“Jineoloji erleuchtet mit der Natur der Frau die gesellschaftliche Realität”
– Die erste Konferenz der Wissenschaft der Frau und des auf Freiheit basierenden Zusammenlebens in Nord-Syrien –
Vom 12. bis 13. Januar 2018 fand in Derik, gelegen in Nord-Syrien/ Rojava, die erste Jineoloji-Konferenz in der Region statt. Zweihundert Delegiertinnen aus allen in der Region vertretenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppen – Kurdinnen, Araberinnen, Türkmeninnen, Armenierinnen, Assyrerinnen, Syriakerinnen sowie Musliminnen, Ezidinnen, Alevitinnen, Christinnen und Frauen aller Generationen nahmen an der Konferenz teil. Hiermit war diese zugleich Ausdruck des Prinzips der “Demokratischen Nation”. Dies bedeutet die gleichwertige Teilnahme aller Personen und Gruppen an dem selbstverwalteten, basis-demokratischen System unter Berücksichtigung der Unterschiede in dem Sinne, dass die eigene Kultur und Sprache jeder Gruppe bewahrt und somit unter dem Grundsatz “Vielfalt ist Reichtum” ein freies Zusammenleben erreicht wird. Auch Internationalistinnen aus Deutschland, Italien, Frankreich, England, Katalonien, Russland und Indonesien nahmen an der Konferenz Teil.
Die Teilnehmerinnen waren aus allen Teilen der Ende 2017 gegründeten Konföderation Nord-Syriens sowie den neu von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) befreiten Gebieten Minbij, Rakka und Tabqa sowie Derazorê, angereist, wo weiterhin der Befreiungs-Krieg gegen den IS (Daish) andauert. Auch aus dem Kanton Efrin, den der türkische Präsident Erdogan als Hauptangriffsziel erklärt hat, waren Frauen angereist. Sie beharren darauf, dass trotz des drohenden Krieges die Aufbauarbeiten für eine befreite Gesellschaft weitergehen müssen. Mit dieser Entschlossenheit kehrten sie nach Efrin zurück.
Wenige Tage später machte der türkische Staat seine Drohungen wahr. Seit dem 20. Januar 2018 ist ein weitumfassender Krieg um Efrin ausgebrochen, der Auswirkungen in ganz Rojava zeigt. In diesem Krieg sind die Menschen Rojavas jetzt schon die moralischen Sieger. Denn sie wissen, wofür sie kämpfen und dazu trägt auch Jineoloji einen entscheidenden Teil bei.
Aber was ist Jineoloji eigentlich? Und warum erregt sie ein so großes Interesse in der Gesellschaft und insbesondere unter den Frauen?
Jineoloji – eine alternative Wissenschaft der Frauen – ist im Rahmen des Freiheitskampfes in Kurdistan und der Revolution in Rojava als Teil der Frauenbewegung entstanden. Sie befindet sich in einem lebhaften Austausch Hand in Hand mit der Revolution, von der sie lernt und der sie gleichzeitig auch neue Perspektiven gibt. Jedoch bleibt Jineoloji keinesfalls innerhalb der Grenzen Rojavas, sondern bildet die zur Zeit vielleicht bedeutendste wissenschaftliche Perspektive für gesellschaftlichen Wandel und den Kampf für Freiheit weltweit. Im Gegensatz zum Feminismus, den sie als Erbe und Teil von sich versteht, versteht sich die Jineoloji als weiter gefächert, da sie sich nicht nur auf die Frau an sich konzentriert, sondern stattdessen aus weiblicher Sicht die Gesellschaft, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrachtet. In diesem Sinne erforscht sie sowohl die Natur der Frau als auch die des Mannes und nimmt sich auf dieser Grundlage zum Ziel, ein Zusammenleben der menschlichen Gesellschaften und der Natur auf der Grundlage der Freiheit zu verwirklichen.
Jineoloji als Konzept wurde erstmals im Jahre 2008 durch die ideologische Leitfigur und den Repräsentanten des kurdischen Volkes und des Kampfes für eine demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft weltweit, Abdullah Öcalan, in seiner dritten Verteidigungsschrift “Soziologie der Freiheit” (1), zur Sprache gebracht. Er hinterfragt die Rolle der Wissenschaft als subtile Ideologie der Herrschaft und Unterdrückung, die den Grundstein des vorherrschenden Systems, der kapitalistischen Moderne, bildet.
