Hatay: Wiege der Zivilisation an der Grenze zum Krieg

9. Oktober 2016

Hethiter, Ägypter, Assyrer, Perser, Römer, später dann Araber, die Byzantiner, die Kreuzfahrer, das Osmanische Reich, eine megakurze Periode der „unabhängigen Republik“ und dann die Türkei – so in etwa alle altertümlichen und neuzeitlichen Völker und Zivilisationen der Region im weiteren Sinne haben sich in Hatay niedergelassen. Deshalb weist die Stadt und Region ein Erbe auf, was man zeitgenössisch „multikulti“ nennen könnte. Die laut dem Vatikan älteste christliche Kirche der Welt, die St.-Petrus-Grotte ist hier etwa zu finden, in der sich die verfolgten Frühchrist*innen heimlich trafen. Auch viele andere christliche Kirchen (griechisch-orthodox, syrisch-orthodox, evangelisch, römisch-katholisch) befinden sich hier, insbesondere in der Provinzhauptstadt Antakya, auch bekannt als Antioch. Das letzte armenische Dorf in der Türkei, Vakıflı, liegt ebenfalls in der Region Hatay und es leben sehr viele Araber*innen hier – alawitischer aber auch christlicher Konfession. Kulturell wie auch wirtschaftlich war insbesondere die Hauptstadt Antakya lange Zeit an Aleppo in Syrien gebunden. Das spiegelte sich eine Zeit lang im 19. Jh. auch politisch dahingehend wider, dass Hatay Teil der Provinz Aleppo war. Die ehemalige Provinz ist nun auf zwei Länder verteilt, aber viele Familien haben nach wie vor Angehörige sowohl im syrischen als auch im türkischen Teil.

Viele Menschen, insbesondere die Araber*innen und Christ*innen in Hatay, betrachten noch heute die Türkei und Syrien nicht wirklich als einzelne Länder, sondern gewissermaßen als unterschiedliche Regionen ein und desselben Landes. Bis vor Ausbruch des Krieges gingen die Menschen Antakyas teils mit Eintagesvisen regelmäßig nach Syrien ihre Familien besuchen oder Handel treiben. Hatay war die Region, die am unmittelbarsten von der türkisch-syrischen Annäherung unter der AKP und den zahlreichen Handelsabkommen profitierte, die unter Erdoğan geschlossen wurden. Der Handel intensivierte sich so stark, dass eine Schnellstraße zwischen Hatay und Latakia gebaut wurde. Alles schien wie am Schnürchen zu laufen – doch dann kamen der Krieg und die Jihadisten.

Zentrum des Schmuggels, Koordinationszentrum der Militäroperationen

Der Handel, vor allem nach Syrien, brach ein. Andere wirtschaftliche Bereiche erhielten Zuwachs: Wie überall in der Türkei kamen die als billige Arbeitskräfte genutzten syrischen Flüchtlinge insbesondere der Landwirtschaft zugute. Auch andere Wirtschafts„sektoren“ blühten auf, wie zum Beispiel der Schmuggel: Das Dorf Hacıpaşa in der Provinz Hatay ist wohl zum berühmtesten Schmugglerdorf der Türkei geworden. Laut Einschätzungen der lokalen Bevölkerung beteiligten sich 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung des Dorfes am Ölschmuggel. Plastikrohre wurden, offen für jeden ersichtlich, über die Grenze verlegt, in allen Häusern wurde das Öl in den Kellern gelagert und weiter verkauft. Dörfer im Umkreis beschwerten sich bei der Gendarmerie, dass ihnen der Ölschmuggel verboten wurde, während er in Hacıpaşa florierte. Als dann die Gendarmerie nach Jahren doch einschritt, waren die Menschen in Hacıpaşa ganz schön wütend: Bis heute taten wir das vor euren Augen und ihr hattet nichts dagegen, jetzt soll es plötzlich illegal sein? Auch andere „Geschäfte“ wurden getätigt und haben aktuell Hochkonjunktur. So ist die „Vermittlung“ von syrischen Frauen an türkische Männer zum letzten Schrei geworden: 700 bis 1000 Euro nähme, so konnten wir herausfinden, einer der „bekanntesten Vermittler“ in Reyhanlı für eine Vermittlung – „je nachdem, wie schön sie ist.“ Der Kurs für Menschenschmuggel hingegen stehe seit geraumer Zeit eher schlecht, so bei 100 Dollar pro Person, wie Schmuggler berichten.

Da hinten geht's hoch zur St.-Petrus-Grotte. Wir so nur: Oh Gott, müssen wir da jetzt hoch??

Da hinten geht’s hoch zur St.-Petrus-Grotte. Wir so nur: Oh Gott, müssen wir da jetzt hoch??

