[Debattenbeitrag] Zur Lage des Antirassismus

27. Juni 2017

Der Antirassismus erlebt eine Konjunktur und steht nicht zuletzt beim Staat und Unternehmen hoch im Kurs: Staatliche Antidiskriminierungsstellen, „Diversität“, „Empowerment“ und „Integration“ als schulische, universitäre und manchmal auch betriebliche Doktrin, immer mehr Werbeplakate mit lächelnden Schwarzen Menschen und stolze Migrant*innen bei der Deutschen Polizei. Uns soll nahe gebracht werden, der Rassismus sei überkommen, oder zumindest auf dem besten Weg dahin.

Doch dann gibt es noch den europaweiten Aufstieg der Neuen Rechten, die sogenannte Flüchtlingskrise, die bereits normalisierten Brandanschläge auf Asylsuchendenheime, Bücher von Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) und Akif Pirinçci („Deutschland von Sinnen“) in den Bestsellerlisten, und nicht zuletzt den alltäglichen Rassismus, den Menschen, die nicht dem „deutschen“ Phänotypus entsprechen, permanent ausgeliefert sind. Wie passt das zusammen?

Im Folgenden wollen wir uns den Zustand des Antirassismus, wie er von staatlichen Institutionen, NGOs sowie weiten Teilen der linken Szene verstanden und praktiziert wird, genauer anschauen. Can Yıldız wies erst kürzlich1 darauf hin, dass das Antirassismus-Verständnis eines Großteils der deutschen Linken von großen NGOs wie der Amadeu-Antonio-Stiftung geprägt ist, die vom Staat finanziert wird und mit Stephan Kramer den neuen Chef des Thüringer Verfassungsschutzes in ihrem Stiftungsrat sitzen hat. Dieser dementiert eine institutionelle Kooperation beider Organisationen, schlägt aber vor im Kampf gegen Rechts „über unseren Schatten zu springen“ und auch mal zusammen zu arbeiten2. Um diesen Antirassismus, der in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert ist, besser zu greifen, arbeiten wir mit dem Begriff des ‚Liberalen Antirassismus‘3. Was ist nach diesem Verständnis überhaupt Rassismus? Wo kommt Rassismus her? Und wie lässt er sich überwinden?

Die AutorInnen dieses Artikels waren in der Vergangenheit in separatistischen „People of Color“-Strukturen – antirassistischen Hochschulgruppen, PoC-Empowerment-Gruppen, und PoC-Lesekreisen – aktiv und haben viele der hier kritisierten Argumentationsmuster und damit zusammenhängender Politiken selber vertreten. Auf Basis dieser Erfahrungen und Reflexionen soll dieser Artikel einen Diskussionsanstoß geben.

Liberaler Antirassismus heute

Der Liberalismus ist die hegemoniale Ideologie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: Sie setzt die Freiheit des Individuums an erste Stelle und richtet sich gegen Kollektivismus und den Missbrauch von Macht und Herrschaft. Dass die Freiheit im Kapitalismus für die Arbeiter*innen vor allem die „Freiheit“ von Produktionsmitteln bedeutet und dementsprechend die „Freiheit“ ihre Arbeitskraft zu verkaufen nach sich zieht, wird dabei verschwiegen. Genauso, dass die eigentliche Freiheit, die hier verteidigt wird, den Kapitalist*innen gebührt: die Freiheit des Eigentums ist das Grundelement der bürgerlichen Ordnung, die vom Staat, Rechtssystem und Polizei, geschützt wird. Der Liberalismus verkennt, dass Herrschaft ein unübertroffenes Ausmaß angenommen hat, indem suggeriert wird, dass sie auf ein Minimum reduziert worden sei.

