„Wir kämpfen, um zu leben, nicht um zu sterben“

9. März 2017

Zehn Tage bei der Guerilla in den Bergen Kurdistans (Teil II)

Heval Azads Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: Çiya, Berg. Wir haben etwas Freizeit, sitzen bei Tee und Zigaretten im Tarnzelt und einer von uns hatte den Freund aufgefordert, uns doch einfach irgendwelche Wörter auf Kurdisch zu sagen, damit wir etwas lernen können. Auf Berg folgt stêrk, Stern, xweza, Natur, und dann beginnen wir über die Tiere zu reden, die es in der Gegend gibt. Teyrebazen, Falken, sehen wir oft, ein Rudel von çeqel, Schakalen, kommt nachts zum Jagen in unsere Gegend, auch Wölfe, gur, gibt es. In manchen höher gelegenen Gegenden trifft man auf hirç, Bären. In manchen Flüssen, in denen wir baden, gibt es Fische. Wildschweine, Steinböcke, Adler – Kurdistans Umwelt, wo sie noch nicht von AKP und KDP oder ausländischen Konzernen verheert wurde, ist intakt.

Dass die ersten Worte, die einem Gerilla einfallen, von dem handeln, was ihn täglich umgibt, verwundert nicht. Dass Menschen, die so leben, eine ökologische Komponente in ihrem politischen Paradigma verankern, ebenso wenig. Die Kämpfer betrachten dieses Land als ihr Land, eines, dass es zu bewahren gilt. Den Kapitalismus lehnen sie auch deshalb ab, weil er diese ihre Natur, ihre Umgebung irreversibel zerstört. Der Kampf hat die Guerilla zu einem Teil der sie umgebenden Natur werden lassen. Sie bewegen sich auf den Pfaden der Tiere, trinken aus denselben Quellen, kennen jede Pflanze: „Diese Nuss hier kann man essen“, erklärt uns Heval Cekdar*. „Diese hier zerreiben wir und nutzen sie als Balsam in den Schuhen, wenn wir lange Märsche zu bewältigen haben.“ Das Tempo, mit dem die Kämpfer Hügel und Berge erklimmen, ist für uns gewöhnungsbedürftig. Wenn man aber oben ankommt, ist die Belohnung jedes Mal den Aufstieg wert. Berge, grüne Wiesen, Bäche, Flüsse, tausende Gesteinsformationen: Manche steigen schroff und herrisch bis über die Wolken auf, andere wölben sich weich in den Boden, sehen aus wie die Finger eines Riesen, der sich am Boden festkrallt. Es gibt weiße Felsen und graue, schwarze und rote. Manche sind voller Höhlen, andere sind glatt.

Hin und wieder sieht man aus der Ferne kleine Dörfer oder kommt an Obstbäumen der lokalen Bauern vorbei: Granatäpfel, Trauben, Äpfel, Birnen. Gerade tragen die Bäume noch keine Früchte, aber im Sommer hängen hier festliche Mahlzeiten für die Guerilla. Jagen ist den Kämpfern untersagt – außer, sie können nichts anderes zu Essen finden. „Natürlich, wenn wir vom Feind in einem Gebiet eingekreist sind, keine Logistik zur Verfügung steht, dann essen wir auch erlegte Wildtiere“, sagt Heval Azad. Generell gilt für das Leben hier, so sagt er: „Wenn du die Natur nicht liebst, blockiert sie dich, wird zu deinem Feind. Aber wenn du dich mit ihr anfreundest, ist sie dir eine Hilfe.“

