Ein Lehrstück über Imperialismus: Die USA und die türkischen Luftangriffe auf Stellungen der kurdischen YPG
Die jüngsten Luftangriffe auf die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien sind unter anderem eines: ein Lehrstück zur Strategie des US-Imperialismus im Mittleren Osten. Die Türkei bombardierte in der Nacht zum Dienstag eine Basis der kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) im nordsyrischen Karacok. Erdogans Kampfjets töteten dabei zwei dutzend Kämpfer und Presse-Mitarbeiter jener Gruppe, die Washington bei anderen Gelegenheiten ihren liebsten „Partner“ in der Region nennt.
Offenkundig ist, dass Washington (wie auch Russland) vor dem Airstrike vom türkischen Diktatur informiert wurden. Erdogan selbst hat das beteuert, US-Journalisten haben davon berichtet, und jeder, der auch nur mittelmäßige Kenntnisse von der Situation vor Ort hat, weiß, dass solche Angriffe schon deshalb koordiniert werden, weil es sonst zu ungewolltem Beschuss kommen könnte.
Kaum sechs Stunden nach dem Angriff fanden sich dann US-Soldaten bei der Trauerkundgebung für die gefallenen YPG-Kämpfer ein. Aus Washington hieß es: „Wir sind uns der Bedrohung, die die PKK für die Türkei darstellt, bewusst, aber erneut wollen wir betonen: Die Türkei kann diesen Kampf [gegen die PKK] nicht auf Kosten unseres gemeinsamen Kampfes gegen die Terroristen, die uns alle bedrohen, führen.“ Diese Stellungnahme ist ehrlich. Denn übersetzt in weniger diplomatische Sprache heißt das: Wir benutzen die Kurden, solange wir sie brauchen, danach darf der NATO-Partner aus Ankara sie gerne alle umbringen.
Die Realität der Koalitionen in Syrien sieht so aus: die militärisch mächtigen regionalen wie globalen Staaten – neben den USA und Russland vor allem die Türkei, der Iran, die Golfstaaten – suchen Proxy-Milizen. Die kleineren Player haben zwei Möglichkeiten. Sie können sich einen Patron, einen Schutzherren suchen.
Für die, die diesen Weg wählen, gibt es relativen Schutz. Und völlige Abhängigkeit. Assad hat seinen Schutzherren in Moskau und Teheran, die FSA-Dschihadisten ihre in Ankara, Washington und Riad. Sicher gibt es bisweilen politische Differenzen zwischen den Vasallen und ihren jeweiligen Schutzherren, aber letztlich ist in diesen Verhältnissen klar, wer das Sagen hat.
Der andere mögliche Weg sieht so aus: Man versucht, durch wechselnde Bündnisse die Kräfte gegeneinander auszuspielen, um sich einen Raum für das eigene politische Projekt zu schaffen. Die Kurden haben diese, klügere Variante gewählt: Sie kooperieren in Afrin mit Russland, bei Minbic mit dem Regime, vor Raqqa mit den USA. Die Gefahr dabei ist, dass alle diese Koalitionen natürlich keine „Partnerschaften“ oder gar freundschaftliche Beziehungen sind. Schon gar nicht die mit den USA. Deren Sinn ist es, sich die Türkei mit ihrem Willen zur Vernichtung jeder kurdischen Autonomie vom Leib zu halten. Der Handel sieht stark vereinfacht so aus: Die YPG geht nach Raqqa, dafür halten die USA Erdogan zurück.
Nun ist aber die Zerschlagung des Islamischen Staates keineswegs das einzige Ziel des US-Imperialismus. Gleichzeitig will er alle anderen Gruppen so schwach halten wie möglich. Ein kurdischer Politiker aus der Leitung der demokratischen Selbstverwaltung (Tev-Dem) formulierte das im Gespräch so: „Wir wissen natürlich, wie sie handeln. Schon als sie die Türken bei Jarablus einmarschieren ließen, war es dasselbe wie jetzt. Wann immer unser demokratisches Projekt zu stark, zu unabhängig ist, wollen die USA uns die Botschaft senden: Nieder mit euch auf die Knie. Aber wir haben auch Druckmittel und wir werden uns nicht beugen.“
Tatsächlich hat dieses kleine Gebiet Rojava einige Trümpfe in den Verhandlungen mit der Trump-Administration in der Hand. Nach dem türkischen Angriff auf Karacok etwa meldeten sich namhafte Vertreter der YPG und verbündeter Kräfte zu Wort, die betonten, dass man sich die Raqqa-Operation auch nochmal überlegen könne, wenn die USA ihren Kettenhund aus Ankara nicht an kürzerer Leine hielten.
In Europa herrscht, zumindest bei einigen „Antiimperialisten“, der Glaube vor, die Kurden wären irgendwie „zu dumm“, um die Gefahren des Bündnisses mit den USA zu sehen. Nach Jarablus oder Karacok sagt man dann vom heimischen Schreibtisch aus: „Wir haben es euch ja gesagt, die USA sind niemandes Freund.“ Danke für den Hinweis. Als ob eine Bewegung, die seit 40 Jahren im Mittleren Osten aktiv ist, die im Libanon gekämpft hat, in Syrien im Exil war und tausende Kader im Kampf gegen die CIA-gesponsorten Putschregime der Türkei verloren hat, das nicht wüsste.
Was umgekehrt einige „Antiimperialisten“ in Deutschland nicht verstehen, ist: Der Krieg in Syrien ist wie Schach. Nicht wie eine Feldschlacht, in der man sich bunt anmalt und wie in Mel Gibsons Braveheart erst dem Gegner den blanken Arsch zeigt, um ihn dann Mann gegen Mann mit dem Schwert zu richten. Und beim Schach, anders als bei der Arschzeige-Feldschlacht mit Gesichtsbemalung, muss man viele Millionen mögliche Interaktionen zwischen den 32 Figuren auf dem Feld bedenken.
