Die Gefallenen sind unsterblich – über linke Gedenkkultur

25. November 2017

Die Diskussionen innerhalb der radikalen Linken über Gedenkkultur, Eventpolitik und Instrumentalisierung flammen regelmäßig auf, wenn es darum geht gefallene Genoss*innen in die eigenen Kämpfe mit einzubeziehen. Solch ein Event oder zumindest wiederkehrender Termin ist die seit über 25 Jahren stattfindende Silvio-Meier-Demo, welche meist im Berliner Szenekiez Friedrichshain stattfand.
Wir benutzen im Folgenden bewusst den Begriff „Gefallene*r“. Wir glauben, dass dieser Begriff eine Möglichkeit ist, sich von eher passiven Begriffen und ihren Konsequenzen in der Praxis wie „Ermordete*r“ oder „Opfer“ abzuwenden. Unsere Genoss*innen sind gefallen. Gefallen in einem Kampf, der sich immer an ihre Haltung rückkoppelte und diese gilt es in den Vordergrund zu setzen.

Seit 25 Jahren findet am Todestag von Silvio Meier eine Mahnwache statt. Am U-Bahnhof Samariterstraße gedenken seit seinem Tod jedes Jahr Antifaschist*innen seiner Person. Hierbei geht es stets um die Erinnerung an Silvio, an das wofür er stand, wofür er kämpfte. Es gibt einen Moment kollektiver Besinnung aber auch von kollektiver Trauer und Nachdenklichkeit. Seit Jahren hängt im U-Bahnhof eine Gedenktafel, an der Stelle wo Silvio von Neonazis erstochen wurde, dieses Projekt ist ein selbstorganisiertes, welches von der Bewegung konsequent erneuert und durchgesetzt wurde.

Am Wochenende nach seinem Todestag findet dann die Silvio-Meier-Demo statt. Im Rahmen dieser wurde häufig versucht, aktuelle politische Fragen mit der Person Silvio Meiers zu verknüpfen. So ging es um Neo-Nazistrukturen, Nazikieze, Hausbesetzungen, die Organisierung von Jugendlichen aber auch um Themen wie Verdrängung und Gentrifizierung. Die Demonstration gehört für viele Berliner*innen zum festen Termin im Jahresplan, es wird massiv Pyro von den umliegenden Dächern gezündet und an der Demospitze läuft ein schwarzer Block.