Die Sozialismus-Vorstellungen der jungen Kämpfer orientieren sich ebenfalls an dem, was sie aus dem Alltag und der Geschichte ihrer Umgebung kennen. Als wir fragen, wie sie sich denn die Produktion vorstellen, wenn mal der Demokratische Konföderalismus verwirklicht ist, greift Heval Azad – wohl auch wegen meines schlechten Türkisch – zu einem simplen Beispiel: „Früher in den Dörfern war es so: Sagen wir du verfügst über ein Feld, der Freund da drüben über eines, ich über eines und der Freund da in der Ecke auch. Zur Aussaat und zur Ernte helfen wir uns jeweils gegenseitig beim Bestellen des Feldes. Der Ertrag wird in unserem Dorf unter allen aufgeteilt.“ Wir haken nach: „Aber was ist denn mit schwierigerer, spezialisierter Produktion? In Rojava habt ihr zum Beispiel Erdöl. Wir hier können ja kein Öl verarbeiten?“ Heval Azad weiß das natürlich: „Es ist ja nicht nur das Erdöl. Kurdistan ist ein sehr reiches Land, dessen Ressourcen von der Türkei, den USA und anderen Ländern gestohlen werden. Nehmen wir Rojava: Durch den Krieg sind viele spezialisierte Arbeiter geflohen, Daesh hat notwendige Maschinerie zerstört. Wir müssen uns nun als Gesellschaft, die Fähigkeiten wieder aneignen, um diese Ressourcen zu nutzen. Innerhalb des Demokratischen Konföderalismus müssen sie dann so genutzt werden, dass dadurch kein Unterschied zwischen Arm und Reich entsteht. Du sollst haben, was du zum Leben brauchst, der Freund dort drüben auch und ich auch.“

Rojava, unser Kind

Um das durchzusetzen, braucht es aber gerade im Mittleren Osten eine kluge Strategie. „Schau nach Syrien“, sagt Heval Azad. „Wie viele Länder dort kämpfen – die USA, Russland, der Iran, die Türkei, die Golfstaaten. Und so weiter. Wir können dort nicht kopflos agieren. Wir müssen genau sehen, wie wir unser eigenes Projekt durchsetzen können. Nehmen wir Minbic. Die Türkei ist bei Jarablus eingedrungen, hat einen Korridor geschaffen. Die USA haben ein Interesse, dass wir Raqqa befreien. Jetzt sagen wir: es ist doch offenkundig, wenn wir unsere Kräfte alle nach Raqqa verschieben, dann greift die Türkei Minbic an. Damit können wir Druck auf die USA machen, Minbic zu schützen. Gleichzeitig verhandeln wir mit dem Regime und den Russen. Der Militärrat von Minbic hat dem Regime einen Korridor zugesichert. Auch das syrische Regime und die Russen kennen die Türkei. Sie wissen, was ihre Ziele sind und wollen sie nicht in Syrien haben.“

Diese Strategie funktioniert weitgehend. Das Spiel mit den Kräften, die man gegeneinander richtet und die sich so gegenseitig aufheben, öffnet jenen Freiraum, der den Aufbau eines politischen Projektes eröffnet. „Rojava ist noch ein Kind. Es ist wenige Jahre alt. Es muss sich noch entwickeln, ökonomisch, politisch und auf der Ebene des Bewußtseins, das noch vertieft werden muss. Und doch ist es für uns ein strategisch sehr bedeutender Ort. Wir können dort in der Praxis zeigen, wie unser System funktioniert.“ Heval Azad hebt besonders hervor, dass dieses System in der Lage ist, den Rassismus in der Region zu überwinden. „Im Mittleren Osten gibt es hunderte Identitäten, die gegeneinander stehen. Araber gegen Kurden, Schiiten gegen Sunniten. Diese Trennungen nutzt der Kapitalismus. Wir wollen sie überwinden. Wir wollen die Revolution nicht nur für Kurden. Wir wollen sie für alle Menschen.“ Manbic sei ein Beispiel für die Überwindung dieser Trennungen: „Die arabischen Freunde sehen das System, das Apo entworfen hat. Und sie nehmen es an. Sie verwalten sich selbst.“