Die Wissenschaften, insbesondere die Soziologie, entfernen sich von der Gesellschaft und stellen sich stattdessen in den Dienst der Herrschenden. Anders sind Phänomene wie die Atombombe nicht erklärbar.
Des weiteren werden die vorherrschenden Wissenschaften als “positivistisch” kritisiert. Das heißt, dass sie sich nur mit der messbaren Welt beschäftigen und alles andere strikt ablehnen. Dabei wurde dieser Charakter der Wissenschaft bereits vor rund 100 Jahren in seinen Grundfesten erschüttert. Spätestens seit dem Aufkommen der Relativitätstheorie wurde die Unbeständigkeit messbarer Werte belegt. Und mit der Quantentheorie wurde auf der Grundlage des Wissens, dass Licht zur gleichen Zeit sowohl Teilchen als auch Welle sein kann, erkannt, dass eine natürliche Vielseitigkeit besteht. Außerdem wurde durch das Verstehen der wechselseitigen Beziehung zwischen BeobachterIn und Zu-Beobachtendem die Verbundenheit und Lebendigkeit aller Dinge von Neuem entdeckt.
Die Welt besteht nicht nur aus sicht- und messbaren Phänomenen. Sie ist kein Objekt, das es zu erforschen und zu erobern gilt. Eine wahre Wissenschaft muss sich sowohl mit der materiellen als auch mit der geistigen Welt beschäftigen, die Trennung von Subjekt und Objekt sowie die Zerstückelung der Forschungsgebiete überwinden und vollständig in den Dienste der Gesellschaft treten. Die Wissenschaft muss in erster Linie ethisch sein und Erkenntnisse hervorbringen, die der gesellschaftlichen Befreiung dienen. All’ dieser Aufgaben soll die Jineoloji als neue Wissenschaft gerecht werden.
Dabei sind wir noch nicht auf den Kern-, Dreh- und Angelpunkt der Jineoloji eingegangen: Denn die Jineoloji ist die Wissenschaft der Frau und des auf Freiheit basierenden Zusammenlebens. Das wird in der Namensgebung bereits deutlich: “Jin” ist kurdisch und bedeutet Frau und Leben, “loji” kommt von dem griechischen “logos” und bedeutet soviel wie Wort, Grund, Vernunft oder sinngemäß auch Wissenschaft.
Die Jineoloji stützt sich auf Wissen und Interpretationen über die Kultur der Mutter-Göttinnen, die ihren Ursprung in der Zeit des Neolithikums hat. Ausgehend von der zentralen Rolle, die Frauen im sozialen Leben spielten, vollzog sich damals eine erste Revolution der Frau. Diese ging einher mit dem Entwickeln von Sprache, Ackerbau, Domestizierung von Tieren und Werkzeugen wie der Handmühle oder der Sichel sowie dem damit verbundenen Bilden von ersten Siedlungen und Dorfgemeinschaften im Gebiet des Tauros-Zagros-Gebirges.Bisher gibt es unseres Wissens keine archäologischen Hinweise darauf, dass es zu dieser Zeit Kriege oder hierarchische Strukturen gegeben hätte. Vielmehr scheint diese Gesellschaft unter weiblicher Koordination eine Quelle von Gerechtigkeit, Gemeinschaft und Kreativität gewesen zu sein.
Als erste Konterrevolution kann der durch die sumerische Mythologie mit dem allmählichen Verschwinden der weiblichen Mutter-Göttinnen und dem Auftauchen männlicher Götter belegte Sturz der Frau bezeichnet werden. Arachäologische Funde der ersten von Menschenhand zerstörten Städte, wie z.B. Hamoukar aus der Zeit von ca. 3.500 v. Chr. (2), als Beweise erster Kriege liefern uns den Beleg für fundamentale gesellschaftliche Veränderungen. Von dieser Zeit an bis heute bildet die Zivilisation der Herrschaft und Unterdrückung auf der Grundlage männlicher Dominanz das vorherrschende System. Aber das bedeutet nicht, dass die Kultur der Mutter-Göttinnen vollständig verschwunden wäre. Sie fließt weiterhin in den rebellischen und sich nach Freiheit sehnenden Adern der Gesellschaft.