Es war bei Güveçci in der Provinz Hatay, wo am 29. April 2011 die ersten syrischen Flüchtlinge in die Türkei kamen. Millionen sollten ihnen folgen. Die Menschen flohen vor Krieg, Tod, Zerstörung, Massakern, Armut – einige kamen aber auch, um ihre militärischen Operationen über die Türkei zu koordinieren: die FSA und die Jihadisten. Die FSA erklärte auf ihrer Homepage Hatay zu ihrem militärischen Zentrum und gab eine türkische Nummer als Kontakt an. Im Jahr 2012 bekam sie dann das Flüchtlingslager Apaydın „geschenkt“: Hier kamen hochrangige Generäle unter und koordinierten den Krieg in Syrien.1 Zu dieser Zeit liefen die Militanten offen mit Tarnhosen, FSA-Abzeichen und typischer jihadistischer Bartpflege (kein Schnurrbart, langer Bart) im Stadtzentrum von Antakya herum; Man konnte überall Fahnen der FSA und später auch von IS- und al-Nusra-Fahnen wehen sehen, vor allem im Grenzdorf Reyhanlı. Das änderte sich erst, als es zu massivem Widerstand in der Bevölkerung kam. Dazu gleich mehr.

Insbesondere in der Provinz Hatay (und in Adana) sind seitdem noch so viele andere Geschichten öffentlich geworden, dass einem regelrecht die Kinnlade herunterklappt, wenn man dennoch irgendwo liest oder hört, dass es ja „keine Beweise“ für die Zusammenarbeit der Türkei mit den Jihadisten gäbe. Ich liste hier noch einmal nur die aller krassesten Beweise auf.

Fangen wir an mit den „LKW-Hilfskonvois“. Die verkehren noch heute überall an der Grenze. Wir selbst zählen am Grenzübergang bei Cilvegözü dutzende weißer LKWs, die darauf warten, nach Syrien hinübergelassen zu werden. Die andere Seite wird laut übereinstimmenden Medien- und Augenzeugenberichten von al-Nusra und al-Sham dominiert. Auch dazu gleich mehr.

Die türkische Regierung redet von „humanitären Hilfslieferungen“. Die Realität ist offensichtlich eine andere. Am 7. November 2013 wird bei Adana ein LKW-Konvoi mit Mörsergranaten und Raketen aufgehalten.2 Er befindet sich auf dem Weg nach Syrien, die Munition wurde in Konya und Adana hergestellt. Erdoğan spricht darauffolgend davon, dass die Unterbindung dieses Transports die Sensibilität der Türkei für die Thematik bezeuge. Erdoğans Sensibilität konnte man bei allen folgenden Waffenlieferungen, die aufgeflogen sind, bewundern. Aber auch, was diesen Transport angeht, stellt sich aufgrund der Aussagen der LKW-Fahrer und Munitionshersteller heraus: Dies ist keine einmalige Lieferung, sondern hat System. So würden die Konvois normalerweise von Autos begleitet, die bei jedem Gendarmerie-Kontrollpunkt dafür sorgen, dass die LKWs nicht untersucht werden. Einer der Munitionshersteller gibt an, dass sie die Aufträge von einem gewissen Heysem Topalca erhalten. Nicht nur heißt es im betreffenden Gerichtsbeschluss zur Angelegenheit, dass ein Untersuchungsbericht der Sicherheitsbehörden vorläge, aus dem hervorgeht, dass die Munition in al-Qaida Lager direkt auf der syrischen Seite verfrachtet worden sei. Auch der besagte Heysem Topalca ist den Behörden kein Unbekannter. In einem Bericht der Generalkommandatur der Gendarmerie vom 9. Juni 2014 heißt es, dass Topalca andauernd historische Gegenstände aus Syrien in der Türkei verkaufe, Waffen und Munition an al-Nusra und al-Qaida in Syrien übergebe und auch derjenige gewesen sei, der das Tatfahrzeug für den Selbstmordanschlag von Reyhanlı3 organisiert hätte. In einem anderen Bericht des Präsidiums der Anti-Terror-Abteilung des Polizeigeneraldirektorats wird aufgelistet, dass Topalca zwischen 2011 und 2014 873 mal von Syrien in die Türkei ein- und wieder ausreiste.4

LKW-Konvoi am Grenzübergang Cilvegözü bei Reyhanlı.

LKW-Konvoi am Grenzübergang Cilvegözü bei Reyhanlı.

Am 1. Januar 2014 dann flogen LKW-Lieferungen in der Provinz Hatay auf, die unmittelbar dem Geheimdienst unterstanden. Wie das ersichtlich war? Sie wurden von Geheimdienstmitarbeitern begleitet! Der zuständige Staatsanwalt in Kırıkhan, Yaşar Kavalcıoğlu, wurde bei der Untersuchung behindert, unter anderem vom Provinzgouverneur Selahattin Lekesiz.

Am 19. Januar 2016 wurde endgültig klar, was sich alles so in Geheimdienst-LKWs rüber nach Syrien bewegte: Flugabwehrkanonen des Typs Dotchka, Raketen und Mörsergranaten.5 Bilder und Videos der Untersuchung und der Waffen wurden später in der Zeitung Cumhuriyet veröffentlicht, was dazu führte, dass der Chefredakteur Can Dündar und der Ankara-Büroleiter Erdem Gül unter dem Vorwurf der Spionage und des Verrats von Staatsgeheimnissen angeklagt wurden. Der zuständige Generalstaatsanwalt der Provinz Adana, Özcan Şişman, blieb jedoch hartnäckig. Er konnte in diesem Fall eine teilweise Untersuchung der Ladungen forcieren, bevor er und die ihm unterstehenden Gendarmen von Geheimdienstmitarbeitern, dem Provinzgouverneur von Adana, dem Abteilungsleiter des Geheimdienstes in Adana und dem Provinzkommandanten der Gendarmerie von weiteren Untersuchungen abgehalten wurden. Die hohe Politik polterte fürchterlich, Erdoğan höchstpersönlich schaltete sich ein und sprach im Befehlston: „Das waren Lastwagen des Geheimdienstes, die darfst Du nicht untersuchen, Du hast kein Recht dazu.“ Alle an der Untersuchung involvierten Beamten (der Staatsanwalt, seine Mitarbeiter und die Gendarmen) wurden angeklagt und unter anderem wegen Verrat von Staatsgeheimnissen inhaftiert.