In den 60er und 70er Jahren haben anti-koloniale Widerstandsbewegungen, auch im Westen, einen Massencharakter angenommen, der über die koloniale Frage hinaus ging. In Algerien, Angola und Palästina wurde für die Nationale Unabhängigkeit gekämpft. Zu Zehntausenden fanden sich Gegner*innen des Krieges der USA in Vietnam zusammen. In Lateinamerika bildeten sich Guerrilla-Bewegungen zum Umsturz diktatorischer Hinterhofregierungen der USA. Die Schwarze Antirassistische Bewegung von Südafrika über die USA und Großbritannien fand ihren Höhepunkt, ebenso die kämpferische Organisierung von Frauen, Lesben und Schwulen. Statt zu einer gesamtgesellschaftlichen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu führen, wurden diese emanzipatorischen Bewegungen mehrheitlich in den Neoliberalismus und seine individualistische Ideologie der „Freiheit“ aufgesogen – so auch der Antirassismus. Es wird vermittelt, dass die Überwindung menschenfeindlicher Ideologien wie Rassismus von Optimierungen individueller Denk- und Verhaltensweisen abhängt. Die Auswirkungen dieser Ideologie werden in Folge einer Kritik unterzogen.

Vorurteilspädagogik und Sprachpolitik

Die Vorurteilspädagogik hat sich zum Ziel gesetzt Rassismus durch Aufklärung und Bildung zu bekämpfen. Rassistische Vorurteile sollen durch pädagogische Maßnahmen wie Antirassismus-Workshops und antirassistische Kinderbücher „geheilt“ werden. Auch Sprache und Sprachpolitik sind weitere Kernthemen: Es solle auf eine Rassismus- bzw. diskriminierungsfreie Sprache geachtet werden – nach der Annahme „Sprache prägt die Realität“. Jedoch sind Ausbeutung und Unterdrückung eine materielle Realität, die sich nicht wegsprechen oder -schweigen lässt. Immer wieder wird der Vorwurf laut, Personen würden sich bei Nacherzählungen des Rassismus schuldig machen, wenn sie rassistische Wörter oder Vorurteile aussprechen. Sie würden dadurch zu Mittäter*innen. Damit findet eine Verschiebung statt: die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse, die dem Rassismus zugrundeliegen, rücken in den Hintergrund oder werden nicht weiter thematisiert.

Wir finden Antirassismus-Workshops, antirassistische Kinderbücher und eine diskriminierungsfreie Sprache wichtig, sehen sie aber nicht als Hebel eines antirassistischen Kampfes. „Language is far from irrelevant. But if we want to change it among the masses of people, we need to build a mass movement that affects mass consciousness“4. Für uns sind Gedanken und Sprache Ausdruck der materiellen Realität. Das Sein (unsere Existenz, die gesellschaftlichen Verhältnisse, unser Alltag darin) prägt das Bewusstsein (unsere Gedanken darüber und die Sprache um sie auszudrücken). Weil uns dieser Satz überzeugend erscheint, lehnen wir die Praxis der Sprachpolizei, wie es in vielen aktivistisch-akademischen Räumen gängig ist, ab. Wir wollen politische Diskussionen um Begriffe öffnen, anstatt diese Diskussion im Vorhinein zu verunmöglichen. Wir wollen nicht, dass Wörter und Ideen Macht über unser Handeln bekommen sondern selbst unsere materielle Realität und damit auch unsere Sprache kontrollieren. Wir setzen uns deshalb für eine Sprache ein, die es möglichst allen Menschen erlaubt an politischen Prozessen der Selbstermächtigung teilzunehmen.