Der Status Quo

Schauen wir uns heute die Demonstration an, kommen wir zu der Einschätzung, dass es notwendig ist, die Demonstration als ganzes zu überdenken und die Debatte über die Form von Erinnerung konstruktiv neu aufzunehmen.
Die Diskussion um linke Gedenkkultur halten wir für so aktuell und notwendig wie lange nicht mehr.
Wir schätzen die jährliche Mahnwache als ein positives Element im Gedenken an Silvio und alle anderen Gefallenen ein, Gründe dafür wurden bereits oben genannt. Mahnwachen sind eine Möglichkeit revolutionäres Gedenken kulturell anschlussfähig zu gestalten, hier können die verschiedensten Menschen ihren Platz finden und Kämpfe verbunden werden. Sie sind zudem ein intimer Moment für all die, die sich dem Kampf verbunden fühlten und fühlen.
Die Demonstration hingegen gleicht eher einem Ritual, wirkt vorprogrammiert und undynamisch. Daran ändert auch ein wechselndes Motto nichts.
Wenn wir davon ausgehen, dass es eine starke Antifa-Bewegung braucht, liegt es an uns diese durch unsere alltägliche Arbeit aufzubauen. Sie wird nicht durch eine Demonstration vom Himmel fallen. Auch das Argument der Präsenz oder der Stärke können wir so nicht nachvollziehen, da wir einen Großteil der Menschen auf der Demonstration in anderen relevanten Kämpfen nicht antreffen. Somit scheint der Vorwurf der Selbstbeweihräucherung nicht ganz von der Hand zu weisen zu sein. Natürlich finden wir die Demonstration optisch schön. Es sieht ja auch gut aus. Aber darum kann es uns, als Revolutionär*innen nicht gehen. Unsere Praxis muss von einer Analyse der Gegebenheiten ausgehen und konkrete Ziele verfolgen.
Unserer Einschätzung nach ist der Organisierungseffekt der Demonstration inzwischen gleich null. Das schlimmste uns bekannte Beispiel dürfte die Demonstration 2015 durch Marzahn-Hellersdorf gewesen sein, wo den angereisten Genoss*innen keine andere Antwort auf die vor Ort herrschende Stimmung und die realen Probleme der Geflüchteten einfiel, als die Anwohner*innen kollektiv abzustrafen und zu beleidigen und somit dazu beitrugen, dass Antifaschismus in Marzahn bestimmt nicht attraktiver wurde.
Ein Zeichen der Stärke wäre es unserer Meinung nach viel eher, wenn man es schafft die Masse an Menschen dahingehend zu politisieren, dass sie sich nicht nur bei einer einzelnen Demonstration, sondern im Alltag politisch einbringen. Wenn es Standard werden würde, dass bei Zwangsräumungen, Jobcentern etc. 6000 Genoss*innen aufschlagen und damit ein starkes Zeichen linksradikaler Organisierung setzen würden.
Ein anderer Punkt ist die unserer Meinung nach falsche Perspektive auf die Person Silvio Meiers. Wir fragen uns, warum immer wieder der Aspekt des „Opfertums“ in den Vordergrund gestellt wird. Silvio Meier war ein offensiver Antifaschist, sein Tod resultierte aus einer offensiven Ansprache gegenüber den sich im U-Bahnhof befindlichen Neonazis. Silvio ist damit eine Person die im Kampf um einen Nazifreien Kiez, für seine antifaschistischen Überzeugungen erstochen wurde. Das aber hat mit Opfer-Sein und Passivität relativ wenig zu tun. Die Fokussierung auf die Tat, anstatt auf die Person, seine Lebensgeschichte, seine politischen Perspektiven verhindert genau das, was die Gedenkkultur um Gefallene in anderen Bewegungen auszeichnet. Sie und ihre Ideen leben im Kampf weiter. Sie werden bewusst weitergetragen, ihre Ideen diskutiert, sie sind nicht eines von vielen Opfern, sondern widerständige Genoss*innen mit einer politischen Idee. Ihre Gesichter sind präsent und ihr Tod wird als Verlust gesehen. Nicht nur persönlich, sondern vor allem politisch. In jedem kurdischen Verein, Teehaus oder anderen Institutionen hängen Bilder der Sehids, Märtyrern. Eingebettet ist dieses Gedenken in eine revolutionäre Kultur. Es gibt Bücher über Gefallene, ihre Motivationen, Geschichten werden regelmäßig thematisiert und weitergegeben, sie sind optisch präsent, ihnen werden Lieder gewidmet, Institutionen werden nach ihnen benannt. In kurdischen Städten gibt es meist einen Ort, an dem Bilder der Gefallenen gesammelt aufgehängt werden, ein Ort für die Gefallenen der Bewegung.

In Bewegung bleiben und selber machen!