Auch wissen wir von militärischer und logistischer Unterstützung für die Jihadisten seitens der Türkei. Im März 2014 stürmte die sogenannte „Bayırbucak Turkmenen Brigade“ gemeinsam mit der al-Nusra und der Islamischen Front das größtenteils armenische Dorf Kesab in Syrien direkt gegenüber von Yayladağı in der Türkei. Sie massakrierten Alawit*innen, vertrieben die Armenier*innen, rissen das Kreuz der Kirche herunter und plünderten die Häuser. In einem Gerichtsverfahren bezüglich eines Angriffs von IS-Militanten auf türkische Sicherheitskräfte wurden abgehörte Gespräche als Beweismaterial aufgenommen, die Bände sprechen.6 Einer der wichtigsten Kommandanten der turkmenischen Brigade, Adil Orli, und der türkische MHP-Militante Yaşar Benli kommunizieren hier von der syrischen Seite aus mit dem Bruder von Adil Orli, Ayhan Orli, mit dem AKP-Abgeordneten Mehmet Toktaş und mit dem damaligen Gouverneur des Distrikts Yayladağı, Turan Yılmaz, alle drei auf der türkischen Seite. In den Gesprächen geben Adil Orli und Benli die Koordinaten der syrischen Armee durch, die kurz daraufhin von türkischer schwerer Artillerie unter Beschuss genommen wird. Gleichzeitig erbitten sie um Hilfe beim Grenzübertritt von Militanten. In einem anderen Gespräch fragt Toktaş bei Ayhan Orli nach, ob sie immer noch nicht „von Ankara“ kontaktiert worden seien bezüglich Munition, was Orli verneint. Toktaş entgegnet wörtlich mit „Diese Hurensöhne. Ich ficke ihre Mütter“ und kündigt an, nochmal „mit Ankara“ bezüglich den Munitionslieferungen zu sprechen, weil sonst „alles umsonst“ sei.

Die Spitze des Eisbergs und der Rest

Das sind nur einige der größeren Skandale, die allein in Hatay und Adana öffentlich wurden. Es ist wahrscheinlich, dass innerstaatliche Spaltungen dafür sorgten, dass die Spitze des Eisbergs für einige kurze Momente für alle klar ersichtlich war. Wer sonst im Land außer staatlichen Stellen kann solche Geschichten so dermaßen auffliegen lassen? Und wer weiß, was es noch an größeren Kooperationen so gab und gibt? Millionen kleinerer Geschichten jedenfalls sind von der lokalen Bevölkerung, lokalen oppositionellen Politiker*innen und Journalist*innen erwähnt, aufgedeckt und skandalisiert worden. Solche „normalen“ Leute haben dann natürlich nicht die betreffenden Mittel und zu große Furcht vor Verfolgung und Repression, um das an die große Glocke zu hängen oder das Nachhaken zu forcieren.

Geschichten von Fremden, die im Restaurant oder im Minibus mit „wir sind Gäste von Erdoğan“ die Rechnung nicht zahlen, hört man oft. Oder die von zumeist alawitischen Ärzt*innen in den staatlichen Krankenhäusern, die davon berichten, wie verletzte Jihadisten sich weigerten, von Alawit*innen behandelt zu werden. Die verletzten Jihadisten kamen anfangs in voller Kampfmontur ins Krankenhaus, was zu großer Furcht beim Krankenhauspersonal führte. Die Gewerkschafterin Merve Nur Varhan berichtet davon, dass die Jihadisten auch Handgranaten mit ins Krankenhaus brachten. Am 18. Februar 2015 etwa rollt einem Jihadisten während der Aufnahme in die Notfallabteilung eine Handgranate aus der Tasche. Sie geht zum Glück nicht hoch. Am nächsten Tag gibt es Proteste des Krankenhauspersonals wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen.7 Bei Nacht ging, vor allem in den Hochphasen der Kämpfe auf der anderen Seite, in türkischen Grenzstädten plötzlich der Strom aus, die Funknetze wurden abgeschaltet und zahlreiche abgedunkelte Busse fuhren über die türkisch-syrische Grenze. Immer wieder sieht man, auch während unseres Aufenthaltes, Krankenwagen in beide Richtungen der Grenze hin- und her flitzen, die verwundete Kämpfer in türkische Krankenhäuser transportieren.

Das Büyük Antakya Oteli.

Das Büyük Antakya Oteli.