Privilegienchecks

Die Auseinandersetzung um Privilegien ist ein weitere Spielart des liberalen Feminismus und Antirassismus. Diesen liegt ein Verständnis zugrunde, demzufolge neben diskriminierten Gruppen immer auch eine diesen binär entgegengesetzte priviligierte Gruppe existiert. Diese würden direkt oder indirekt von der Diskriminierung der diskriminierten Person „profitieren“ und seien somit angehalten ihre Privilegien zu untersuchen (Privilegiencheck) und sich dementsprechend sensibel – z.B. weniger raumeinnehmend gemäß ihrer Liste an Privilegierungen – zu verhalten. Wir denken jedoch, dass eine nicht-Erfahrung von einer bestimmten Unterdrückung nicht gleichgesetzt werden kann mit einer Machtausübung oder einem „Privileg“. Wir stellen fest, dass hier Politik durch subjektive Moral ausgetauscht wird und somit die Strukturen hinter der Unterdrückung – Kapitalismus, Eigentum, Imperialismus5, Ausbeutung bestimmter schlecht bezahlter Arbeitskraft etc. – nicht angetastet werden. Ja, wir brauchen eine Bewegung in der sich alle Menschen in allen Formen willkommen und zu Hause fühlen. Nur so können wir eine Bewegung aufbauen die alle Teile unserer Klasse anspricht und zum kollektiven Handeln motiviert. Jedoch dürfen wir Identität nicht mit Unterdrückung verwechseln. Wir gehen hier mit Sharon Smiths Analyse mit, welche die ‚Politiken des Privilegien-Checks‘ innerhalb linker Strukturen in den USA kritisch untersucht hat:
„The practice of privilege-checking relies on its own fairly rigid method of mechanical determinism – assuming that the assertions of a non-privileged person who calls out a privileged person, based on a particular comment, misuse of language or personal demeanor, cannot be challenged. Those who are privileged in a given situation can only offer support and apologies to the non-privileged by checking their privilege and calling out others who are privileged. […] This approach places its overriding emphasis on who is making a particular argument or accusation, rather than the content of that argument or accusation. In this context, moralism can supersede politics and prevent the kind of honest and useful debate that is essential to democratic norms. It is easy to see how this approach can inhibit the free exchange of ideas – including necessary political debates“6.
Statt einer notwendigen politischen Debatte um Rassismus, Privilegien und Identität, verstummen Menschen in solchen Räumen mit ihren Fragen und Überlegungen.

Dekolonisierung und Repräsentation

Immer mehr formieren sich, vor allem an Hochschulen Gruppen, die eine ‚Dekolonisierung‘ fordern. Hierbei wird die „weiße“ Hegemonie in der Akademie – personell und inhaltlich – als Beweis für die kolonial-eurozentristische Kontinuitäten von Forschung und Wissenschaft angeführt. Man lese nur „alte, weiße Männer“, Frauen of Color seien dagegen kaum vertreten, personell oder inhaltlich. Es stimmt, auch 2017 finden sich unter den Professor*innen wohl mehrheitlich „weiße“ Männer aus akademischen Familien. Jedoch erscheint es uns nicht überzeugend alle akademischen Räume pauschal als „weiß“/„männlich“ zu betiteln. Was soll das heißen? Was ist die Essenz des „Weißseins“? Was macht eine Theorie „männlich“ und damit falsch? Wir wollen rassistische Muster nicht reproduzieren und festschreiben sondern konkrete Kritiken an den Institutionen üben, die besondere Funktionen der Herrschaft ausüben. Diese von uns kritisierten Institutionen können jedoch auch einen migrantischen Chef haben. Das Geschlecht, die Sexualität oder die Herkunft des*r Dozent*in mag Auswirkungen darauf haben, was gesagt wird, sie sind aber nicht ausschlaggebend – bestes Beispiel ist der oben genannte Akif Pirinçci, dessen ‚Migrationshintergrund‘ vor Rassismus nicht schützt. Wie auch in der Diskussion um Privilegien sollte der Fokus deshalb nicht auf „Identität“, sondern auf der inhaltlichen Position liegen. Ein Karl Marx oder Antonio Gramsci ist eben nicht mit europäischer Kolonialliteratur gleichzusetzen.

