Nun haben wir es also offiziell. Entgegen all der jubelnden Gesänge, der Autokorsos und Banner, der großen Reden und der vor Selbstsicherheit nur so strotzenden Ansprachen ist es nun Geschehen: Das Ergebnis des Referendums, nach dem 93% der Wählerinnen und Wähler für die Unabhängigkeit Kurdistans sind, wurde nun von Mesut Barzani höchstpersönlich auf Eis gelegt. Wieder einmal winselt er um Verständigung, um Dialog und Austausch mit Baghdad.
Man hätte sich ja wirklich vieles sparen können. Als wir in unseren Shortnews Anfang September aus Südkurdistan berichteten und das mögliche Kriegsszenario als Folge des Referendums beleuchteten, wurden wir belächelt, regelrecht ausgelacht. Die deutschen Jünger Barzanis warfen die immer selben Phrasen um sich: Ihr seid gegen das kurdische Volk, ihr betreibt Propaganda gegen Barzani, um gegen Barzani zu sein würdet ihr sogar den Willen des kurdischen Volkes verraten.
Dass es bei diesem ganzen politischen Fiasko nicht um diesen einfältigen Vorwürfe geht und die aktuelle Lage die bisherigen binären Freund-Feind Kategorien hinter sich lässt, sollte uns in den letzten Wochen bewusstgeworden sein.
Niemand ist gegen den Willen des kurdischen Volkes.
Im Gegenteil: Die vielen Zusprüche aus den vielen unterschiedlichen Fraktionen der kurdischen Parteien- und Ideologienlandschaft haben gezeigt, dass alle Seiten ein solches Plebiszit für ein wichtiges Verfahren der kurdischen Selbstwerdung halten. Es geht darum, dass man– wie einmal ähnlich in einem anderen Artikel ausgedrückt wurde – sich selbst fragt, bevor man die anderen fragt.
Für ein Volk wie das Kurdische, eine Sache von höchster Relevanz. Für eine Nation, die durch Kolonialismus, Post-Kolonialismus, Imperialismus und Hegemonialkämpfe so derartig manipuliert und fremdbestimmt wurde, ist der Gang der eigenen Leute zur eigenen Wahlurne ein bedeutendes Zeichen gewesen. Man kann nur erneut wiederholen: Diejenigen, die ihre Drohgebärden im Zuge des Referendums äußerten, das waren dieselben, die Embargos gegen Rojava aufrechterhalten wollen, die Kandil beschießen, die türkische Folterknäste verschweigen und iranische Exekutionen mit ansehen.
Das Referendum war nicht das Problem, seine Implementierung, sein Timing, seine gesamte Einbettung um zeitgeschichtlichen und im politischen Rahmen der aktuellen Lage ist das Problem gewesen.
Hier kommen wir an den schwierigen Punkt: Was ist denn das richtige Timing?
Nun, es geht um innenpolitische und außenpolitische Gegebenheiten, von denen in den letzten Wochen ja zu Genüge berichtet wurde. Es geht darum, dass man im eigenen Land das Parlament seit zwei Jahren ausgehebelt hat. Es geht darum, dass man gewählte Vertreter des Volkes verfolgt und unterdrückt. Es geht darum, dass man die eigene Wirtschaft und somit das Brot des Volkes auf eine solche Art und Weise privatisiert hat, dass den meisten Kurdinnen und Kurden nicht einmal klar ist, welche Länder und Firmen in ihrem Land bohren und welche nicht.
Es geht aber auch darum, dass man sich entscheiden sollte, welche Linie man gegen oder mit den Anrainerstaaten fährt. Man kann nicht innenpolitisch die Türkei und den Iran (je nach Partei) hofieren, und sich danach gegen diese Stellen. Man kann nicht paktieren mit wem man will, Hinterzimmerdeals abschließen, und diese dann einseitig für nichtig erklären.