Der Hatay-Abgeordnete der CHP, Mehmet Ali Edipoğlu, hatte viele solcher Einzelfälle gesammelt und ins Parlament getragen.8 Nichts ist dabei rausgekommen. Dabei dokumentierte er sogar bis ins Detail, in welchen Hotels die nach Hatay angeflogenen Militanten unterkommen und ihre Treffen abhalten (z.B. mitten im Zentrum von Antakya folgende Hotels: Ottoman Hotel, Büyük Antakya Oteli, Narin Otel). Am Flughafen hielt er mehrmals fest, wie gleichzeitig mehrere hundert arabisch sprechende Personen bei Nacht landeten und noch beim Ausstieg aus dem Flugzeug von Minibussen mit abgedunkelten Fenstern abgeholt und sofort Richtung Grenze transportiert wurden. Die Verantwortlichen am Flughafen antworteten Edipoğlu, der sie nach den Vorfällen fragt, mit: „Tut uns leid, Instruktionen vom Außenministerium und dem Präsidialamt.“ Ähnlich abweisend antworteten ihm die Verantwortlichen des Militärpostens im Dorf Bükülmez, die den dortigen Grenzübergang kontrollieren. Auch hier hat Edipoğlu mehrere Aufnahmen von Minibussen gemacht, die Personen hinüberbringen. Die Militärs antworten ihm: „Stellen Sie uns keine Fragen, richten Sie sich an den Gouverneur.“ Der lehnte natürlich alles ab.

Dabei wusste der damalige Gouverneur, Celalettin Lekesiz, bis ins letzte Detail von diesen Unternehmungen, wie ein geheimer Bericht von ihm ans Innenministerium aus dem März 2014 bezeugt9: Er berichtet dem Innenministerium, dass IS Militante über Istanbul legal in die Türkei einreisen, um dort nach Şanlıurfa, Kilis, Gaziantep oder Kilis weiterzureisen. Dort träfen sie sich mit lokalen Kollaborateuren und Schleusern, die sie dann wiederum in Dreier bis Fünfer-Grüppchen nach Syrien bringen würden. Er nennt dieselben Dörfer und Grenztore, welche die Jihadisten zum Überqueren der Grenze nutzen, wie alle anderen auch (Güveçci, Bükülmez, usw.) und weiß von einem wichtigen Treffen, das 150 ISler, die zuvor illegal die Grenze überquerten, im Kent Hotel in Reyhanlı abhielten. Geholfen hat dieser Bericht scheinbar nicht.

Nicht zuletzt sprechen auch die Rebellen selbst über die für Jihadisten äußerst durchlässigen Grenzen. Wie zum Beispiel einer der wichtigsten Schmuggler der Gegend, Abdurrahman el Helak, der davon erzählt, dass der CIA Waffen über Antakya nach Syrien bringt – und auch, welche Waffen dies sind.10

Grenzgebiete des Menschlichen

Die türkische-syrische Grenze in der Provinz Hatay, das ist die Hölle, das Grenzgebiet des Menschlichen. Auf der einen Seite die Jihadisten, Kollaborateure, Menschenschmuggler und Geheimdienstler, die alles tun, um den Krieg weiter zu befeuern; auf der anderen Seite das unendliche Elend, der Hohn auf alles Gelaber von der Menschlichkeit: die Flüchtlinge.

Ende November 2015, als Russland vehementer in den Krieg intervenierte, und dann wieder ab dem 3. Februar 2016, als die Hauptverbindungslinie zwischen Gaziantep und Aleppo seitens der syrischen Armee gekappt wurde, nahm, laut zwei Berichten der Volksräte in Hatay, die Massenflucht vor allem über den Grenzübergang Güveçci bei Yayladağı zu.11 Dabei, so Quellen aus der lokalen Bevölkerung, seien die meisten gar keine Turkmen*innen gewesen, wie es die türkische Regierung behauptete. Unter den damals in die Türkei geflohenen sei ein signifikanter Anteil Kämpfer gewesen. Kurze Zeit später sei es in der Region geschäftig zugegangen: plötzlich fuhren gepanzerte zivile und militärische Fahrzeuge in der Gegend, die weißen LKWs waren wieder überall.

See beim Grenzdorf Reyhanlı. Sehr nachtaktiv...

See beim Grenzdorf Reyhanlı. Sehr nachtaktiv…

Die lokale Bevölkerung, aber auch Flüchtlinge, geben an, dass zum Beispiel das Atme-Lager direkt gegenüber von Bükülmez von der jihadistischen al-Nusra und Ahrar al-Sham dominiert wird. Flüchtlinge berichten zusätzlich davon, dass sie in dieses Lager abgeschoben wurden, auch wenn sie an ganz anderer Stelle versucht haben, in die Türkei zu kommen. Allerdings läuft auch unter den Jihadisten nicht alles glatt: kurz nachdem am Abend des 14. August 2016 mal wieder ein mutmaßlicher Geheimdienstkonvoi die Grenze nach Syrien überquert hat und in das Lager von Atme hineinfährt, sprengt sich ein Selbstmordattentäter des IS dort in die Luft. Mindestens 35 Menschen sterben. Schaut man sich an, welche jihadistischen Brigaden sich zu dieser Zeit zwecks Vorbereitung und Ablösung im Lager befanden, wird deutlich, dass es größtenteils genau diejenigen Brigaden sind, die derzeit mit der Türkei in Nordsyrien einmarschieren: Sultan Murat Brigade, Nurettin Zengi Brigade, Liva el-Hamza usw.12 Auf die Bombenexplosion angesprochen, schaut der Dönerladenbesitzer in Reyhanlı, mit dem wir sprechen, kurz verdutzt und meint dann: „Achso das. Na, das ist hier ja mittlerweile Normalität geworden.“ So normal, dass sich die exakt selbe Geschichte erst kürzlich Anfang Oktober nochmal wiederholte, diesmal mit mindestens 20 Toten.13