Ein kleines Beispiel: Warum wurde der Sengal ausgerechnet jetzt von der Türkei bombardiert? Weil Mossul kurz vor dem Fall steht. Wenn Mossul fällt, ist das wirtschaftliche Embargo nach Rojava hinfällig, das die KDP im Dienste Erdogans aufrecht erhält. Warum lassen die Amis das Bombardement zu? Weil neben der Türkei noch ein zweiter Partner der USA, die KDP, ein Interesse daran hat, sich den Sengal zu krallen. Und weil die USA zwar einerseits die YPG als Bodentruppen instrumentalisieren wollen, zugleich aber versuchen, die PKK zu schlagen. Was macht man also? Genau, man muss den Ausgleich mit der irakischen Zentralregierung suchen, die den Sengal auch gern hätte, aber deren Zugriff auf den Sengal schwächer sein wird, weil sie ohnehin schwächer ist. Bis zu einem gewissen Grad beeinflusst auch das wiederum die USA, weil sich jetzt Bagdad scharf gegen die Bombardements wendet. Und so weiter und so fort. Und in dieser Gleichung fehlen jetzt noch die iranischen Proxies der Hashd al-Shaabi, Teheran selbst, lokale kurdische Parteien wie die YNK, verschiedene Konfliktlinien innerhalb der lokalen Bevölkerung, Europa usw.
Das nur oberflächlich angerissene Beispiel zu einem isolierten kleinen Gebiet soll zeigen: Die Kräftegleichgewichte in dieser Region sind durch Jahrzehnte imperialistischer Einflussnahme sehr verworren. Bei jedem Move muss jede Kraft nicht nur bedenken, welche unmittelbaren Auswirkungen er hat, ob er erfolgreich sein kann oder nicht, sondern eben auch, wie dieses Netzwerk an Feindschafts- und Kooperationsbeziehungen reagieren wird.
Antideutsche Spaßmacher wie Thomas Osten-Sacke teilen bei der moralisierenden Verflachung dieser politisch-strategischen Fragestellungen dieselbe Voraussetzung wie ihre „antiimperialistischen“ Pendants: Wenn die YPG mit den USA taktische Bündnisse eingeht, schreien die einen, wenn sie mit Russland oder Assad taktische Bündnisse eingeht, schreien die anderen. Gemeinsam ist beiden Fraktionen von Ratgebern aber eines: Hätten sich die Kurden auch nur ein Monat an die Tipps dieser Typen gehalten, wären sie jetzt schon als politische Bewegung ausradiert worden.
- Ein Kommentar von Fatty McDirty
- Foto: US-Soldaten in Karacok, Willi Effenberger
#Rojava Tagebücher
Teil 1: http://lowerclassmag.com/2017/04/rojavatagebuchi/
Teil 2: http://lowerclassmag.com/2017/04/rojava-tagebuch-ii-morgens-maurer-mittags-studentin-abends-journalist/
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TomGard 28. April 2017 - 19:54
Die International Crisis Group hat meiner Beobachtung nach in den letzten Monaten die Blaupausen für die US-Militärpolitik geliefert, In ihrem jüngsten Briefing zu Rojava
https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/eastern-mediterranean/syria/b053-fighting-isis-road-and-beyond-raqqa
erklärt sie die YPG’s kurzerhand für Aggressoren gegen die Türkei, welche die US-Intervention „gegen ISIL“ kompromittierten.
Für den Fall, daß sich Weißes Haus und Pentagon nicht dazu durchringen könnten, die PKK der Türkei zu überlassen, empfiehlt die ICG den Aufbau eines separaten US-Militärgouvernements Raqqa, Auflösung der SDF zugunsten eines rein arabischen Verbandes, der gegen die YPG’s zu stellen sei, Verbot der Insignien Rojavas und „Entmutigung“ aller Aspirationen der Konföderalisten. Die „Entmutigung“ sehen wir derzeit an der Arbeit, in Gestalt unaufhörlicher türkischer Artillerieangriffe.
Sofern die PYD Schach spielt, deutet derzeit alles auf ein Selbstmatt. Zumindest könnten die YPG’s es unterlassen, den USA die Basis frei zu räumen, von der aus sie mit einer veritablen Besatzungsmacht und den entspechenden Optionen zur wirksamen Proxie-Führung die Föderation Nordsyrien in die Zange zu nehmen gedenken.
TomGard 29. April 2017 - 6:48
Ergänzung
Es könnte für einige Leser von Nutzen sein, wenn die Kontroverse, auf die sich „Fatty“ in seinem Beitrag bezieht, hier aufgenommen würde. Dazu könnte sich aktuell ein op ed Artikel von Ilham Ahmed (Präsidium des Rates der Föderation Nordsyrien) in der WaPo eignen.
https://www.washingtonpost.com/news/democracy-post/wp/2017/04/28/were-americas-best-friend-in-syria-turkey-bombed-us-anyway/?utm_term=.98dab18624ad
Ein Ansatzpunkt:
„Let me be as clear as can be: We have never used northern Syria to launch any attack against Turkey.“
Wer ist da eigentlich „Wir“? Wer oder was ist „Northern Syria“? Ist die Aussage eine Lüge? Falls die Antwort „Nein“ lautet: Warum *soll* es keine Lüge sein?
TomGard 5. Mai 2017 - 13:15
Amerikanisch-türkische Geiselnahme Rojavas ist halbamtlich. Mehr dazu auf meinem Blog.