‚Dekolonisierung‘ ist im wesentlichen der Prozess der Aufhebung des kolonialen Verhältnisses – also kapitalistischer Verhältnisse auf dem Level des Weltmarkts, die mit Rassismus operieren. Es geht um mehr als um „weniger eurozentrische“ Perspektiven. Mit einer reinen Repräsentationspolitik, bei der proportional zu der Gesamtgesellschaft alle gesellschaftlich minorisierten Gruppen gleich vertreten sein sollen, verabschieden wir uns deshalb von jeglichem politischem Inhalt. Aus einem antirassistischen Anspruch würde so eine Schwarze Professorin oder ein migrantischer Professor nicht für deren Arbeit und Lehre sondern lediglich aufgrund ihrer Hautfarbe oder der Herkunft ihrer Eltern gefeiert werden. Für viele Vertreter*innen dieses Ansatzes wäre eine Gesellschaft, in der die kleine Kapitalist*innenklasse komplett proportional nach Minderheiten zusammengesetzt wäre, damit eine gerechte Gesellschaft7.

Safer Space

Auch das Konzept des ’safer space‘ wird in bestimmten institutionellen sowie linken Kreisen vermehrt vertreten. Demnach teilen alle Menschen die Rassismus am eigenen Körper erleben einen gewissen biografischen Erfahrungshorizont und befänden sich ohne „weiße“ Menschen in einem sichereren Raum, in dem sie dadurch automatisch anders über ihre Erfahrungen in Bezug zu Rassismus sprechen könnten. Wir sprechen niemandem ab sich nur unter Migrant*innen oder nur unter Frauen treffen zu wollen und denken, dass es oft ein wichtiger erster Schritt ist um ähnliche biografische Erfahrungen auszutauschen und dadurch zum ersten Erkennen struktureller Muster des eigenen Erlebens zu gelangen. Nach unserer Erfahrung sind diese Räume jedoch nicht ’sicherer‘ sondern einfach Räume nur mit Migrant*innen oder nur mit Frauen. Zu einer diskriminierten Gruppe zu gehören, sagt nicht zwangsläufig etwas über die eigene Sensibilität zu der spezifischen oder zu anderen Unterdrückungen aus. Auch in migrantischen Räumen werden wir mit nationalistischen, rassistischen, und patriarchalen Einstellungen und Strukturen zu kämpfen haben. Das gleiche gilt für Frauenräume. Unsere ’sichereren Räume‘ schaffen wir uns in unserem Lebens- und Kampfumfeld mit Menschen die unterschiedlich in ihren biografischen Erfahrungen sind, mit denen wir jedoch ein gemeinsames politisches Projekt – das Überkommen von Ausbeutung und jeder Unterdrückung – als bindendes Element teilen. Erst der alltägliche Kampf miteinander und füreinander macht uns zu Geschwistern, über alle rassischen und Geschlechtergrenzen hinweg.

Antirassismus als Karriere

Mittlerweile hat sich eine Generation von antirassistischen Trainer*innen gebildet, welche – oft gefördert durch staatliche Gelder – Antidiskriminierungsstellen etablieren und Unternehmen im Antirassismus schulen. In diesem Sektor arbeiten „Diversity-Beauftragte“, es geht um „Inklusion“ und „Empowerment“. Und natürlich werden die Inhaber*innen dieser Posten alles tun, damit sie ihren Arbeitsplatz sichern. Antirassismus wird somit zur Karriere. Durch Vorurteilspädagogik wird Rassismus ein individualisiertes Problem der ‚falschen Einstellung‘, welches durch Workshops und „positive Diskriminierung“8 behoben werden kann. Es finden sich hier auch Einzelne, die sich dieser Strukturen bewusst sind und versuchen widerständig ‚von innen‘ Veränderungen zu bewirken. Wir halten es jedoch für unabdingbar den Kapitalismus als gesellschaftliches Gesamtprojekt zu überkommen, wenn wir uns eine Gesellschaft frei von Rassismus wünschen. Statt einem Fokus auf die „intersektionalen Identitäten“ von Individuen, brauchen wir eine konkrete, kollektive Strategie um Rassismus wirklich zu bekämpfen. Diese muss immer auch die individuelle Bewusstwerdung zu allen Strukturen der Ausbeutung und Unterdrückung umfassen – jedoch nicht isoliert, sondern auf Basis eines kollektiven Kampfes. Und sie darf den bürgerlichen Staat und die Lohnarbeit nicht als Hebel für diesen Bruch verstehen, sondern muss sie als Institutionen globaler Ausbeutungs- und Unterdrückungstrukturen verstehen und bekämpfen.