Wir treffen uns mit einem türkisch-arabischen Arbeiter, der an unterschiedlichen Orten beim Bau der türkischen Grenzmauer beschäftigt war. Er möchte natürlich anonym bleiben. Er hatte viel Kontakt zu den Geflüchteten. Sie liefen bis an die sich im Bau befindliche Grenzmauer heran und er konnte solange mit ihnen reden, bis die Soldaten sie vertrieben. „Es ist nichts weniger als eine Menschheitstragödie, was diese Menschen durchmachen müssen“, so sein Kommentar. Die Geflüchteten erzählen davon, dass der Großteil der humanitären Hilfen für die Lager an die jihadistischen Militanten geht. Die wiederum würden sie erpressen: Entweder kauft ihr uns das Zeug ab oder geht für uns kämpfen, sonst gibt’s nichts für euch. Aufgrund von Wassermangel würden sie ihre Sachen im Kanalisationswasser waschen. Teils hätten Hunderte von Geflüchteten täglich versucht die Grenze zu überqueren. Die syrische Seite der Grenze sei voll gewesen mit den letzten Sachen, die die Fliehenden noch besaßen und die sie im letzten Augenblick wegwarfen, um noch schnell genug über die Grenze zu kommen. Dafür hätten sie sich durch Sumpf, Schlamm und Stacheldraht kämpfen müssen und hätten sich infolgedessen in fürchterlicher Verfassung befunden. Nur um dann auf türkischer Seite von der Gendarmerie festgehalten und am nächsten Tag einfach wieder scharenweise in dasselbe Lager zurückgeschickt zu werden – zu den Jihadisten, vor denen sie geflohen waren.

Auch die Jihadisten hört er oft genug. Als weitgereister Mensch kennt er viele arabische Akzente und Dialekte weltweit. Seine Einschätzung deckt sich mit anderen: An den Akzenten meint er Kämpfer aus Bangladesch, Indien, Pakistan, Afghanistan und vielen anderen Ländern erkannt zu haben.

Von Indifferenz zu Widerstand und „es lebe Assad!“ – die alawitische Gemeinde

Am meisten besorgt, aber zugleich auch am kämpferischsten ist sicherlich die alawitische Gemeinde in Hatay. Die Region gehört zum alawitischen Kernland, die Gemeinde ist stark. Traditionell gehören Alevit*innen und Alawit*innen in der Türkei zu den aufständischsten und kommunalsten Elementen.14 Ihre Religion ist nicht anerkannt, sie werden entweder einfach als (natürlich sunnitische) „Moslems“ bezeichnet – oder gleich direkt als Ketzer*innen an den Pranger gestellt. Bei zahlreichen Massakern in der Republiksgeschichte, die Alevit*innen zum Ziel hatten, wurde demjenigen oder derjenigen, der/die sie tötete, das Paradies versprochen. Nicht per Zufall bildeten und bilden Alevit*innen und Alawit*innen nach wie vor eine der Hauptquellen der türkischen revolutionären Linken. Es ist ebenfalls kein Zufall, dass die heftigsten Aufstände während der Gezi-Revolte 2013 in Antakya stattfanden – und dass alle sieben Toten der Gezi-Revolte Aleviten waren.

Im Zentrum von Antakya.

Im Zentrum von Antakya.

Der Syrienkrieg hatte auch sofort unmittelbare Auswirkungen auf die alawitische Gemeinde in Hatay – es werden verstärkte Übergriffe und Verfolgung befürchtet. Islamistische Banden auf syrischer Seite machten von Anfang an deutlich, dass sie unter anderem eine Vernichtung der Alawit*innen (oft auch abschätzig Nusairier genannt) anstreben. Schon 2011 rief Mamoun al-Homsi, eine wichtige Führungspersönlichkeit der Muslimbrüder in Syrien, die Alawit*innen dazu auf, sich von al-Assad zu distanzieren, ansonsten würde Syrien zu einem „alawitischen Grab“ werden.15 Danach wurde der Slogan „Alawiten ins Grab, Christen nach Beirut“ populär. Al-Homsi hingegen durfte sich als „Flüchtling“ in der Türkei aufhalten.16 Im März 2013 lässt der FSA-Kommandant Abu Sakkar ein Video von sich aufnehmen, wie er das Herz eines getöteten Soldaten isst und ruft dabei: „Schlachtet die Alawiten und esst ihre Herzen!“ Der al-Nusra Führer al-Julani rief im Oktober 2015 dazu auf, „den Krieg zu eskalieren“ und alawitische Dörfer und Städte gezielt anzugreifen.17 Den Hassreden folgen Taten: die Massaker von Jisr al-Shughur (Juni 2011), von Aqrab (Dezember 2012), von Hatla (Juni 2013) und viele, viele mehr. Einige dieser Massaker wurden offen als „Auslöschung der Alawiten“ gefeiert, die Videos davon hochgeladen. Militärische aber auch verbale Unterstützung erhielten sie von Katar und Saudi Arabien: Schon 2012 riefen eine Reihe an saudischen Klerikern dazu auf, „al-Assad und seine schiitischen Verbündeten abzuschlachten“18, 2015 wurden diese Kleriker vom Emir von Katar, al-Thani, feierlich empfangen.19 Die türkische Revolverpresse machte mit. Zeitungen wie Yeni Akit und Aydınlık oder den Islamisten nahestehende Internetportale wie islahhaber.com berichteten etwa darüber, dass die „Nusairer“ Sunnit*innen in der Türkei (!) töten (!) würden und keine Moslems seien usw. Auch der gemeinschaftliche Präsidentschaftskandidat der CHP und MHP, der Islamist Ekmeleddin Ihsanoğlu, grenzte 2014 die türkischen Alevit*innen von den „Nusairiern“ ab, die nach seiner Meinung etwas „ganz anderes“ seien.20

