[Rojava-Tagebuch IV] Stöcke, Steine und Kampfjets

16. April 2017

Eröffnen Recep Tayyip Erdogan und Mesud Barzani den nächsten Kriegsschauplatz im Nordirak? Ein Besuch im Jesidengebiet Schengal.

Roj baş hevalen, zu zu zu“, ruft eine Stimme in den verdunkelten Presseraum. Wir sind verdutzt. Klar, wir stehen hier jeden Tag früh auf, aber jetzt ist es halb eins nachts. „Alles zusammenpacken, Freunde, wir müssen gehen“, heißt es. „Türkische Flugzeuge kommen. Bombenalarm.“ Wir laufen hinaus ins Dunkle, dutzende Guerilla-Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sind auf den nahegelegenen Hügeln schemenartig zu erkennen, auf dem Rücken tragen sie nicht nur wie üblich ihre Kalaschnikow, sondern schwerere Waffen: Maschinengewehre, RPGs, Sniper-Rifles.

Einer von ihnen ruft uns zu sich, wir folgen ihm an einen sicheren Ort, an dem wir als Zivilisten die Nacht verbringen werden. Um den Ort zu erreichen, steigen wir ohne Taschenlampe in eine steile Felswand, Geröll rutscht unter unseren Füßen den Hang hinunter, wohin, das sieht man schon nicht mehr. Unter einer Klippe endet die Wanderung, hier schlagen wir unser Nachtlager auf. Jeder bekommt eine Decke, wir kauern eng aneinander und rücken noch mehr zusammen als das Zischen beginnt. Durch den bewölkten, aber vom Mond doch noch grau gefärbten Himmel zieht es seine Runden, wird lauter, dann leiser, dann wieder lauter. Um mich zu beruhigen, erinnere ich mich an die Worte eines Guerilla-Kämpfers, der mir vor zwei Wochen schon erklärt hatte: „Wenn du die Flieger hörst, kreisen sie oder fliegen vorbei. Wenn sie direkt abwerfen, hörst du nichts. Der Einschlag der Bomben findet statt, bevor dich das Geräusch der Flieger erreicht.“

Für uns als Journalisten aus Deutschland ist diese Erfahrung neu. Für die Kämpferinnen und Kämpfer hier, gehören sie zum Alltag. Die türkische Luftwaffe fliegt fast täglich Angriffe gegen jene Gebiete, in denen die kurdische Befreiungsbewegung stark verankert ist, und zwar länderübergreifend: Im Nordsyrischen Rojava, im Südosten der Türkei, im Kandil-Gebirge an der Nordgrenze des Irak. Bei uns fallen in dieser Nacht, es ist die des 13. April, keine Bomben. Die Flieger kreisen, aber dem Show of Force folgen keine Explosionen.

74 Genozide

Dennoch ist der Vorfall außergewöhnlich. Wir sind nicht in Haftanin oder Gare, nicht in Minbic oder Zagros, wo es wöchentlich viele Kilotonnen an Sprengstoff regnet. Wir sind im nordirakischen Schengal, einem Gebiet, das vor noch nicht allzu langer Zeit im Mittelpunkt der Mitgefühlsökonomie nicht nur der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft stand.

Denn hier lebt eine uralte Religionsgemeinschaft, die Jesiden. Die Geschichte dieser Bevölkerungsgruppe ist geprägt von Verfolgung und Diskrimierung, ganze 74 Mal wurde sie, ihrer eigenen Zählung zufolge, Opfer von Genoziden durch Feinde, die sie zu Ungläubigen erklärten, oder sie schlicht und einfach aus ihrer Heimat vertreiben wollten. Zuletzt rückte im August 2014 die Terrormiliz Islamischer Staat, im Mittleren Osten bekannter unter der Bezeichnung Daesh, in die Siedlungsgebiete der Jesiden ein. Die Dschihadisten mordeten, vergewaltigten, verkauften Frauen in die Sklaverei und raubten alles, was sie finden konnten.

Der Angriff hatte auch materielle Gründe, erklärt uns ein jesidischer Geistlicher. „Sie haben weggebracht, was sie finden konnten und es verkauft. Als die Gebiete wieder befreit waren, war alles leer. Millionen haben sie so gemacht.“ Neben dem Raub und der strategischen Wichtigkeit des Sengal spielte religiös motivierter Hass eine Rolle. Die überwiegende Mehrheit der sunnitischen Muslime im Irak und der Kurdischen Autonomieregion (KRG) sehen Jesiden als Gottlose, als Ketzer und Teufelsanbeter an. Sie weigern sich mit ihnen zu essen, sie wollen ihre Produkte auf Märkten nicht kaufen. „Bei den Peschmerga war es so, wenn du da einen muslimischen Kurden und einen Jesiden in einer Stellung hattest, und der Jeside aus einem Glas getrunken hat, hat der muslimische Kurde das Glas weggeworfen“, sagt Zerdest Derwis vom Jugendrat des Sengal, dem Meclisa Ciwanen Sengale.