Rassismus analysieren – aber wie?

Wir verstehen Rassismus als eine Ideologie, die in der kapitalistischen Gesellschaft eine zentrale Funktion einnimmt9. Diese Ideologie, die Homogenisierung, das mit Bedeutung-Versehen und Hierarchisieren von Gruppen nach strukturellem Muster, wird gezielt durch Medien und Bildungseinrichtungen verbreitet und schafft eine Grundlage zur Legitimierung von schlechteren Arbeitsbedingungen und noch geringerer Entlohnung für migrantische Menschen in Deutschland10. Es führt zu Konkurrenz und somit zu leichten Sündenböcken bei wirtschaftlichem oder politischem Negativtrend.

Wenn wir Rassismus bekämpfen wollen, tun wir das nicht nur für uns, sondern für alle Menschen die davon betroffen sind. Rassismus zu überwinden, bedeutet, den Rassisten und den Rassifizierten zu überwinden. Dabei müssen wir einsehen, dass im post-kolonialen 21. Jahrhundert eine solche klare Trennung gar nicht mehr gemacht werden kann. Nicht nur, weil sich in den imperialistischen Metropolen wie Deutschland neben den Kolonial-Rassismen auch eine Vielzahl anderer Formen des Rassismus existieren, die sich etwa auf die deutsche Ausländerpolitik der vergangenen Jahrzehnte stützen. Andere Rassismen, wie der türkische Rassismus gegen Kurd*innen, sind mit der Migration nach Deutschland gelangt. Dazu kommt, dass es oft unmöglich ist das Phänomen Rassismus von z.B. sexistischer oder nationalistischer Ideologie zu trennen.

Für einen schlagkräftigen antirassistischen Widerstand müssen wir die Konjunkturen des Rassismus im Rahmen ihrer spezifischen ökonomischen und politischen Hintergründe, mit ihren besonderen Ausdrucksformen und Zielgruppen, als solche anerkennen. Der antimuslimische Rassismus etwa hat sich im Kontext des durch die USA angeführten „War on Terror“ und den damit korrelierenden Aufschwung islamistisch-fundamentalistischer Bewegungen zu einem transnationalen Rassismus entwickelt. Seinen organisierten Ausdruck in Gruppen wie PEGIDA, mit dem klaren Bezug auf das europäische „Abendland“ muss aber auch im Kontext der europäischen Außen- und Grenzpolitik, dem Ausbau des staatlichen Überwachungs- und Repressionsapparates unter dem Schlagwort der „Sicherheitspolitik“ sowie des europäischen Einigungsprozesses darüber was Europa eigentlich (nicht) ist, gesehen werden.

Hier kommen wir zu den Funktionen des Rassismus, welche neben der psychologischen Ebene auch strukturell bestimmt sind: darunter die Organisierung des nationalen Kollektivs und Nationalstaats oder, im Fall von suprastaatlichen Strukturen wie der EU, eines Staatenverbunds: Wer gehört (nicht) dazu, und unter welchen Bedingungen? Die Geschichte der „Gastarbeiter“, aber auch die besonders abwertende Integration heutiger Asylsuchender in den deutschen Arbeitsmarkt11 zeigen die Funktion des Rassismus in der Hierarchisierung und Spaltung der arbeitenden Klasse im offenen Interesse der deutschen Wirtschaft.12 Selbiges kann mit Blick auf die globalisierte Produktion auch auf dem globalisierten Weltmarkt und das imperialistisch dominierte Staatensystem übertragen werden.