Da verwundert es wenig, dass die alawitische Gemeinde fuchsteufelswild darüber war, dass die ganze Zeit Jihadisten in der Provinz Hatay verkehrten und offensichtlich Unterstützung von der Türkei erhielten. Am 1. September 2012, dem Weltfriedenstag, trug sich trotz Demonstrationsverbot in Antakya die Wut auf die Straße. Tausende von Menschen, zumeist Alawit*innen, füllten die gesamte Saraystraße, die Haupteinkaufsmeile im Zentrum. Sie demonstrierten gegen die Jihadisten, die damals ja noch recht offen im Stadtgebiet rumliefen. In den türkischen Mainstreammedien wurde die Demonstration als „pro-Assad Manifestation“ verunglimpft. Dabei beschränkte sich der Unmut gar nicht allein auf Alawit*innen und schon gar nicht auf Assad-Anhänger*innen. Auch sunnitische Bezirksvorsteher beschwerten sich über die starke jihadistische Präsenz und sprachen öffentlich davon, dass sie sich nicht mehr sicher genug fühlten um aus ihren Häusern zu gehen.

In derselben Nacht noch wurden Tausende Menschen vom Stadtzentrum in entlegenere Flüchtlingslager gebracht und im Stadtzentrum sah man keine Militäruniformen und Männer mit jihadistischer Bartpflege mehr. Seitdem achtet der Staat auch darauf, dass insbesondere die jihadistischen Elemente nicht mehr in oder in der Nähe von alawitischen Siedlungsgebieten untergebracht werden, damit die jihadistische Präsenz nicht mehr so auffällt.

Der Hort des Widerstandes - die Hauptstraße des linken, alawitischen Viertels Armutlu.

Der Hort des Widerstandes – die Hauptstraße des linken, alawitischen Viertels Armutlu.

Dass die Gefahr durch die Taktik, die Jihadisten einfach nur „unsichtbar zu machen“, nicht zurückgegangen ist, zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre. Während der sogenannten „Demokratiewachen“ im Juli 2016 versuchten Aggressoren das linke, alawitische Viertel Armutlu von Antakya zu stürmen. Die Slogans waren tekbir und das aus dem Syrienkrieg berühmt-berüchtigte „Alawiten ins Grab, Christen nach Beirut“. Die Polizei intervenierte anfangs nicht. Die Alawit*innen verteidigten sich selbst, indem sie Barrikaden bauten und die Angreifer zurückschlugen.

Dann flog erst neulich auf, dass ein leerstehendes Gebäude in der Nähe des Zentrums als Abschiebezentrum genutzt wurde. Diese werden vom türkischen Staat dazu verwendet, ausländische Jihadist*innen ohne große Verfahren einfach wieder in (zumeist europäische) Drittländer abzuschieben, wie z.B. Ibrahim al-Bakraoui, einen der Selbstmordattentäter von Brüssel. Am 25. Juni 2016 brachen über 10 mutmaßlich hochrangige ISler aus dem Abschiebezentrum in Hatay aus.21 Augenzeug*innen berichten davon, dass das Gebiet weitflächig von Polizei und Gendarmerie abgesperrt wurde. Die Nacht hindurch wurde geschossen. Am nächsten Tag hieß es, dass sechs ISler gefangen worden seien, der Rest aber noch flüchtig sei. An Ladenbesitzer in der Umgebung wurden Bilder der Flüchtigen verteilt.

Dabei befürchten die Alawit*innen nicht nur gegen sie gerichtete Massaker und Übergriffe. Sie fürchten sich auch davor, dass der Krieg und die innerjihadistischen Auseinandersetzungen in die Türkei hinüberschwappen könnte. Unbegründet ist diese Furcht nicht: So wurde zum Beispiel der Kommandant der FSA-Brigade Suquor al-Ghab (Falken von al-Ghab), Jamal Radoun, von einer Autobombe in Antakya getötet. Ähnliche Vorfälle fanden davor und danach statt.22

Die permanente Bedrohung hat dazu geführt, dass unter den Alawit*innen eine individuelle Bewaffnung (vor allem mit Pumpguns und Pistolen) stattgefunden hat, auch wenn man sicherlich (noch) nicht von Milizen sprechen kann. Eine Zeit lang gab es auch von der Bevölkerung selbst organisierte Kontrollen an Zufahrtswegen und in Dörfern, wie zum Beispiel in Serinyol oder Samadağ. Samadağ zum Beispiel besitzt eine eigene Facebook-Gruppe unter den Namen „Samandağ Online Destek“ (Samandağ Online Hilfe) mit derzeit über 18.000 Mitgliedern. Wird über diese Gruppe ein verdächtiges Fahrzeug gemeldet, sind sofort 10 bis 20 Autos vor Ort, die das Fahrzeug stellen und kontrollieren. Diese Art von Selbstverteidigungsmechanismen der Alawit*innen breiteten sich so stark aus, dass der Provinzgouverneur einschritt und erklärte, dass es nur dem Staat obliege, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten und alles andere strafrechtlich geahndet werde.