Kurz um: Man kann diesen Politikstil der Familie Barzani so nicht weiterführen und die ultimative Konsequenz dieses Verrats sollte ein Ende dieser Dynastie sein.
Die Jahre im Titel dieses Artikels, das sind die wichtigsten Jahre, die man sich zur Barzani’schen Chronologie des innerkurdischen Verrats merken sollte.
1974 ordnete Mustafa Barzani, der bis heute schöngeredete Vater des Mesut Barzani die Kapitulation von hunderttausenden Peshmerga an. Hunderttausende sind übertrieben? Glaubt mir, nein. Die Masse, die die Peshmerga in diesen Jahren annahm, ist bis heute ungeschlagen. Warum man dann kapitulieren sollte, wenn man so eine Masse an Kräften hat? Naja, Barzani Senior paktierte damals mit dem Shah des Iran gegen Baghdad, lief aber blöd auf, als Washington Tehran und Baghdad in Algiers an einen Tisch setzte und so für Frieden sorgte. Barzani ließ sich dann auf Druck der USA darauf ein die Waffen liegen zu lassen und mal Revolutionsfeierabend zu machen. Für die kurdische Bevölkerung war das nicht so einfach. Tausende flohen in Richtung Iran, viele wurden vom irakischen Staat für ihre Partisanentätigkeiten verfolgt und getötet und viele Peshmerga nahmen sogar sich selbst das Leben – In purer Verzweiflung auf den Befreiungskampf, den sie nie kämpften.
1996 gehört dann zu den mitunter schäbigsten Kapiteln der kurdischen Geschichte. Nachdem Barzani und Talabani Anfang der 90er die Gunst der Zeit nutzten und ihre de facto Autonomie im Zuge des Kuwait Krieges ausweiteten, gab es die ersten Parlamentswahlen 1992. Dabei bekamen beide ungefähr dieselbe Anzahl von Stimmen, was man ja großen Führern mit großem Ego nicht antun kann. Was darauf folgte, war ein beispielloses internes Zermetzeln, auch der Bruderkrieg genannt, der noch bis 1998 anhielt. Beide Seiten paktierten nun wieder einmal mit äußeren mächten, Talabani mit Tehran und Barzani mit Baghdad, um sich gegenseitig möglichst effektiv plattzumachen. Barzani schoss dabei den Vogel ab, indem er am 31. August einfach mal kurzerhand mit Saddams Panzern – Ja, genau dem Saddam, der noch 8 Jahre davor 5000 Kurden auf einen schlag vergaste – in die Hauptstadt Erbil einfiel, dort die PUK unter Talabani austrieb und dezent sein Revier markierte. Für die kurdische Bevölkerung war das nicht so einfach. Die internen Grabenkämpfe spalteten ganze Familien und die gesamte Autonomie bis heute. Getrennte Behörden, Gerichte, Verwaltungen, Streitkräfte und vieles mehr prädestinierten die Defizite, die die Region Kurdistan bis heute davon abhalten die Mindeststandards für irgendeine Form eines wahrhaft autonomen politischen Konstruktes zu erfüllen.
Und jetzt geht der Verrat in die dritte Runde. Wieder einmal dasselbe Schema: Leute werden massenhaft mobilisiert und aufgestachelt. Medien verbreiten Halbwahrheiten und blanke Hetze und Emotionen und Traumata der Bevölkerung werden ausgenutzt, um sie in das eigene Elend laufen zu lassen. Mal ehrlich, es gab schon Bedenken, ob in der ein oder anderen Region die Nein-Stimmen aufgrund des Protestes gegen Barzani überwiegen würden. Nach der ein oder anderen Analyse war den meisten schließlich klar, dass Barzani dieses Referendum vor die Parlamentswahlen in Südkurdistan stellte, um es als ein Misstrauensvotum für sich selbst zu nutzen.