Dass Rassismus die Arbeiter*innenklasse spaltet, indem er mit den Mythen von Nation und Rasse die Klassensolidarität verhindert, zeigt sich immer wieder aufs Neue. Schon Marx sah im 19. Jahrhundert im anti-irischen Rassismus der britischen Arbeiter*innenklasse ein Übel, welches überkommen werden muss, um einen gemeinsamen revolutionären Klassenkampf führen zu können.13 Antimuslimischer Rassismus erfüllt darüber hinaus heute auch dort eine Funktion, wo er möglichen migrantischen Widerstand verhindert, indem er auch unter Migrant*innen – Muslim*innen wie nicht-Muslim*innen – den staatlichen Konsens „gegen den Terrorismus“ z.B. erzwingt.14 Die Rede von „gut integrierten“ und „nicht integrierbaren“ Migrant*innen ist Ausdruck dieser erzwungenen Loyalität mit dem deutschen Staat, der nicht nur Deutsche, sondern auch Migrant*innen an die Logik von Staat und Kapital bindet.

Kämpfen statt moralisieren

Antirassistische Politik darf die Diskussion um rassistische Sprache und individuelle Rassismus-Erfahrungen nicht ausklammern, aber auch nicht dort stehenbleiben. Sie darf sich nicht vor Kritiken und Entwicklungen versperren. Was eine antirassistische Bewegung braucht ist eine demokratische Streitkultur. Wir wollen ein solidarisches, ehrliches Miteinander statt bürgerlicher Höflichkeit, die nur darauf hinausläuft den falschen Frieden der herrschenden Verhältnisse aufrecht zu erhalten.

Entgegen einer rein moralischen Politik, die Rassismus nur als Vorwurf benennt und an bestimmte Identitäten knüpft, müssen wir betonen, dass Rassismus durch Individuen und Gruppen hindurch geht15. Wir reden also nicht vom „falschen Denken“ einzelner, sondern von einem wesentlichen Merkmal der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Also einem strukturellen Phänomen, welches auch als solches bekämpft werden muss.

Die sich immer verändernden Formen des Rassismus und seine Funktion im ökonomischen und politischen System lassen sich nicht in ein statisches Schema von „Weißen“ und „People of Color“16 pressen. Die anstelle von einem antirassistischen und feministischen Klassenbewusstsein herrschende „antideutsche“ Identitätspolitik in großen Teilen der Linken ist ein weiterer Ausdruck dieser hoffnungslosen Stagnation. Das betrifft sowohl die antideutsche, als auch die antirassistische Szene, in der das Lachen über „Weißbrote“ und „Kartoffeln“ (gemeint sind „weiße“ Deutsche) mittlerweile als Ausdruck eines antirassistischen Bewusstseins gilt. Tatsächlich ist aber weder der affirmative Bezug auf konstruierte Identitäten, noch die reine Abgrenzung davon durch Gegenidentitäten (Antideutsche, People of Color, …) im Stande über das Bestehende hinaus zu gehen. Die aus den USA importierte Vorstellungen von „white allies“ (weißen Alliierten) in den Kämpfen von Schwarzen und „People of Color“, die in Europa ihr Pendant in der Identität des „Supporters“ von Asylsuchendenkämpfen hat, ist ebenso Teil der neuen liberalen Spielart des Antirassismus, die wir überwinden müssen.

Antirassismus und Klassenkampf – für eine gemeinsame Bewegung!

Die Unterstreichung des Individuums, ob in der individuellen Verantwortung die eigenen Vorurteile zu bekämpfen, oder im individuellen Wohlergehen – Selfcare, Achtsamkeit, Empowerment – werden im liberalen Antirassismus als Kern der politischen Intervention verstanden. Wir streben jedoch keine Verschönerung, sondern eine gesamte Umwälzung dieses verrotteten Systems an. Dass wir uns dafür bestärken („empowern“) müssen, ist klar. Das geschieht aber nicht durch einen oder zwei Workshops. Was es braucht sind Genoss*innen aller Nationalitäten, Haut- und Haarfarben, Geschlechter und Religionen, die anstelle von identitären Subkulturen eine solidarische, internationalistische Kultur aufbauen.