Obst und Gemüse für den Widerstand.

Obst und Gemüse für den Widerstand.

Eine stärker organisierte und politisierte Form des Widerstandes stellen die halk meclisleri, die Volksräte von Hatay, dar. Sie sind ein Zusammenhang unterschiedlicher politischer und zivilgesellschaftlicher Organisationen und Individuen, die sich in Form von Bezirks- und Stadtteilräten organisieren, um eine selbstorganisierte Form der Macht der lokalen Bevölkerung aufzubauen und den Widerstand gegen die Kriegspolitik auf diese Macht gestützt und unabhängig vom Staat zu führen. Im Mai letzten Jahres konnten sie erfolgreich die Errichtung eines Ausbildungslagers für FSA-Gruppierungen in der Provinz Hatay verhindern. Dass diese Ausbildung stattdessen wo anders stattfand und dass die ausgebildeten „FSA“ler in Wahrheit Jihadisten vom gleichen Schlag wie der IS sind, sehen wir derzeit innerhalb der Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien, wo die Truppen zum Einsatz kommen.

Und was die „Assad-Verehrung“ der Alawit*innen in Hatay angeht: Es stimmt, dass mittlerweile teils recht starke Sympathien für Assad entstanden sind oder zumindest keine grundsätzliche Feindseligkeit gegenüber Assad mehr unter den Alawit*innen besteht. Das hat allerdings nichts mit der baathistischen Ideologie oder überhaupt einer systematisierten Ideologie und Politik zu tun. Bis kurz vor dem Krieg interessierte sich kaum jemand hier für die politischen Verhältnisse, geschweige denn für die baathistische Ideologie und Assad oder ähnliches. Der Mentalitätswandel hat sehr viel mit jenen jihadistischen Banden zu tun, und die mit Rückendeckung ihrer staatlichen Sponsoren offen Alawit*innen massakrierten oder dazu aufriefen. Bei vielen Alawit*innen führte dies deshalb zu dem Schluss, dass alle diese Mächte sich gegen Assad stellen, weil er Alawit ist – und dass auch sie massakriert werden, sobald Assad fällt. Ergo fingen auch in der Türkei die Alawit*innen an, Assad zu unterstützen oder ihm zumindest den Sieg zu wünschen, weil ihrer Auffassung nach ihr eigenes Überleben damit zusammenhing.. Erst seit einiger Zeit findet auch unter den Alawit*innen in der Türkei eine langsame Distanzierung statt, unter anderem auch deshalb, weil die Mainstreammedien die Assad-Konterfeis auf Demos dazu nutzten, um den alawitischen Widerstand zu diffamieren.

Die Farben Hatays verbleichen: die christliche und die jüdische Gemeinde

Diejenigen der christlichen Gemeinde Hatays, die offen reden und sich mit uns treffen wollen, sind von der selbstbewussten und furchtlosen Sorte von Menschen. Zum Beispiel Josef Naseh, Altarchäologe und ehemaliger Vertreter der christlich-orthodoxen Gemeinde in Antakya. Wie eigentlich bei allen Christ*innen in Antakya befindet sich auch seine halbe Verwandtschaft (noch) in Syrien, wie fast alle dort betrachtet auch er die Türkei und Syrien als ein Land, als seine Heimat. Für ihn ist klar: Mit seiner 46.000 Jahre alten Geschichte ist Hatay die Wiege der Zivilisation. Zahlreiche polytheistische und monotheistische Religionen seien hier entstanden oder zusammengekommen. Gekoppelt mit dem Reichtum Hatays mache es dies unmöglich, dass der Frieden und das Zusammensein der Kulturen und Religionen auseinandergerissen werden könne. Das einzige Problem sei „der Imperialismus“, der aus eigenen Interessen heraus permanent in den Nahen Osten interveniere und versuche, den Frieden zu zerstören. Konflikte, die im Namen von Religionen geführt würden, könnten letzten Endes nur aufgrund ökonomisch ungleicher Verteilung entstehen. Warum sonst sollte ein Gläubiger einen anderen Menschen massakrieren oder dessen Frieden stören wollen? Laut Naseh könnten alle Probleme des Nahen Ostens innerhalb eines Tages gelöst werden: Alle Staaten und politischen Führer der Welt müssten sich zusammensetzen und das Land gerecht verteilen. Dann gäbe es auch keine Probleme mehr.

Der Altarchäologe Josef Naseh.

Der Altarchäologe Josef Naseh.

