Heval Agit sitzt im Schneidersitz auf einer Matratze im Innenhof eines vom Krieg gezeichneten Hauses. Er studiert konzentriert eine Karte auf seinem Tablet, immer wieder kommen Gruppen von KämpferInnen zu ihm und er erklärt ihnen den Plan für den kommenden Angriff.
Agit ist der Kommandeur der Gruppe Qamishlo, die in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai den letzten und entscheidenden Angriff auf die verbliebenen Jihadisten des Islamischen Staats (IS) am Staudamm von Tabqa, einer syrischen Kleinstadt am Euphrat, führen soll.
Die Karte auf seinem Tablet zeigt Tabqa, gelbe Punkte markieren die Positionen der Stellungen der kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG), der Frauenverteidigungskräfte (YPJ) und der arabischen Syrian Democratic Forces (SDF). Rote Punkte markieren die Stellungen des IS.
Drei Punkte sollen in dieser Nacht nacheinander eingenommen werden. Zuerst eine Ruine, in der eine kleine Gruppe IS-Kämpfer vermutet wird, dann ein Häuserblock und als letztes den Brückenkopf des Euphrat-Damms.
In den Tagen und Wochen zuvor wurde der IS Stück für Stück bis zu diesem Punkt zurückgedrängt. Begonnen hatte die Schlacht um Tabqa am 21. März mit der Einnahme des Militärflughafens:
„Am Anfang ging alles ganz schnell, wir haben jeden Tag neue Viertel befreit. Daesh [IS] scheint überhaupt nicht mit uns gerechnet zu haben. Jetzt haben sie sich in einigen Apartmentblöcken und am Staudamm eingegraben und alles vermint.“ erinnert sich Paul, ein ehemaliger US-Soldat, der jetzt in einer Freiwilligeneinheit von Sanitätern Verletzte versorgt.
Tatsächlich donnert in diesen letzten Tagen der Schlacht um Tabqa von Morgens bis Abends die schwere Artillerie, schwere Duschka-Maschienengewehre beschießen aus der Entfernung die Stellungen der Jihadisten und immer wieder erklingt ein unverkennbares Zischen, gefolgt von einer ohrenbetäubenden Explosion, wenn die Koalitionskräfte IS-Stellungen aus der Luft bombardieren.
Am Abend an der Front, bei Kommandant Agit, sind die Luftschläge und der Artilleriebeschuss inzwischen eingestellt worden. Es sind die letzten Minuten vor dem Angriff. Die konzentrierte Stille wird nur von Gewehrsalven zerrissen. Über Funk werden Koordinaten, Feindsichtungen und Befehle durchgegeben. Dann wieder eine Maschinengewehrsalve gefolgt von einem Funkspruch: „Wir haben drei von ihnen erwischt, die sind einfach auf der Straße
entlanggelaufen und dachten keiner sieht sie.“ Die Anspannung in Agits Gesicht weicht kurz für ein lächeln, er gratuliert über Funk und wendet sich wieder dem Plan zu. Um seine Position werden schwere Maschinengewehre aufgestellt, auf den Dächern liegen Scharfschützen und beobachten die feindlichen Stellungen. Wieder wird die Stille durchbrochen, diesmal von einem einzelnen Schuss. Über Funk meldet sich einer der Scharfschützen:“Ich habe noch einen erwischt, ich glaube es war ein Emir.“ Die Erfolgsmeldungen steigern die ohnehin hohe Moral der Kämpfer um Agit herum, die inzwischen alle den Plan kennen und bereit zum Angriff sind.
Doch zu dem sollte es nicht mehr kommen. Wieder kommt ein Funkspruch, diesmal von den verbliebenen IS-Kämpfern. Sie wollen über ihre Kapitulation verhandeln. Die Anspannung aus Agits
Gesicht weicht einem breiten Lächeln. Die Schlacht um Tabqa ist gewonnen, die Jihadisten geben auf und wollen verhandeln.
Die Verhandlungen beginnen am nächsten Morgen, die Rahmenbedingungen sind relativ schnell ausgehandelt. Es wird keine Kapitulation geben, die Jihadisten dürfen sich geordnet zurückziehen. Bis 12 Uhr Mittags haben die IS-Kämpfer Zeit, mit ihren Familien die Stadt zu verlassen.