Erdogan – Barzani – Daesh

Heute stehen einander im Sengal zwei Bündnisse unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite die jesidische Selbstverwaltung, die nach der Befreiung des Gebietes vom Islamischen Staat entstanden war und ein breites Netz eigener ziviler wie militärischer Institutionen umfasst: Volks- und Frauenräte, Schulen und Akademien, militärische und polizei-ähnliche Einheiten. Diese Selbstverwaltung wird unterstützt von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie von den Volksverteidigungskräften YPG aus Rojava, die beide eine zentrale Rolle bei der Verteidigung und Befreiung des Jesidengebietes zur Zeit des Daesh-Genozids gespielt hatten.

Auf der anderen Seite steht ein Block, den die lokale Bevölkerung vor allem aus drei Kräften zusammengesetzt sieht: Dem Islamischen Staat, der türkischen Regierung und der Demokratischen Partei Kurdistas (KDP). Diese drei wollen die Vertreibung der Jesiden aus dem Schengal und sie sind bereit, sie mit Gewalt durchzusetzen.

Das klingt weit hergeholt. Denn was sollte Mesud Barzanis KDP, die im Westen als Stabilitätsanker im Nordirak gefeiert und gegen den Islamischen Staat mit modernsten Waffensystemen ausgestattet wird, schon mit dem IS gemeinsam haben? Doch sieht man sich die nicht selten sehr komplizierten Verhältnisse im Mittleren Osten genauer an, ist die Auffassung einer Interessensgemeinschaft dieser drei Fraktionen, was die Jesiden des Schengal anbelangt, so absurd nicht.

Die Verbindungen zwischen Erdogan und Daesh haben Journalisten wie Can Dündar hinreichend belegt. Die Abhängigkeit Barzanis von seinem Partner Erdogan bedarf auch keines Belegs. Die KDP und Daesh haben ein gemeinsames Interesse: Sie wollen die Jesiden nicht im Sengal haben. Zumindest nicht als eigenständige Kraft, die ihre eigene Identität lebt. „So unterschiedlich sind alle drei nicht“, erklärt Heval Dindar, ein junger Kämpfer der YBS, den wir an der Front vor Khanasor treffen. „Alle drei arbeiten mit Angst. Sie bedrohen die Familien von Leuten, die sich selbst organisieren, wenn sie ihrer nicht habhaft werden können. Sie alle wollen Angst schaffen, um uns hier weg zu kriegen.“ Zudem seien über 60 der Genozide historisch der „osmanischen Linie“ zuzuschreiben, in die man auch AKP, KDP und IS einreihen könne.

Im Würgegriff der KDP: Peschmerga-Stellung vor den Toren Khanasors

Der Sengal ist ein strategisch wichtiges Gebiet. Es liegt auf einer Achse zwischen Mossul und Raqqa. Die AKP hat öffentlich verlautbart, dass sie die im Nationalpakt von 1924 festgelegten Gebiete, also neben griechischem und bulgarischem Territorum eben auch das Gebiet von Mossul über Raqqa bis nördlich von Aleppo zurückhaben will. Daesh benutzte Ankara zeitweise, um widerspenstige Kräfte in diesem Gebiet zu dezimieren. Die KDP agiert ebenfalls offen auf Geheiß der Türkei, Mesud Barzani ist ein gern gesehener Gast bei Erdogan und erlaubt diesem nicht nur die Stationierung türkischer Truppen in Südkurdistan, sondern macht seine Peschmerga bisweilen auch selbst zum Proxy des Sultans.

Kauf dir ’ne Milan

So zum Beispiel am 3.März und am 14. März. Am 3. März griffen Truppen Barzanis, der wie ein klassischer Warlord agiert, obwohl er formal gesehen Präsident der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak ist (eigentlich ist er es auch formal gesehen nicht, er verweigert seit zwei Jahren ausstehende Wahlen), Khanasor an. Sie töteten 5 jesidische Kämpfer und zwei PKK-Guerillas. Am 14. März schossen sie in eine Demonstration und töteten eine im Frauenrat aktive Jesidin.