Der Krieg, der derzeit im gesamten Mittleren Osten tobt, ist für die Kämpfer zugleich eine Chance. „Die Imperialisten beginnen den Krieg, um ihre eigene Neuordnung der Region durchzusetzen. Wir nutzen diese Gelegenheit, um dagegen unsere durchzusetzen“, sagt Heval Azad. „Derzeit ist in allen vier Teilen Kurdistans Krieg. In Bakur, Basur und Rojava ist es ein heißer Krieg. In Rojhelat ist es ruhiger, aber auch hier nimmt der Widerstand zu.“ Dass nun auch der aus Deutschland und den USA hochgerüstete Erdogan-Kollaborateur Mesud Barzani mit seiner KDP begonnen hat, die Selbstverwaltung der Jesid*innen anzugreifen, um den Weg zwischen Schengal und Rojava zu durchtrennen, bewerten die Kämpfer nicht als allzu große Gefahr. „Die Peschmerga wollen nicht kämpfen und wir sitzen in allen Bergen um sie herum. Die Attacke wurde international verurteilt und die kurdische Bevölkerung in Basur beginnt zu sehen, was Barzani für ein Spiel spielt.“

In den kommenden Tagen hören wir noch viele Nachrichten aus Schengal. Wir sehen das Video, das zeigt, wie zwei HPG-Kämpfer versuchen, Panzerfahrzeuge der „Roj Peschmerga“, wie die angreifenden Banden heißen, ohne Beschuss zu stoppen und dabei ermordet werden.

Mafia, Sniper, Bre

Die Selbstverwaltung, die die Bewegung erkämpfen will, kann in einer Region, in der – wie die kurdische Bewegung einschätzt – der „dritte Weltkrieg“ vonstatten geht, nicht ohne Waffen bestehen. „Selbstverteidigung ist immens wichtig.“ Im Ganzen der Bewegung wie auf individueller Ebene. Als wir einmal Heval Azad fragen, ob wir ihm die Kalasch abnehmen sollen, weil er gerade viel zu tragen hat, lacht er: „Nein. Sie ist ein Teil von mir. Wie mein Arm. Ich spüre sie nicht einmal beim Tragen.“ Gerade in den Bergen braucht man das Gewehr, denn ansonsten ist man nicht nur gegen den Feind schutzlos. Wenn Wölfe hungrig sind, man auf Bären oder wilde Hunde trifft, muss man etwas zur Hand haben. „Die Tiere haben ihr Gebiss oder ihre Stacheln. Der Mensch hat so etwas zur Selbstverteidigung nicht.“

Die Freunde, insbesondere Heval Berxwedan, der noch sehr jung ist, erzählen uns begeistert von den verschiedenen Waffensystemen der HPG. Wir, die wir kaum etwas von solchen Dingen wissen, hören, welche Doschkas man mit Eseln transportieren kann und welche man auf die Trageflächen von Toyota-Geländewagen schraubt. Stolz sind die Freunde besonders auf die Abschüsse von Kampfjets und Hubschraubern, denn in denen fühlt sich der Feind besonders sicher. Wir lernen, Geräusche zu unterscheiden: Ein Reiseflugzeug brummt, ist aber langsamer als ein Kampfjet, der eher zischt. Ein entferntes Auto kann man an seiner Bewegungsrichtung erkennen, ein Hubschrauber an dem Flapp-Flapp der Rotoren. Am wichtigsten ist es, Drohnen zu erkennen. Sie sind am gefährlichsten, denn sie geben die Position durch, die die Kampfjets anfliegen. Das Gehör der Guerilla ist scharf. Mitten in einem lauten Gespräch, während des Singens oder Radio-Hörens erkennen sie die leisesten technischen Geräusche sofort.