In diesem Sinne hat sich Jineoloji der Aufgabe verschrieben, die Geschichte, die stets aus der Feder der männlichen Machthaber geschrieben wurde, neu zu bewerten. Die Adern der Rebellion und der natürlichen, kommunalen Gesellschaft aufzuspüren und mit neuem Leben zu füllen. Auf dieser Grundlage kann ein neues Verständnis von Soziologie entwickelt werden. Angestrebt wir eine Soziologie, die sich möglichst nah an der gesellschaftlichen Wahrheit befindet und die das wissenschaftliche Fundament des Freiheitskampfes stärkt, der durch die Befreiung der Frau die gesamte Gesellschaft befreien wird.
Die theoretischen und praktischen Arbeiten zu Jineoloji haben im Jahre 2012 in den Bergen Kurdistans begonnen und wurden unter Aufnahme dieses Konzeptes von der Frauenbewegung in Rojava seit 2014 in ein konkretes System umgesetzt. Im Rahmen der Konferenz in Derik wurden nun die Arbeiten der letzten Jahre vorgestellt, bewertet sowie Perspektiven und Pläne für die Zukunft entwickelt.
Die Jineoloji-Strukruren in der Konföderation Nord-Syriens bestehen inzwischen aus Forschungszentren in Efrin, Minbij und Derik, deren Forschungskomitees sowie Repräsentantinnen der Jineoloji in verschiedenen Organisationen, Institutionen und gesellschaftlichen Bereichen. Es wurden weitgefächerte Bildungsarbeiten durchgeführt, sowohl in Akademien als auch in Form von Seminaren, um das Konzept der Jineoloji in der Gesellschaft zu verbreiten. An vielen Schulen wurde bereits Jineoloji als Unterrichtsfach von der 10. bis zur 12. Klasse in den Lehrplan aufgenommen und im letzten Jahr öffnete die Jineoloji-Fakultät an der Rojava-Universität ihre Pforten. Auch in Zeitschriften, Radio- und Fernsehprogrammen wurde Jineoloji als ein Schwerpunkt aufgenommen. Des weiteren wurde mit dem Aufbau des Frauendorfes “Jinwar” begonnen, in dem durch Kommunalität und weitestmöglicher Selbstversorgung ein selbstbestimmtes Leben aufgebaut wird.
Einen Hauptteil der Konferenz bildete die Vorstellung der Ergebnisse von Forschungsarbeiten, die im vergangenen Jahr in Nord-Syrien/ Rojava bezüglich der Soziologie und Geschichte der Frauen und der Gesellschaft durchgeführt wurden. Die wichtigste Quelle dabei war das soziale Gedächtnis. Mit Hilfe von Hunderten von Interviews in den Kantonen Efrin, Kobane und Cizire wurde versucht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in dem Leben der Frauen festzustellen. Auch das Besichtigen historischer Orte und archäologischer Fundplätze war ein wichtiger Bestandteil. Auf diese Weise wurden Materialien zu der Geschichte der Frauen in Nord-Syrien, zu dem Grund für den historischen Niedergang der frauenzentrierten Gesellschaft und der Unterdrückung der Frau, zur Realität der Frau in allen Kulturen, Ethnien und Religionen Nord-Syriens sowie zu den Auswirkungen der Revolution auf das Leben der Frauen und der Gesellschaft zusammengetragen. Hierbei wurden Errungenschaften und Veränderungen genauso bewertet wie auch gesellschaftliche Probleme, die noch immer fortbestehen, die es zu verstehen und zu lösen gilt.
Die Teilnehmerinnen der Konferenz bewiesen, dass in jeder Frau eine Jineolojikerin steckt. Beispielsweise berichtete eine Frau aus dem Dorf Hiwa in der Nähe von Qamishlo, dass vor einigen Jahren in ihrem Dorf noch immer anstelle von Geld vorrangig Tauschwirtschaft betrieben wurde. Mädchen, Jungen, Frauen und Männer des Dorfes hätten sich versammelt und gemeinsam bis spät in die Nacht Lieder gesungen und getanzt. In diesen Beschreibungen findet sich eine ganz andere, kommunale Realität fern von Profitgier, Macht und Unterdrückung wieder, die sich im Widerspruch zur “offiziellen” Soziologie befindet.