Natürlich geht es uns nicht darum, diese Kultur einfach zu adaptieren. Aber wenn wir die Gefallenen in der BRD als Teil unserer Kämpfe begreifen, brauchen wir eine andere Erinnerungskultur. Eine Kultur, die es schafft, Verbindungslinien aufzuzeichnen, die Beweggründe aufzeigt. Die sich (selbstkritisch) solidarisch und positiv auf die eigene Geschichte bezieht und das bürgerliche Korrektiv außen vorlässt. Die sich nicht scheut, sich auf die eigenen Gefallenen und Militanten zu beziehen. Von RAF bis RZ, von Räterepublik zu Arbeiterbrigaden, von gefallenen Kommunist*innen und Anarchist*innen, Freiwilligen aus dem spanischen Bürgerkrieg, Widerstandskämpfer*innen gegen den Nationalsozialismus und den InternationalistInnen die im Kampf gegen Daesh und für die Revolution in Rojava gefallen sind. Eine Kultur welche die Parole „getroffen hat es eine*n, gemeint sind wir alle“ ernst nimmt. Die es schafft Schmerz zu fühlen und zu verstehen, dass der politische Feind uns lieber tot als lebendig sieht. Die es schafft, den Tod der Genoss*innen als Aufforderung zu verstehen noch kompromissloser und selbstbewusster zu kämpfen. Und dabei kämpfen nicht als ein Event, welches lediglich an einem Tag oder auf einer Demonstration stattfindet, sondern versteht als den Kampf um das eigene Leben, das Leben des Kollektivs, der eigenen Bewegung, einen Kampf, der nur ein Ziel haben kann: Die Revolution und die befreite Gesellschaft.
Unserer Meinung nach gilt es, die Person Silvio Meier wieder in den Vordergrund zu setzen. Seine Geschichte zu erzählen. Seine Beweggründe, seine inhaltlichen Positionen. Und hierbei nicht bei Silvio Meier stehen zu bleiben. Sondern seinen Kampf bewusst in die vergangenen Kämpfe einzuordnen und sich dabei auch auf andere gefallene Genoss*innen zu beziehen. Ivana Hoffmann, Kevin Jochim, Günter Hellstern und Anton Leschek sind ebenso Gefallene im Kampf gegen Faschismus und Kapitalismus wie Andrea Wolf, Uta Schneiderbanger, Silvio Meier, Conny Wessmann, Jan-Carl Raspe, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Rudi Dutschke, Benno Ohnesorg, und die zahllosen Widerstandskämpfer*innen gegen den Nationalsozialismus.
Dies wären erste Schritte, von einem isolierten Gedenken an eine Person wegzukommen, hin zu einem kollektiven Gedenken an die Gefallenen aus Deutschland. Es gilt den historischen Kontext zu verdeutlichen und Brücken ins hier und jetzt zu schlagen. Was haben all die, die für ihre politischen Überzeugungen gestorben sind uns mit auf den Weg gegeben?
Das alles sind natürlich nur Ideen. Auch wir haben viele offene und unbeantwortete Fragen, aber eines können wir bereits jetzt sagen: Eine Bewegung, die ihre Gefallenen vergisst, wird sich auch selbst vergessen.

#Hubert Maulhofer und Dieter Oggenbach

* Die Autoren würden sich übrigens freuen, wenn es funktionieren würde eine Debatte zu diesem wichtigen Thema zu führen. Also teilt, liked, zerreißt, diskutiert, kommentiert ihren Text und schreibt uns Antworten. Entweder hier oder anderen zugänglichen Publikationen. Eure Redaktion.

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3 Kommentare

    Besucher 25. November 2017 - 18:01

    Wichtiger Artikel. Ja, der Umgang – oder besser Nichtumgang – mit den Toten lässt tief blicken, und spiegelt u.a. auch die bis heute nicht genügend reflektierte Herkunft „der Autonomen“ aus und als Jugendbewegung („die 81er“) dar – in dem Alter machst du dir über den Tod normalerweise noch nicht viele Gedanken.

    Einige Tote sind im breiteren Bewusstsein schon fast vergessen. Darum sollte der allererste Schritt darin bestehen, ihre Geschichte(n) und Namen wieder ans Licht zu holen. Kleiner Anfang:

    Olaf Ritzmann:

    http://killedbycops.blogsport.de/1980/08/29/29-august-1980-olaf-ritzmann/

    Klaus-Jürgen Rattay:

    https://www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/220981klaus_juergen_rattay.html

    Günter Sare:

    http://www.antifa-frankfurt.org/Sare/sare-aktionsbuendnis.html

    Kommentar 27. November 2017 - 1:28

    Eine linke Erinnerungskultur könnte auch genau anders aussehen und den Menschen mit seinen Widersprüchen – nicht die Bewegung, die sich den Menschen einverleibt- in den Mittelpunkt stellen. Ein anderer – älterer – Beitrag zur Debatte von einem Freund von Silvio Meier:
    http://taz.de/!5068625/

    w.m. 27. November 2017 - 1:53

    Danke für den Artikel. Wie so oft teile ich sehr viel von dem was ihr hier schreibt. Ich komme aus einer anarchistischen Initiative die sehr aktiv Gedenkarbeit (nicht nur aber auch) für jene macht, die den Kampf nicht überlebten und das auch weit über die Grenzen des eigenen politischen Spektrums hinaus.

