Das tödliche System

28. November 2016

Ken Loachs neuer Film „I, Daniel Blake“ beschreibt das Ergebnis jahrzehntelanger neoliberaler Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme

Daniel Blake ist ein älterer Mann, der nach einem Herzinfarkt nicht arbeiten darf. Sozialhilfe kriegt er allerdings auch nicht. Die gesichtslose Mitarbeiterin einer privaten Gesundheitsdienstleistungsfirma, die im Auftrag der Regierung über Arbeitsfähigkeit befindet, sieht keinen Grund, weshalb Daniel nicht arbeiten könnte. Immerhin hat er ja die Hände heben können und macht sich nicht in die Hose – laut den Kriterien ihres standardisierten Fragebogens ist er also arbeitsfähig. Gut keine Sozialhilfe, also sucht Daniel um Arbeitslosenunterstützung an. Die Arbeitsamtsmitarbeiterin steckt ihn gleich mal in einen Bewerbungskurs. Dort erzählt der Kursleiter, dass sich auf jeden Job dutzende oder hunderte Menschen bewerben. Wer da erfolgreich sein will, der müsse herausstechen und besonders engagiert sein, dann klappe das auch. Man sieht dem Mann an, dass er seinen eigenen Phrasen längst nicht mehr glaubt.

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Hinweise auf den Ausweg: Solidarität und gegenseitige Unterstützung

Simple Logik: selber schuld

Doch Daniel darf ja ohnehin nicht arbeiten – seine Ärzte haben ihm Ruhe verordnet. In einem einzigen Satz, in dem er der Arbeitsamtsangestellten die Situation erklärt, wird der irrsinnige Zusammenhang deutlich: er müsse sich um Jobs bewerben, die es gar nicht gibt und verschwende damit ihre Zeit, seine Zeit und die Zeit derer, bei denen er sich bewirbt. Und arbeiten dürfe er ja ohnehin nicht – selbst wenn es einen Job gäbe. Die Angestellte deutete auf die Formulare. So sind nun mal die Regeln. Endlose Telefonschleifen, um Verantwortliche in den Ämtern zu erreichen; Online-Formulare, die für den computer-unerfahrenen Daniel eine kaum zu überwindende Hürde bedeuten; kopfschüttelnde Behördenangestellte, die auf die Regeln verweisen. Ken Loach beschreibt in solchen Szenen, wie die Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme gehandhabt wird. Es wird nicht einfach alles abgeschafft – immerhin existieren ja noch Unterstützungsleistungen. Doch es werden bürokratische Hürden errichtet, die die Antragsteller in die Resignation treiben und den ausgehungerten Sozialsystemen Geld sparen sollen. Die Angestellten am Arbeitsamt sind keine bösartigen Kreaturen, einige versuchen sogar, Daniel zu helfen – doch selbst kleine Sympathiebekundungen werden von den Vorgesetzten beanstandet. Man dürfe niemanden bevorzugen. Das zusammenkrachende System hat dafür keine Kapazitäten mehr. Wenn also jemand wie Katie – die zweite Protagonistin in dem Film – ein paar Minuten zu spät zum Amtstermin kommt, weil sie neu in der Gegend ist, hat sie Pech gehabt: Termin verpasst, als Sanktion wird erst mal die Unterstützung gestrichen. Wer zu spät kommt, ist schließlich selbst schuld. Das ist auch schon die ganze simple Logik, nach der das System funktioniert, und das den Leuten eingepaukt werden soll: wem es schlecht geht, der ist selber schuld. Denn es gibt ja Jobs – man muss nur besser, motivierter, herausstechender und billiger sein als alle andern, dann bekommt man den auch. Und wenn nicht: es gibt ja Sozialunterstützung – man muss nur unterwürfig alle Hürden meistern, die einem in den Weg gestellt werden, um das bisschen Geld zu bekommen, das einen gerade nicht verhungern lässt.

Armut per Gesetz

In den meisten Besprechungen zu „I, Daniel Blake“ in deutschsprachigen Medien hieß es, Ken Loach klage den britischen Sozialstaat an – ein krasses Missverständnis oder gewollte Ignoranz. Denn „I, Daniel Blake“ ist zwar entlang der Mechanismen des britischen Sozialsystems erzählt, Loach thematisiert aber die Demontage sozialer Sicherungssysteme nach den Maßgaben neoliberaler Politikkonzepte allgemein. Und diese passiert so ziemlich überall, ganz gewiss aber überall in der EU, wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das bundesdeutsche Hartz-IV-Modell hat die Armut per Gesetz inklusive restriktiver Sanktionsmechanismen gegen Empfänger dieser Hungerhilfe seit Jahren perfektioniert. In Österreich kann man derzeit quasi in Zeitlupe beobachten, wie das bisher relativ gute Sozialhilfesystem in Form der „Mindestsicherung“ zerlegt wird. Wie in Loachs Film werden auch hier jene Hürden eingebaut, durch die Unterstützung für viele Bedürftige faktisch abgeschafft wird, die es den politischen dblakeVerantwortlichen jedoch erlauben, weiterhin so zu tun, als gäbe es eine funktionierende soziale Sicherung. Und was die Situation des „Arbeitsmarktes“ ingesamt betrifft. Egal wo auf dieser Welt: jedeR, der oder die schon mal auf Arbeitssuche war, weiß: es gibt die Jobs nicht – egal wie motiviert und herausragend man sein mag.

Wie immer bei Ken Loach erwächst die Hoffnung aus der alltäglichen Solidarität der Schwachen. Daniel hilft der alleinerziehenden Katie bei kleinen Alltagsproblemen. Sein jugendlicher Underdog-Nachbar erkundigt sich ehrlich besorgt nach Daniels Befinden. Man ist freundlich zueinander, versucht sich gegenseitig zu unterstützen, um das alles irgendwie zu meistern. Kleinigkeiten wie die Begleitung bei Behördenwegen oder zur Essensausgabe sind ein kleiner Spalt, durch den etwas Licht in die spätkapitalistische Dunkelheit dringt. Einen Ausweg aus dem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, kaputtgemachten Sozialsystemen und neoliberaler Politik bietet das freilich nicht – aber einen Hinweis darauf, wie und wo dieser gefunden werden könnte.

– René Dupé

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