Diese verzögern ihren Abzug jedoch immer weiter hinaus, stellen absurde Forderungen: “Wir verlassen die Stadt in euren Fahrzeugen und in jedem Fahrzeug ist einer eurer Kämpfer um für unsere
Sicherheit zu garantieren“ und beschweren sich über den durch Luftunterstützung und Artillerie unfairen Kampf. Die Nachverhandlungen ziehen sich letztendlich bis in die frühen Abendstunden. Keiner der neuen Forderungen des IS wird nachgegeben, dennoch steigert diese Verzögerung den bitteren Beigeschmack dieses Sieges unter den SDF und YPG/J-Kämpfern.
Es sind nicht wenige, die den IS lieber militärisch geschlagen hätten, als ihn abziehen zu lassen. Einer der jungen SDF-Kämpfer, Mustafa, meint aufgebracht: “Jetzt ziehen sie in die nächste Stadt und wir müssen sie dort wieder bekämpfen.“ Außerdem befürchten viele, dass der IS die Verzögerung dazu genutzt hat, alles Brauchbare in ihren Stellungen zu vernichten und soviele Minen wie möglich zu hinterlassen.
Um 19:00 verlässt der IS-Konvoi letztendlich Tabqa. Ein Auto- und Motorradkorso aus vermummten und bewaffneten Jihadisten mit ihren Frauen und Kindern, der sich langsam an den Anwohnern, die sich an die Strecke getraut haben und die Abziehenden lautstark beschimpfen, vorbeischiebt. Kaum haben die letzten Wagen des IS die Stadt verlassen, knallen wieder Schüsse durch die Nacht. Dieses mal jedoch sind es Freudenschüssen. Überall in der Stadt sind
Menschen auf den Straßen, jubeln und feiern das Ende der Kämpfe in Tabqa. Die Befürchtungen, der IS habe die Verzögerung genutzt, um auch nach ihrem Abzug möglichst viel Schaden anzurichten, sollte sich jedoch bestätigen. Am 10. Mai erklärt der SDF-Kommandant Rojda Felhat Tabqa offiziell für befreit, obwohl in der Nacht noch mindestens vier kurdische Kämpfer IS-Scharfschützen zum Opfer gefallen und zahlreiche weitere verletzt worden sind. Das Artilleriefeuer erklingt also auch nach der Befreiung der Stadt weiter und auch die Räumung der Minen wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Trotzdem verkündet die Militärführung von YPG/J und SDF, dass die vierte Phase der Operation Zorn des Euphrat, also der Angriff auf und die Einnahme von Rakka, der selbstdeklarierten Hauptstadt des IS, nach mehrwöchiger Pause jetzt weitergeführt wird.
#Karl Plumba
#Fotos Willi Effenberger
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heval xy 16. Mai 2017 - 10:14
Liebe Freunde,
vielen Dank für eure sehr mutigen und informativen Berichte aus den Bergen und von der Front (und über die Wichtigkeit des Esels). Eine Kritik hätte ich jedoch: ihr berichtet sehr viel über den Krieg, was sicher wichtig ist, aber kaum über die sozialen Veränderungen, die Selbstorganisierung der Bevölkerung, ökonomische Alternativen, Probleme etc. pp. Es wäre großartig, darüber mehr zu hören, mit allen Widersprüchen, die dazugehören. Gerade an solchen Berichten zu Bakur und Rojava mangelt es überall sehr, finde ich. Besten& solidarischen Gruß, passt auf euch auf& serkeftin!
lowerclassmag 16. Mai 2017 - 12:17
Hey,
Zuersteinmal Danke für das Lob und auch Danke für deine Kritik. Wir haben uns große Mühe gegeben, viel über das Leben der Zivilgesellschaft zu schreiben (Zum Beispiel die Artikel aus Sengal oder über die Asayis etc.). Wir sind allerdings nur ein kleines Team und zur Zeit eben an der Front. Wir geben uns aber Mühe, dazu in Zukunft wieder was zu schreiben.
Viele Grüße
Karl
heval xy 16. Mai 2017 - 15:11
Rojbash Karl& danke für die Antwort,
klar, ist immer auch eine Ressourcenfrage. Aber viele berichten eben schon über den Krieg und die Gerilla, wenig über die, sagen wir, gesellschaftlich revolutionären Aspekte. Ja, eure Artikel dazu („Mein Freund, der Polizist“ 😉 waren sehr gut, deswegen eben gerne mehr davon! Und so oder so nochmal danke für eure sehr gute Arbeit und euren Einsatz!