    Einige wichtige Fragen kommen dabei immer wieder: Was versprechen wir uns von Gedenkkultur? Gerade der Begriff Märtyrer ist hier schwierig besetzt. In einem – auch für revolutionäre Menschen – sehr sinnentleerten, oft haltlosen Leben erscheint manchen die Verewigung ein Ausweg aus der Bedeutungslosigkeit. Das ist eine Triebfeder die wir bei klassischen Amokläufer_innen ebenso beobachten müssen wie bei deklassierten Jugendlichen die beim IS landen. Wenn Genoss_innen überhöht werden, glorifiziert werden, weil sie es waren, die größeres Pech hatten als andere, läuft mensch Gefahr Leute anzuziehen, die über das eigentliche politische Ziel hinaus das Risiko suchen. Aus diesem Stoff sind vielleicht gute Abenteuerromane aber wohl selten ein gesunder und emanzipatorischer Umgang mit der Gefahr sich gegen die herrschenden Zustände aufzulehnen. Gleichzeitig ist der_die Genoss_in die es erwischt nicht besser oder schlechter, als jene die es nicht erwischt. Eine Überhöhung ihrer Person würde einem gleichberechtigtem, politischen Kampf widersprechen. Es gilt also zu erinnern und zu trauern, ohne zu überhöhen. Das ist ein Maß an dem sich eine emanzipatorische Gedenkkultur messen lassen muss.

    Die andere Frage – und hier werden wir wohl unterschiedlicher Meinung sein – wo hört es denn auf. Ihr sagt, lasst uns Kommunist_innen und Anarchist_innen gedenken. Erstmal schön gesagt und auf Deutschland bezogen auch erstmal halbwegs unstrittig. Aber wir haben ja einen globalen Anspruch, hoffe ich. Und bei der russischen Revolution bspw. wird der linke Wir-haben-uns-mit-genug-Abstand-alle-lieb-Reigen auf eine harte Probe gestellt. Wenn es um historische Situationen geht, in denen verschiedene Strömungen der Arbeiter_innenbewegungen – aus Gründen – gegeneinander mit der Waffe in der Hand kämpften, kann mensch da erwarten allen zu gedenken? Ein einfaches „Ja!“ halte ich hier für ahistorisch und es bringt uns auch nicht weiter.

    Sicher kann ich auch Rotarmist_innen gedenken, die gegen die weißen Garden fielen (zumal ja der Verband oft nicht so viel über die eigentliche Haltung sagte). Gleichzeitig sollte dieses Gedenken auch die Widersprüche, Fehler aus heutiger Sicht usw. mit benennen und das eben auch nicht nur in einer Fußnote.

    Klassisch das Beispiel aus unserer Gedenkinitiative: Natürlich war der Kampf der KPD’ler_innen der quantitativ stärkste Kampf gegen den deutschen Faschismus, der auch die meisten Opfer forderte und jedem_r einzelnen ist zu danken und zu gedenken. Gleichzeitig kann ich das nur sagen, wenn ich die großen Fehler, den Nationalismus, den Zentralismus, die ideologische Anlehnung der KPD an totalitäre und faschistische Gedankenwelten, die Rechtfertigung des Hitler-Stalin-Paktes und viele andere Fails dieser Zeit mit benenne.

    Denn, so wir nicht religiös werden, haben die Lebenden etwas von unserem Gedenkpolitik – nicht die Toten. Wir als Lebende erhalten durch eine Bewegung mit aktiver Gedenkkultur das Versprechen, dass über uns nicht einfach hinweggestiegen wird. Das wir als Personen keine bloßen Anhängsel und Opfer in einem revolutionären Kampf werden, dass sich Leute, so wir denn sterben, sich wenigsten die Mühe machen, darüber nachzudenken wer da gestorben ist, welche Gedanken er oder sie hatte, die viel zu schnell zum Schweigen kamen. Das heißt einerseits, uns, wenn wir tot sind, nicht vom hohen Thron der späten Geburt zu richten.

    Es heißt durchaus sich zu fragen, warum wir zu den Positionen und Handlungen kamen, die unser Leben prägten. Genauso heißt es aber auch, zu benennen in welche Sackgassen wir in unserem Leben liefen, welchen Trugschlüssen wir aufsaßen, welche Entwicklungen Emanzipation seit unserem Leben gemacht hat.

    Letztlich geht es bei linker Gedenkkultur um emotionale Verarbeitung des Sterbens von Menschen mit denen wir in unserem Wunsch nach einer besseren Welt verbunden sind, mit einem emotionalen Umgang mit der Gewalt die gegen uns angedroht wird aber eben auch um das bessere Verständnis des Menschen in Bewegung – mit allen glänzenden und beschämenden Momenten.

    PS: Schreibt uns gern mal an und kommt vorbei!