Auch die Spiele der Guerilla sind eine Art Training. Wenn wir Freizeit haben, treffen wir uns je nach Wetterlage zu einer Runde Mafia, Sniper oder Bre. Mafia (oder Vampir) funktioniert so, dass zwei Genoss*innen als Mafia/Vampire fungieren, es einen Spielleiter gibt und die anderen – sagen wir ca. zehn Leute -, das „Volk“, die beiden Vampire finden muss. Die zwei Bösewichte wissen voneinander, alle anderen wissen zu Spielbeginn nichts. Man muss dann durch fragen, Erkennen der Strategie der beiden Undercover-Vampire, Deuten der Gestik und so weiter herausfinden, wer die Übeltäter sind. Wenn man jemanden verdächtigt, gibt es eine Abstimmung, ob die Person rausfliegt oder nicht. Ziel der Vampire ist es, dass sich das Volk durch falsche Verdächtigungen gegenseitig aus dem Spiel wirft. Das Spiel klingt langweilig, aber es ist großartig. Nach wenigen Minuten rauchen die Köpfe.

Sniper ist ähnlich. Man sitzt im Kreis, einer ist der Scharfschütze, die anderen müssen herausfinden wer. Man blickt im Kreis, immer in die Augen des anderen. Wenn einen der Sniper schnell anblinzelt, stirbt man. Wenn aber ein anderer diesen Vorgang beobachtet, ist der Sniper enttarnt und hat verloren. Das Spiel wirkt nach. Tage lang können wir uns nicht in die Augen schauen, ohne dass einer blinzelt und alle zu lachen beginnen.

Bre, „Schneiden“, ist das mit Abstand lustigste Spiel, aber man braucht gutes Wetter, ein freies Feld und ein größere Anzahl von Genoss*innen. Man baut aus Steinen eine Karakol, eine Militärstation. Die eine Gruppe spielt als Soldaten – will natürlich keiner –, die andere als Guerilla. Ziel der Guerilla ist, den Steinhaufen zu zertreten. Wenn ein*e Guerilla von einem Soldaten berührt wird, ist sie schawuti, verbrannt. Aber die Guerilla kann auch Soldaten aus dem Spiel werfen. Einer lockt den/die Soldat*in von der Karakol weg, eine andere „schneidet“ ihn ab, indem sie zwischen Karakol und Feind durchläuft. Das Spiel ist sehr taktisch und ein wunderbarer Sport.

Der Kampf gegen uns selbst

Allen Waffen, aller Gewöhnung an den Krieg zum Trotz sind die Freunde keine „Soldaten“ in dem Sinne, wie wir das Wort verwenden. „Bei uns gehören Ideologie, Lebensweise und der militärische Kampf zusammen, sie sind ein und dasselbe. Wir laufen ja nicht mit der Kalaschnikow in einer Hand, mit einem Buch in der anderen Hand herum, sondern unsere Lebensweise ist die Einheit von revolutionärem Gedanken und realer Praxis“, erklärt Heval Azad. „Das kritisieren wir auch oft an der Linken in anderen Ländern. Sie reden in schönsten Worten von der Revolution auf ihren Treffen. Dann gehen sie ins Café oder in die Bar oder nachhause.“

Der Zusammenhang von Theorie und Praxis wird in einem Kampf hergestellt, der noch gar nichts mit dem äußeren Feind zu tun hat. „Der wichtigste Kampf ist der in uns. Um unser eigenes Leben. Nur wenn wir diesen Kampf führen, können wir einen Kampf gegen den äußeren Feind führen“, sagt Heval Azad. Er trifft einen wunden Punkt, denn genau aus diesem Grund sind wir hier. Wir wollen von der Disziplin der Freunde lernen, eben diesen Kampf zu führen. Wir erklären dem Freund unsere eigenen Schwächen. Er zeichnet eine Linie auf der Decke, die unter unserem Fühstück liegt. „Der Weg der Revolution ist gerade. Wenn ihr euch hier, links oder rechts von diesem Weg aufhaltet, werden die jüngeren, die euch als Vorbild nehmen, eben diesen Weg gehen. Das ist schlecht.“

#Peter Schaber; Titelbild: Willi Effenberger

*Wie im ersten Teil sind die Kampfnamen der Freunde verändert. Der genaue Ort unseres Aufenthalt wird nicht genannt.  Teil I kann man hier lesen.

[sg_popup id=“4″ event=“onload“][/sg_popup]

Schreibe einen Kommentar Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert