„Die USA sind die schlimmsten Feinde aller Revolutionäre und Unterdrückten auf der Welt“

23. Mai 2017

Wie entstand im Mittleren Osten die Selbstverwaltung in Rojava? Was unterscheidet die kurdischen Revolutionär*innen in Syrien von anderen Milizen? Und welche Gefahren birgt die Zusammenarbeit mit den USA oder Russland? Interview mit Şahin Cudi

#Sahin Cudi arbeitet in der Leitung der Yekitina Ciwanen Rojava (YCR), der Vereinigung der Jugend Rojavas.

Kannst du kurz eine Einordnung der Revolution in Rojava in die politischen Verhältnisse im Mittleren Osten versuchen?

Der Mittleren Osten befindet sich in einer Krise. Und diese Krise zeigte den Menschen hier die Notwendigkeit von Veränderung. Die Notwendigkeit für Veränderung gab es hier seit langem. Schon vor Dekaden hätte es hier Revolutionen wie etwa in Kuba geben sollen. Aber wir sehen, dass diese Energie für eine Revolution sich jetzt, im 21. Jahrhundert, entladen hat – etwa im arabischen Frühling.

Worin liegt diese Krise begründet? Das System der Nationalstaaten, das dem Mittleren Osten mit Gewalt aufgezwungen wurde, ist nicht mehr in der Lage, sich zu halten. Das System konnte die Menschen lange zurückhalten, indem es sie in Angst versetzte. Aber zur gleichen Zeit wuchs der Wille zur Veränderung. Man kann auch bis zur 68er-Generation zurückgehen: Seit damals gab es zahlreiche Aufstände im Mittleren Osten, in Palästina, in der Türkei.

In Kurdistan entstand unter der Führung Abdullah Öcalans unsere Bewegung. Sie begann einen Kampf, der bis heute andauert. Dieser richtete sich von Anfang an gegen jene drei Momente der herrschenden Mentalität, gegen die wir auch heute kämpfen: Patriarchat, Nationalismus und religiöser Fundamentalismus. Alle herrschenden Fraktionen der Region basieren auf diesen drei Elementen. Gegen diese beginnen die Menschen, sich aufzulehnen.

Diese Unterdrückungsmechanismen passen auch nicht zu unserer Region. Denn sie gründen sich immer auf die Unterdrückung vieler Gruppen und wir leben in einer Region, die durch ihre Unterschiedlichkeit geprägt ist. Kulturell, religiös, ethnisch ist der Mittlere Osten eine sehr farbenfrohe Gegend.

Viele Bewegungen haben sich gegen diese Unterdrückungsformen gewandt. Aber sie waren leider allesamt nicht in der Lage, Lösungen zu entwickeln. Heute existiert mit unserer Bewegung, die sich aus der PKK entwickelt hat, eine Bewegung, die eine andere Herangehensweise verfolgt als alle anderen zuvor. Wir kämpfen gegen alle diese Mentalitäten der Unterdrückung, sind aber zur gleichen Zeit auch in der Lage eine Alternative zu präsentieren.

Die Kräfte des Kapitalismus nutzen das Chaos in der Region, um ihre eigene Lösung durchzusetzen. Sie wollen uns eine kapitalistische Lebensweise aufzwingen. Sie wollen alle von Geld abhängig machen, die Ethik und den sozialen Zusammenhang der Gesellschaft zerstören. In den vergangenen Jahrzehnten versucht das kapitalistische System sich permanent im Mittleren Osten zu verankern, aber so richtig will das nicht gelingen. Weder militärisch, noch politisch oder gesellschaftlich haben seine Vertreter wirkliche Erfolge. Die kulturelle und historische Wirklichkeit im Mittleren Osten unterscheidet sich sehr stark von der westlicher Gesellschaften. Das kapitalistische System soll dem Mittleren Osten quasi von außen aufgezwungen werden. Deshalb gibt es immer Widerstand seitens der Menschen hier.

In dem „Chaos“, wie du es nennst, kämpfen unzählige Akteure gegeneinander. Was unterscheidet die kurdische Bewegung von den anderen Kräften?

Sicher, hier gibt es viele verschiedenen Kräfte und alle wollen irgendetwas anderes. Einige versuchen, das europäische System des Kapitalismus zu kopieren. Andere wollen ein auf religiösem Fundamentalismus basierendes System errichten. Wieder andere nennen sich zwar Sozialisten, Kommunisten, Demokraten, haben aber eigentlich mit Sozialismus, Demokratie oder einer Revolution nichts zu tun.

Die Gesellschaft des Mittleren Ostens ist pluralistisch und vielschichtig. Man kann hier nicht irgendein monistisches System errichten, das diese Vielschichtigkeit nicht akzeptiert. In Syrien zum Beispiel haben wir den Assad-Klan, der vor langer Zeit durch einen Militärputsch an die Macht kam. Sie unterdrückten andere, um ihre Macht zu erhalten. Die Baath-Partei nennt sich auch irgendwie sozialistisch, aber wenn wir uns die Praxis ihrer Herrschaft ansehen, sehen wir, dass das nichts mit Sozialismus zu tun hat.

Wegen der Art und Weise, wie die Baath-Partei durch Gewalt und Angst regiert hat, kam es zu einer Situation, in der es das Potential für eine große Explosion in der Gesellschaft gab. Denn die Gesellschaft musste aus dieser Situation ausbrechen. Als der arabische Frühling begann, entlud sich dieses Potential. Das Problem war aber, dass jene Revolutionäre, die es gab, entweder schon vor der Revolution im Knast saßen oder während der Revolution inhaftiert wurden. Es gab keine revolutionäre Erfahrung in Syrien. Auch die, die sich Revolutionäre nannten, hatten keinerlei Erfahrung, wie man so einen Kampf führt. Diejenigen, die dann stärker wurden, waren die, die von der selben Mentalität getragen, wie der Staat selbst: patriarchales Bewusstsein, Nationalismus und religiöser Fundamentalismus.

In Rojava war die Lage anders. Hier gab es Revolutionäre mit Erfahrung. Sie konnten auf einen Jahrzehnte langen Kampf zurückblicken, der mit der PKK begonnen hatte. Hier war in der Theorie wie in der Praxis eine immense Erfahrung vorhanden, wie man gegen das kapitalistische System zu kämpfen hat, die Gesellschaft verändern kann und sich verteidigen kann. Deshalb begannen die Menschen in Rojava sehr schnell, sich zu bilden, ihre Gesellschaft aufzubauen und sich zu verteidigen. Die Revolution hier hat nicht bei Null begonnen. Sie trat ein langes Erbe an. Dieses Erbe war das von 40 Jahren PKK. Diese Revolution beruht auf einer ganz anderen Mentalität als die der anderen Kräfte, nämlich der der demokratischen Autonomie.

Die regionalen und internationalen Kräfte wollen diese Revolution zerstören. Zu diesem Zweck bauten sie verschiedene Banden auf, Al-Nusra, Daesh und andere. Diese wurden vor allem von der Türkei und Amerika unterstützt. Mit ihnen wollten die imperialistischen Kräfte ihre Interessen durchsetzen und die Revolution niederschlagen. Die sogenannte syrische Opposition ist nichts anderes als das.

Aber der Erfolg der Revolution in Nordsyrien, in Rojava, auf militärischen, politischem und gesellschaftlichem Gebiet zwang eine Reihe von internationalen und regionalen Kräften zu Allianzen. Weil sie uns nicht zerstören konnten, waren sie genötigt, Allianzen mit uns einzugehen. Während sie das tun, verfolgen sie aber weiter ihren Plan, die Revolution zu zerstören. Wir umgekehrt versuchen, diese Allianzen für uns selbst und unser Volk auszunutzen.

Diese „Allianzen“ mit internationalen Kräften sind doch nicht unproblematisch. Amerikanische Soldaten sind auf dem Territorium Rojavas stationiert. Verhilft das nicht eher dem Kapitalismus zur Durchsetzung seiner Hegemonie?

Der Kampf gegen Kapitalismus ist keiner, der allein militärisch ausgefochten wird. Natürlich hat der Kapitalismus einen Einfluss auf die Gesellschaft hier in Syrien, in Kurdistan, im gesamten Mittleren Osten. Der Kapitalismus versucht mit seiner Lebensweise, seiner Kultur den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zerstören, um eine Mentalität des Individualismus zu schaffen, in der jeder nur auf sich selbst und sein materielles Vorankommen achtet.

Das ist ein ideologischer Krieg, den das kapitalistische System gegen die Gesellschaft kämpft. Natürlich, wir befinden uns in einem Krieg gegen den Kapitalismus. Nicht allein militärisch, sondern vor allem auch ideologisch. Wir sind auch erfolgreich dabei, die Gesellschaft gegen den Kapitalismus zu organisieren.

Klar ist aber auch: Die Wirklichkeit ist nicht schwarz oder weiß. Wir als Jugendbewegung haben tausende von Mitgliedern. Sie machen ihre Arbeit in der Bewegung, sie investieren viel Kraft. Aber sie leben nach einem kapitalistischen Lifestyle. Ihre Mentalität bleibt auf viele Weise kapitalistisch. Der Kampf gegen den Kapitalismus ist keiner, bei dem man einfach sagen kann: Es soll jetzt anders sein. Und dann wird es anders. Es reicht auch nicht, sich Antikapitalist zu nennen. Es ist ein lange währender Kampf. Es ist ein Kampf, den man jeden Tag, Schritt für Schritt zu führen hat. Ein Kampf der Selbstkritik und der Bildung.

Natürlich geht es darum, das System abzuschaffen und ein neues System aufzubauen. Aber das System reproduziert sich immer in einer bestimmten Mentalität. Da besteht eine dialektische Beziehung zwischen dem Aufbau eines neuen Systems und der Denkweise der Menschen.

Der Einfluss des Kapitalismus, das sind nicht nur die amerikanischen Soldaten, die wir hier in Rojava sehen können. Nicht nur die physische Präsenz des Feindes ist das Problem. Es geht um eine hundert Jahre andauernde Erziehung zu kapitalistischer Mentalität, die überwunden werden muss. Gegen diesen Einfluss versuchen wir, uns zu verteidigen.

Oder ein anderes Beispiel: Es gibt Menschen, die gegen den syrischen Staat sind. Aber gleichzeitig sind sie seine Angestellten, weil sie Beamte sind. Sie sind dadurch abhängig, sie kriegen Geld vom Regime. Das Problem liegt hier: Wir sind gegen das kapitalistische System, aber wir haben uns noch nicht in die Lage versetzt, uns hundertprozentig vom Kapitalismus abzukapseln. Das ist ein permanenter Kampf. Und es ist einer, der nicht nur in einer Region gewonnen werden kann, sondern es ist ein Kampf, den die fortschrittlichen Kräfte global gemeinsam führen müssen.

Denkst du, wenn hier kein amerikanisches Militär wäre, hätten wir den Kapitalismus schon abgeschafft? Wohl kaum. Denn Kapitalismus existiert auf zahlreichen Ebenen, nicht nur in Form amerikanischer Militärpräsenz. Aber klar, die amerikanischen Soldaten hier sind der materielle Ausdruck des Kapitalismus selbst, denn die USA sind zweifellos die Hegemonialmacht des Kapitalismus.

Heute ist unser Kampf gegen die USA ein ideologischer. Dieser muss in der Gesellschaft ausgetragen werden. Wer weiß, vielleicht müssen wir in der Zukunft auch physisch gegen die USA kämpfen. Aber derzeit ist es eine ideologische Auseinandersetzung. Und man sieht: Sie haben einen Einfluss auf unsere Gesellschaft hier. Aber umgekehrt: Auch wir haben Einfluss auf ihre Gesellschaft und auf die Weltöffentlichkeit. Schon alleine, weil sie ständig gezwungen sind von der PKK, unserer Ideologie, unserem Kampf zu reden.

Dass sie uns Waffen geben müssen, obwohl wir der Ideologie Abdullah Öcalans folgen, ist auch ein Einfluss, den wir auf sie haben. Natürlich ist da eine Gefahr. Wenn wir diese Gefahr nicht sehen würden, wären wir keine Revolutionäre. Der Angriff auf Karacok wurde von der Türkei ausgeführt, aber er wurde von den USA zugelassen. Sie wollen uns disziplinieren und uns zeigen: Wenn ihr nicht spurt, können wir euch zerstören. Jeder sollte wissen: Die USA selbst sind die schlimmsten Feinde aller Revolutionäre und aller Unterdrückten auf der Welt.

Aber wir haben keine Angst vor ihnen. Und wir sind nicht ohne Erfahrung. Wir wissen, wie wir unsere Politik durchsetzen, wir wissen, wie wir unsere diplomatischen Beziehungen gestalten. Sie denken vielleicht, sie sind wirklich clever. Aber es ist nicht so, dass wir nicht auch clever wären. Wir benutzen sie ebenso, wie sie uns benutzen. Jeder weiß, dass es ein taktisches Bündnis ist, das nichts mit den strategischen Zielen unserer Revolution zu tun hat.

Heute ist es auch so, dass wir hier in Rojava Internationalisten aus aller Welt haben, die hier Erfahrungen für den antiimperialistischen Kampf sammeln können. Sie können in ihren Ländern oder hier an der Revolution mitarbeiten. Der revolutionäre und antiimperialistische Kampf kann nicht in schwarz-weiß-Schablonen verstanden werden. Die Art und Weise, wie man gegen den Feind kämpft, muss vielschichtig sein. Man muss viele Methoden anwenden und braucht eine gute Taktik.

Du hast jetzt viel über die USA gesprochen. Wie seht ihr den zweiten großen internationalen Player in Syrien, Russland?

Die Rolle Russlands in Syrien und seine Methoden sind anders als die der USA. Russland macht diplomatische Beziehungen, bei denen du nie weißt, woran du bist. Sie sagen dir die schönsten Dinge und machen dann etwas ganz anderes. So wollen sie Abhängigkeiten schaffen.

Was ist die langfristige Strategie der USA? Sie wollen die sunnitischen Gruppierungen organisieren, und so Einfluss auf die Region erlangen. Das Langzeitziel Amerikas ist, den Iran zu schwächen oder ihn sogar zu zerstören. An einem bestimmten Punkt hofften sie, dass Daesh den Iran angreifen würde. Aber der türkische Staat hat aus Sicht der USA diesen Plan ein wenig durcheinandergebracht. Denn Ankara ist zwar auf der einen Seite einer der wichtigsten Verbündeten Washingtons in diesem Spiel. Auf der anderen Seite aber hat die Türkei ein anderes vorrangiges strategisches Ziel: Die kurdische Befreiungsbewegung und die PKK zu zerstören. Wenn zum Beispiel ISIS nicht die kurdischen Gegenden Syriens angegriffen hätte, wären sie wahrscheinlich auch nicht so zügig besiegt worden. Daesh ist durch den Krieg in Syrien und dem Irak immer weiter gewachsen.

Russland auf der anderen Seite, versucht seine Allianzen zur schiitischen Bevölkerung zu stärken. Dazu gehört der Iran bis zu einem gewissen Grad, aber auch das syrische Regime. Das Problem Russlands ist auch, dass sie und der Iran nicht ganz an einem Strang ziehen. Auch zwischen ihnen gibt es durchaus Widersprüche.

In Syrien versucht Russland deshalb auf der einen Seite auch den Einfluss des Iran auf das syrische Regime zu begrenzen. Auf der anderen Seite will es sich das Regime ganz unterordnen. Und sie versuchen, auch uns, soweit das möglich ist, auf ihre Seite zu ziehen. Sie tun das, um eine zweites As im Ärmel zu haben. Was sie also tun, ist, dass sie das Regime und uns zusammenzubringen versuchen, aber gleichzeitig auch uns mit dem Regime und dem Regime mit uns drohen. Zum Beispiel schlagen sie zum einen vor, dass auch wir nach Idlib vorrücken könnten. Dann sagen sie dem Regime: Schaut, da gibt es auch eine andere Kraft, die nach Idlib gehen könnte. Deshalb wirft sich Damaskus dauernd in die Arme von Moskau.

Was wollen wir von Russland? Wir wollen die Beziehungen erhalten, vor allem aus einem Grund: gegen die Türkei. Am Ende aber ist unsere Linie ganz klar: Wir sehen uns als „dritten Weg“. In diesem Chaos ordnen wir uns weder dem Weg Russlands oder der USA, noch dem der regionalen Machthaber unter. Wir glauben an uns selbst und an unsere eigene Stärke, militärisch wie ideologisch. Wer immer sich offen gegen uns stellt, gegen den werden wir kämpfen. Aber wer immer uns unterstützt, sei es auch nur für einen Zeitabschnitt, dessen Hilfe werden wir nicht ablehnen.

# Interview: Peter Schaber

# Foto: Willi Effenberger

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3 Kommentare

    Noah 24. Mai 2017 - 12:42

    Wir sehen uns als „dritten Weg“ ist nicht die beste Formulierung/Übersetzung…
    https://de.wikipedia.org/wiki/Der_III._Weg

    lowerclassmag 29. Mai 2017 - 12:46

    Die kurdische Befreiungsbewegung, eine Bewegung von Millionen, nimmt warscheinlich in ihren Formulierungen wenig Rücksicht auf deutsche Kleinstsplittergruppen vom rechten Rand.
    Gemeint mit dem 3. Weg ist hier, weder mit dem Regime zu kämpfen, noch sich von einer ausländischen Macht benutzen zu lassen (Die beiden anderen „Wege“).

    Imke Akkermann-Dorn 25. Mai 2017 - 14:36

    Leider sagt der Interviewpartner nichts darüber, wie er und die Seinen sich ein System positiv vorstellen. Wie möchte er Gesellschaft ges
    talten?