Wir müssen unsere Besonderheiten – als Migrant*innen, Frauen, Queers etc. – anerkennen, um darüber unsere Universalität des Menschseins erkennen zu können17. Das bedeutet, dass Rassismus nur in realen Klassenkämpfen bekämpft werden kann. Ob in den Kämpfen von entrechteten migrantischen Arbeitern, wie im Fall der Mall of Shame, oder in gemeinsamen Kämpfen deutscher und migrantischer Arbeiter*innen, Arbeitsloser, Jugendlicher, Schüler*innen, Azubis, Student*innen. Wir und unsere Eltern sind als Lohnabahängige Teil der Arbeiter*innenklasse in Deutschland und müssen uns als solche organisieren. Anders als alle anderen Identitäten zielt der Klassenkampf auf die Auflösung des Kapitalismus, des Lohnsystems, der Arbeiter*in-Identität und jeglicher Identität ab, die uns am gemeinsamen Menschsein hindert. Wir müssen aus der Vereinzelung raus kommen, uns in Kollektiven zusammenfinden und revolutionäre Organisationen aufbauen. Entgegen des Liberalismus und Neoliberalismus und ihrer Vorstellung der Befreiung des Individuums, gehen wir davon aus, dass ein Individuum nur frei sein kann, wenn auch die Gesellschaft frei ist. Im Kapitalismus kann es keine Befreiung geben, nur immer mehr Reichtum und Armut, schöne Fassaden in den imperialistischen Zentren, Krieg und Elend in den Peripherien, und immer neuen Rassismus um dieses Verhältnis aufrecht zu halten.

Von Amanda Trelles Aquino, Can Yıldız, Ward Jazani

1https://www.klassegegenklasse.org/der-schwierige-weg-zur-wahrheit-zur-kritik-des-liberalen-antirassismus/

3Wir sind uns bewusst, dass wir damit weiterhin verschiedene Spielarten des Antirassismus unter einen Hut stecken, die bisweilen wenig miteinander zu tun haben. Anhand unserer Kritik soll aber das verbindende „liberale“ Element dieser Formen des Antirassismus deutlich werden.

7 Siehe hierzu: Reed Jr, Adolph (2015): Marx, Race, and Neoliberalism, in: New Labor Forum 22(1) 49–57.

8 ‚Positive Diskriminierung‘ oder auch ‚affirmative action‘ soll Menschen aus benachteiligten Gruppen bei der Vergabe von z.B. Arbeitsplätzen bevorzugen.

9 In unserer Definition beziehen wir uns auf Robert Miles, C.L.R. James, Frantz Fanon, Selma James, Adolph Reed Jr. und Keeanga-Yamahtta Taylor.

10Seit Jahren hält der Trend an, dass Ausländerinnen und Ausländer annähernd doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Ursachen hierfür sind eingeschränkte Zugangsrechte durch den Vorrang von Deutschen und EU-Bürgern bei der Einstellung (Vorrangprinzip) sowie Hindernisse bei der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse. Zwei weitere Faktoren sind von Bedeutung: ihre erhöhte Betroffenheit vom Strukturwandel, da sie oft im verarbeitenden Gewerbe tätig sind, und ihre berufliche Stellung als Un- oder Angelernte. […] Auch der Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bleibt hinter dem der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zurück. Dies zeigt ihre niedrigere Ausbildungsquote. Ein wichtiger Hinweis für Diskriminierungen ist die Tatsache, dass selbst ausländische Jugendliche mit gleichem Schulabschluss erheblich schlechter einen Ausbildungsplatz finden als die deutsche Vergleichsgruppe.“ aus: Mauer, Heike (2009): Prekäre Beschäftigung und Arbeitnehmende mit Migrationshintergrund, Arbeitspapier 179 – Hans-Böckler-Stiftung, S. 14-15.

11Siehe https://sozialgeschichteonline.files.wordpress.com/2017/03/sgo_20_2017_basisdemokratische-linke_integrationsgesetz.pdf

12Siehe die Überrepräsentation von Migrant*innen und ihren Nachkommen in Arbeitslosenstatistiken und besonders gefährlichen und schlecht bezahlten Jobs wie Industrie, Fleischproduktion, Bau, Landwirtschaft, Security, Gebäudereinigung, Pflege oder Sexarbeit.

