen Besatzung, Faschismus, Imperialismus und Kapitalismus kämpfen. Wir kriegen mit, was in der Welt passiert, wie viele Aktionen es in Solidarität mit dem Widerstand von Afrin und gegen den türkischen Faschismus und seine Profiteure gibt. Insofern kann ich es nur positiv bewerten. Jede Aktionsform, die ihr für legitim und notwendig haltet, die gegen den Angriffskrieg gegen Afrin, gegen Faschismus und Imperialismus durchgeführt wird, ist legitim.

Solidarität ist die Waffe, die uns international zum Sieg führen wird. Ohne diese Solidarität würden wir komplett alleine stehen. Wir hatten niemals die Erwartung, dass uns in dieser Revolution irgendwelche Staaten bedingungslose Unterstützung geben werden. Die einzige Kraft, auf die wir uns verlassen können ist unsere eigene Kraft und die der Völker, wenn sie sich organisieren. Die Kraft der Unterdrückten, wenn sie sich ihre Hände geben und Hand in Hand, Schulter an Schulter gegen den Faschismus stehen.

Also möchte ich mich auch auf diesem Weg für die bisherige Solidarität bedanken. Gleichzeitig aber auch mein Aufruf an alle: Es ist nicht vorbei! Glaubt nicht an die Propaganda des türkischen Staates, Afrin ist weiterhin auf den Beinen, Afrin leistet weiterhin Widerstand und wird auch bis zum Ende, bis zum Sieg Widerstand leisten. Bis Afrin nicht befreit ist, wird dieser Krieg nicht aufhören. Insofern können wir nur allen weiterhin viel Erfolg bei ihren Aktionen wünschen. Die Mobilisierung, die seit Beginn des Krieges gelaufen ist, läuft weiter, und es gilt jetzt nicht nur weiterzumachen, sondern noch mehr zu machen als vorher. Lasst uns gemeinsam an einem Strang ziehen, die Besatzung beenden und ein neues, freies Leben aufbauen. Lasst uns die Revolution der unterdrückten Völker des Mittleren Ostens gemeinsam zum Erfolg führen.

Wenn es einen Zeitpunkt gibt, an dem gehandelt werden muss, dann jetzt. Wenn es einen Zeitpunkt gibt, an dem Worte nicht mehr ausreichen, sondern Taten folgen müssen, dann heute. Diejenigen, die seit zwei Monaten Aktionen durchführen, müssen weitermachen. Diejenigen, die bisher nur zugeschaut haben, müssen selbst zur Tat schreiten. Verliert nicht die Zuversicht, der Widerstand geht weiter, und er wird erfolgreich sein.

# Interview: Karl Plumba

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2 Kommentare

    Björn Nollers 23. März 2018 - 14:39

    Danke ersteinmal für dieses interessante Interview. Schön dass ihr eure Kommunikationskanäle nutzt und direkte Einschätzungen aus Rojava einholt.
    Dennoch finde ich, solltet ihr einem gewissen journalistischem Anspruch gerecht werden. Wenn euer Gesprächspartner von „tausenden getöteten türkischen Soldaten“ spricht, so wird dies ebenso wenig stimmen wie die 3500 getöteten YPG-Kämpfer, von denen die türkischen Medien faseln. Beidseitig ist es dann nichts anderes als Propaganda. Da hätte man nachhaken können und sollen…

    Ebenso hätte mich für dir nun anstehenden Kämpfe folgendes interessiert: Kann es wirklich legitim sein, neben den FSA-Kämpfern und türkischen Invasoren, den Zivilisten die nun nach Afrin umgesiedelt werden (haben sie überhaupt eine Wahl?) bedingungslos den Kampf anzusagen?
    Man mag die Logik verstehen, dennoch sollten doch gerade progressive Kampfgruppen auch Zivilisten jenseits ihrer Bezugsgruppe möglichst schadensfreieheit garantieren. Sonst bleibt es ein Blut&Boden Kampf.

    lowerclassmag 23. März 2018 - 17:15

    Ich hatte ihn so verstanden, dass mit „tausenden getöteten Bandenmitglieder, tausende getötete türkische Soldaten“ nicht jeweils Tausende gemeint sind sondern insgesamt Tausende, deshalb habe ich da nicht weiter nachgehakt. Zu den Zivilisten: Ich würde es eher eine Warnung verstehen, als eine Kampfansage. Die YPG rät allen davon ab, auf die türkische Propaganda hereinzufallen und sich in Afrin anzusiedeln, da Afrin weiterhin ein aktives Kriegsgebiet ist. Zivilist*innen werden – denke ich – nicht gezielt angegriffen. Es zeigt sich ja auch, welche Aktionen durchgeführt werden und wer da die Ziele sind: türkische Soldaten, Bandenmitglieder, Militärfahrzeuge.
    Karl