Trotzdem ist es, wie schon oft geschildert, verdammt schwer als Kurdin/Kurde gegen ein unabhängiges Kurdistan zu stimmen. Ich kann hier als Beispiel nur meine eigene Oma nennen: Sie ist fern von jeglicher Parteipolitik, eine klassische Halabja-Dame: Viel beten, alles ordentlich halten und sich bloß nicht in Politik einmischen. Als ich noch in Kurdistan war, da verteufelte sie die Politikerinnen und Politiker, die mit diesem Referendum nun von den wahren Problemen ablenken würden. Als jedoch der 25. September also der Wahltag anbrach, da riefen wir sie an und fragten, ob sie zur Wahlurne ist. „Ja natürlich, was soll ich denn tun. Ich hab Halabja gesehen, ich hab Anfal gesehen, wir kämpfen doch schon immer für Kurdistan.“
Das ist der Knackpunkt. Barzani weiß, dass die Pfadabhängigkeiten des verlustreichen und traumatisierenden Kampfes für Kurdistan eine brennende Narbe im Herzen der kurdischen Bevölkerung ist. Niemand würde einfach so Nein sagen.
Doch genau deshalb sollten Politiker und Verantwortliche in einer solch sensiblen Region diese Verantwortung wahrnehmen und nicht mit den Emotionen der Bevölkerung pokern. Wir haben bis jetzt keine genauen Zahlen darüber, wie viele in den Protesten und Widerständen der letzten Wochen gegen Hashd gestorben sind. Wir haben keine Ahnung, wie viele geflohen sind, wie viele beraubt wurden, wie viele vergewaltigt wurden. Allein der jüngste Amnesty International Bericht, der sich auf Aussagen von Geflohenen aus Tuz Khormato bezieht, lässt nur ahnen, welches Grauen die Kurdinnen und Kurden der umstrittenen Gebiete angesichts des Einfalls der Hashd al Shaabi gesehen haben.
Es geht so nicht weiter. Man kann nicht die ewige „Wir gegen den Rest der Welt“-Rhetorik anfachen, um dann wieder einmal die Schulden der eigenen verlorenen Zockereien auf den Rücken der Bevölkerung zu laden. Man kann nicht auf „Kurdayetî“ und „kurdische Einheit“ schwören, während man in hunderten Hinterzimmerdeals das eigene Land an äußere Mächte verkauft hat. Man kann nicht hunderte zum Referendum aufrufen, sie dann angesichts der Militäroffensive des Irak zum bewaffneten Widerstand aufrufen – was Regierungsmedien wie Rudaw fahrlässigerweise getan haben und wofür sie auch juristische Konsequenzen zu fürchten haben – und dann einfach aus dem Hintergrund ankündigen, dass man das alles jetzt doch nicht so machen will.
Es ist nicht mit anzusehen, wie das kurdische Volk immer und immer wieder verkauft und betrogen wird – von innen und von außen. Barzani zu kritisieren, das heißt nicht die falsche und hinterhältige Politik der internationalen und regionalen Mächte zu verleugnen. Im Gegenteil, die Kritik, die hier gefragt ist, ist eine die von mehreren Seiten und aus mehreren Winkeln kommt.
Es geht darum, dass diese undurchsichtige Form der Politik, die der Talabani’schen Verträge mit Tehran und die der Barzani’schen Handschläge in Ankara endlich ein Ende haben müssen. Diese beiden Parteien müssen nachhaltig aus Kurdistan gedrängt werden, da sie eine ernsthafte Gefahr für das Wohlergehen der Bevölkerung darstellen. Sie sind der Wurmfortsatz des Imperialismus, des Kapitalismus, des Feudalismus und vor allem des Patriarchats, der den kurdischen Widerstand, der es ohnehin schon schwer hat, von innen aushöhlt.
1974, 1996, 2017 – es darf keine Wiederholung des Verrats geben. Es reicht.
# Manî Cûdî
Titelbild: Mustafa Barzani und Saddam Hussein bei der Unterzeichnung des Autonomie-Abkommens 1970
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