13Marx, Karl (1975 [9. April 1870]): Brief an An Sigfrid Meyer und August Vogt; in: Karl Marx, Friedrich Engels, Irland: Insel in Aufruhr, Dietz Verlag, S. 211–217.

14 Vgl. Bojadžijev, Manuela: Die windige Internationale

15 Vgl. Jule Karakayali, Vassilis S. Tsianos, Serhat Karakayali und Aida Ibrahim in „Decolorise it!“, http://www.akweb.de/ak_s/ak575/23.htm

16 Massimo Perinelli hat überzeugend den Fehlimport des „Critical Whiteness“-Konzepts aus den USA beschrieben. Die diesem zugrundeliegende US-Geschichte der Sklaverei und Schwarzer Befreiungskämpfe entspricht nicht der spezifisch deutschen Geschichte des Rassismus, welche in den vergangenen Jahrzehnten vor allem mit Migrationsbewegungen, darunter den „Gastarbeitern“ und späteren Migrationsbewegungen von Geflüchteten zusammenhängt. Vgl: http://phase-zwei.org/hefte/artikel/triggerwarnung-566/

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2 Kommentare

    Pat Riage 28. Juni 2017 - 12:48

    Wenn Muhammad Ali sein Maul aufmachte, wenn Angela Davis sprach, dann brauchten die Faschos einen „Safe Space“. Wenn Ho Chi Minh mit der Wimper zuckte, verdrückten sich die Amis in ihre Baracken. Tausend Lichtjahre von den heulerischen Pissnelken, die antirassistisches Engagement als Schritt zur UNO-Karriere sehen!
    Paul LaFargue, der Schwiegersohn von Karl Marx verhielt sich indes das ganz vorbildlich:
    „Auf sozialistischen Kongressen wurde Lafargue nach seiner Abstammung gefragt. Bernstein schrieb: „Das Bewußtsein, daß er zum Teil von Angehörigen unterdrückter […] Rassen abstammte, scheint schon früh sein Denken beeinflußt zu haben“. Auf Fragen nach seiner Abstammung ist der Ausspruch überliefert, er sei stolz, von „Negern“ abzustammen. Schon zu Beginn seiner politischen Aktivitäten setzte er sich gegen rassistische und antifeministische Angriffe seiner Genossen zur Wehr. So hieß es in einem mit „Paul Lafargue, Mulatte“ unterzeichnetem Artikel: „Sie schleudern uns als Beleidigung die Bezeichnung homme de couleur ins Gesicht. Es ist unsere Aufgabe als revolutionäre Mulatten, diese Bezeichnung aufzunehmen und sich ihrer würdig zu erweisen. Radikale in Amerika, macht Mulatte zu eurem Sammelruf! […] Er bezeichnet Elend, Unterdrückung, Haß. Wißt ihr etwas Schöneres?“[11]“

    meh 8. Februar 2019 - 12:38

    Danke für diesen Artikel, inbesondere an die „rassenverräterischen“ Autoren!

    Zu Fußnote 7:
    https://bennorton.com/adolph-reed-identity-politics-is-neoliberalism/

    Adolph Reed: Identity Politics Is Neoliberalism

    “ [Identity] politics is not an alternative to class politics; it is a class politics, the politics of the left-wing of neoliberalism. It is the expression and active agency of a political order and moral economy in which capitalist market forces are treated as unassailable nature.

    An integral element of that moral economy is displacement of the critique of the invidious outcomes produced by capitalist class power onto equally naturalized categories of ascriptive identity that sort us into groups supposedly defined by what we essentially are rather than what we do. As I have argued, following Walter Michaels and others, within that moral economy a society in which 1% of the population controlled 90% of the resources could be just, provided that roughly 12% of the 1% were black, 12% were Latino, 50% were women, and whatever the appropriate proportions were LGBT people.

    It would be tough to imagine a normative ideal that expresses more unambiguously the social position of people who consider themselves candidates for inclusion in, or at least significant staff positions in service to, the ruling class.“