In Khanasor und auf dem Berg Schengal regt das die Menschen ungemein auf, vor allem auch, weil die Waffen, die er einsetzte, aus dem Westen kamen und unter dem Vorwand an Barzani verkauft wurden, dass dieser damit die Jesiden vor dem IS schützen wurde. Das tat er aber nie. Dafür landeten die Waffen recht früh über den Schwarzmarkt bei Daesh selber. Und tun das heute noch. Als wir mit einem älteren Jesiden, Namen verbieten sich bei folgendem Dialog, zusammen sitzen, sagt er uns: „Was willst du kaufen? Ich rufe jetzt einen Freund an, wenn du genug Umschläge dabei hast, kannst du jede deutsche Waffe haben. Willst du eine Milan-Rakete?“

Dass Daesh westliche Waffen schon vor Jahren einsetzte, ist sogar der Bild einen Bericht wert gewesen, dass man deutsche Heckler&Koch-Gewehre im Nordirak auf Märkten kaufen kann, haben Journalisten ebenso belegt.

Wegen der Gleichheit der Mittel – Terror gegen die Jesiden -, der Ähnlichkeit der Ziele – ihre Eliminierung als eigenständiger Volkgruppe im Sengal – und dem Zirkulieren der Waffen zwischen den drei Fraktionen – AKP liefert an Daesh und KDP, KDP verkauft am Schwarzmarkt an den IS usw. – sieht die Bevölkerung im Sengal die drei Gruppen als eine Einheit.

Allerdings, so beschreibt Heval Dindar, sei das direkte Bündnis der drei am Widerstand der Kurden in Rojava zerbrochen. Zunächst wechselte Erdogan seine Partner und marschierte direkt ein, weil Daesh gegen die kurdische Bewegung nicht effektiv war. „Daesh hat dann türkische Soldaten angezündet. Und Soldaten der KDP getötet. Es war die Rache für den Verrat. Bagdadi selbst hat gesagt: ‚Erdogan hat uns verraten‘.“

Im Schutz der Berge

Über schwere Waffen verfügt die YBS nicht. Diesen Humvee hat sie dem Islamischen Staat abgenommen, aber er ist nicht mehr fahrtüchtigt, weil durch die Übernahme ramponiert.

Dass die bisherigen Versuche der Türkei Rojava zu destabilisieren gescheitert sind, bedeutet auch, dass er sich zwischenzeitlich einer anderen Front widmen könnte. In Reden markierte er bereits den Sengal als Ziel, weil dieser voll von „Terroristen“ sei. Die Präsenz von Drohnen und Kampfjets in der Region weist in diese Richtung, der Aufmarsch von KDP-Verbänden vor Khanasor ebenso. Bevölkerung und militärische Kräfte erwarten einen Angriff nach dem Diktatur-Referendum in der Türkei.

Im Schengal selbst ist der Wille, sich dieser Besatzung zu erwehren, groß. Viele junge Jesid*innen treten den YBS-/YJS-Milizen bei, sagt uns ein Kämpfer im Rekrutierungsbüro der Bewegung. „Selbst, wenn wir nur Stöcke und Steine hätten, würden wir sie zurückschlagen“, sagt ein Kommandant an der Front.

Stöcke und Steine sind es nicht, aber die technische Überlegenheit des Gegners ist doch groß. Die YBS verfügt über keine eigenen Panzerwagen, wenn sie welche von Daesh erbeuten, bauen sie sie um, falls ihr Zustand das noch zulässt. Ansonsten stehen Kampfjets, Panzer und Milans gegen Kalaschnikows, Maschinengewehre und Doschkas. Dennoch aber könnte der Angriff von Türkei und KDP zu einem Fiasko werden. Denn sollten sich die Verteidiger des Jesidengebietes auch zurückziehen müssen, halten sie immer noch das Schengal-Gebirge. Und dass die Guerilla aus den Bergen nicht zu vertreiben ist, könnte die Türkei in einer 40 Jahre dauernden Feldstudie im irakisch-türkischen Grenzgebiet eigentlich schon bemerkt haben.

#Rojava Tagebuch

Teil 1: http://lowerclassmag.com/2017/04/rojavatagebuchi/

Teil 2: http://lowerclassmag.com/2017/04/rojava-tagebuch-ii-morgens-maurer-mittags-studentin-abends-journalist/

Teil 3: http://lowerclassmag.com/2017/04/rojava-tagebuch-iii-genozidversuch-mit-deutschen-waffen/

# Fotos: Willi Effenberger

# Text:Peter Schaber

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Ein Kommentar über “[Rojava-Tagebuch IV] Stöcke, Steine und Kampfjets”

    Sait Gökduman 18. April 2017 - 10:17

    Endlich mal was objektives über Kurden und Kurdistan,
    Ich weiß es nicht soll ich mich bei der Reporter bedanken oder auch nicht weil ich lebe Zeit 37 Jahre in der BRD habe nur negative Nachrichten über uns Kurden gehört die Terror Worten sind als Beschimpfungen immer wieder.