Eine andere Teilnehmerin verglich die Situation vor der Revolution mit heute und erzählte: “Noch vor einigen Jahren wäre es niemals denkbar gewesen, in der eigenen Sprache lesen oder schreiben zu lernen. Aber heute gehen meine Kinder alle zur Schule und bringen auch mir das Lesen und Schreiben auf Kurdisch bei. Vorher war es außerdem nicht denkbar, dass eine Frau sich ohne die Begleitung eines männlichen Familienmitgliedes frei in der Gesellschaft hätte bewegen können. Und heute haben die Frauen in allen Teilen des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens ihre Plätze eingenommen. Besonders der mutige Kampf der Frauen in den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) hat eine große gesellschaftliche Veränderung mit sich gebracht. Ich fühle eine unbeschreibliche Freude und Aufregung dabei, dass heute hier diese große Zahl an freiheitsliebende Frauen zusammengekommen sind.”
Die soziologischen Forschungsarbeiten, zu denen auch die Wortmeldungen der Konferenzteilnehmerinnen einen wichtigen Beitag leisteten, werden noch weiter andauern und anschließend in Buchform veröffentlicht werden.
Den Abschlussteil der Konferenz bildete der Beschluss des Projektes zur Gründung einer Jineoloji-Akademie Rojavas, die sich in direkter Verbindung zu den Forschungszentren in den Bereichen Bildung, Geschichte, Ökonomie, Ökologie, Gesundheit, Demografie, Politik, Essentielle Verteidigung, Ethik und Ästhetik organisieren wird. Das System der Akademie soll weiterhin durch Presse- und Archivarbeit vervollständigt werden. Das Ziel der Akademie ist die Weiterentwicklung einer reichhaltigen Lebensphilosophie und des sozialen und kommunalen Lebens sowie auch der Kampf gegen die Kapitalistische Moderne. Des Weiteren sollen die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Errungenschaften der Frauen Nord-Syriens/ Rojavas bewertet werden, damit sie auf eine wissenschaftliche Art und Weise noch weiter vertieft und verteidigt werden können. Außerdem soll das Netz der Forschungszentren weiter ausgeweitet werden, insbesondere in Hinblick auf den Kanton Kobane und die neu befreiten Gebiete.
In diesem Sinne wurde nach zwei Tagen voller lebendiger Diskussionen, Bewertungen, Kritiken und Anregungen die Konferenz mit neuen Perspektiven und neuer Energie, im Gedenken an die vielen im Kampf für die Revolution und die Verteidigung der Freiheit gefallenen GenossInnen und dem Versprechen, ihren Kampf weiterzuführen, beendet.
# Viktoria Krieger
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Fußnoten:
(1) Das Buch ist im Original auf türkisch mit dem Namen “Özgürlük Sosyolojisi” und gibt es auch auf kurdisch (“Sosyolojiya Azadiyê”). Auf deutsch ist es bisher noch nicht erschienen.
(2) http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/archaeologie-der-erste-krieg-der-menschheit-a-460283.html
blub 3. Februar 2018 - 20:48
Delegiertinnen?
Wohl eher nicht.
Der/die Delegierte.
Keine Ursache.
Konzi 5. Februar 2018 - 16:31
Gibt es einen Link der zu AnsprechpartnerInnen von Forschungsprojekten vor Ort fuehrt, falls man als kritischer Soziologe_In Sozialpsychologe_In daran interessiert wäre mehr ueber die Forschungsprojekte zu erfahren um die Moeglichkeiten von Kooperationen u.ä auszuloten ?
Hevala 5. Februar 2018 - 19:59
@Konzl
Vielleicht lässt sich über diese Seite was machen?
http://jineoloji.org/de/
Marcella 5. Februar 2018 - 23:24
Versuch es mal über das Heft jineoliji dergisi, gibt es im Netz. Dort ist auch eine E-Mail angegeben.