Die bewaffnete Version eines selbstbewussten arabischen Christen ist Onkel Fırat. Er ist Mitbegründer der al-Muqawama as-Suriyya (auf Deutsch: Syrischer Widerstand), einer bewaffneten Formation, die bis vor kurzem unter der Führung von Mihraç Ural stand. Ural wurde im März von Ahrar al-Sham Milizen getötet. Er entstammte der türkischen Linken und organisierte die Formation in der Tradition von Mahir Çayan, einem der revolutionären Studentenführer in der Türkei der 1960er Jahre. Die Gruppe sieht im Krieg in Syrien eine Fortsetzung des revolutionären Kampfes, den Çayan in der Türkei führte. Ural betonte stets, dass es ihnen um die „Rettung des Vaterlandes Syrien“ im „antiimperialistischen, antizionistischen und antireaktionären Kampf“ gehe. Konsequenterweise ist die Muqawama as-Suriyya eng mit dem syrischen Regime verbündet. Onkle Fırat wanderte wegen Waffenschmuggel und Unterstützung einer Terrororganisation für ein Jahr in den Knast. Obwohl nicht mehr der Jüngste, kämpfte er in dieser Formation gegen Jihadisten in Syrien, viele seiner Kameraden starben im Gefecht. Onkel Fırat erzählt: „Auch ich hätte im Gefecht sterben können. Aber ich bin dennoch hingegangen. Nur damit du verstehst, wie groß unsere Liebe für Syrien ist.“ Auch seine Familie befindet sich zur Hälfte in Syrien, auch für ihn gehören die Türkei und Syrien zusammen. Auf die Frage, ob er denn nicht Furcht habe vor den Jihadisten, die hier ein- und ausgehen, lacht er nur trocken: „Ich wohne in Samandağ. Dort sind wir Christen mit den Aleviten verwachsen. Da kommt keiner von denen durch oder vorbei. Das ist wie eine Festung dort. Nicht umsonst nennt man Samandağ auch Kleinmoskau.“ Er verabschiedet sich mit einem fetten Bossgrinsen: „Zum Glück sind wir keine Sunniten, sondern Christen, elhemdülillah!“

Natürlich lässt sich nicht behaupten, dass die beiden die Situation und die Gemütsstimmung des Großteils der Christ*innen in Antakya repräsentieren. Die meisten Christ*innen leben zurückgezogen und bevorzugen es, nicht aufzufallen. Furcht und Ängstlichkeit herrschen vor. Gegenüber dem türkischen Menschenrechtsverein drückten Christ*innen ihren Zustand in Anlehnung an den letzten Artikel des armenischen Journalisten Hrant Dink vor seiner Ermordung als „die Ängstlichkeit einer Taube“ aus.23 Die Entwicklung des Syrienkriegs und seine Auswirkungen auf die Türkei sind nur die bisherige Spitze einer Geschichte der zunehmenden Entfremdung und der traurigen Emigration aus dem, was für viele arabische und armenische Christ*innen das Heimatland ist – oder eher: war. Bestand die Bevölkerung Hatays 1939 bei der Einverleibung der Stadt in die Türkei noch zu knapp einem Viertel aus Christ*innen, so leben heute nur mehr ein paar Tausend von ihnen in Hatay. Seit 2013, nachdem in Syrien der griechisch-orthodoxe Metropolit von Aleppo, Pavlos Yazigi, gemeinsam mit dem syrisch-orthodoxen Erzbischof von Aleppo, Mor Gregorios Johanna Ibrahim, von islamistischen Banden entführt und vermutlich ermordet wurde, hat die griechisch-orthodoxe Kirche in Antakya ihre Tore geschlossen. X-Rays und Polizisten befinden sich am Eingang, die Pfarrer sind sehr reserviert und nicht redelustig. Als am 31. Juli 2016 während einer der „Demokratiewachen“ im Zuge der Niederkämpfung des Putschversuchs eine Gruppe von Jugendlichen mit tekbir Slogans zur Kirche zieht, findet dort gerade eine Hochzeit statt. Die christliche Gemeinde tut so, als habe diese Aktion nicht ihnen gegolten, sie möchten nicht noch weiter auffallen.

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Leerstehende Häuser im Zentrum Antakyas…

Um die jüdische Gemeinde ist es noch schlechter gestellt. Die Synagoge hat seit einer gefühlten Ewigkeit ihre Tore geschlossen und als der jüdische Friedhof der Stadt am 21. Juni 2016 geschändet und beschädigt wird, sorgt dies nicht für einen Aufschrei. Es kümmert schlicht kaum jemanden, man lässt die jüdische Gemeinde Antakyas in aller Stille aussterben. Die meisten wissen vermutlich gar nicht mehr, dass Antakya einst auch für viele Jüd*innen eine Heimatstadt war. Hatice Can, Anwältin und Mitglied des Vorstandes des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, schaut traurig in die Ferne: „Wie eigentümlich das ist. In den 1980ern habe ich alle meine Stickereien und Möbel noch bei jüdischen und armenischen Handwerkern gekauft. Nun sind sie weg. Die jüdische Gemeinschaft ist mittlerweile so klein geworden, dass wir mit ihnen nicht mehr über Zahlen reden. Sie sind im Grunde nur mehr Ausstellungsstücke in der Vitrine, die eine Vielfarbigkeit vorgibt, für die Hatay einmal stand.“

Über Melancholie und kämpferisch gestimmte Hoffnung

Will man ehrlich sein, sprechen die Tatsachen also eher, für die Melancholie: Die Türkei beraubt sich vor lauter Großmachtbestreben immer weiter um die Reste seines multikulturellen und -religiösen Erbes. Ob das allein einer wie auch immer gearteten Machenschaft des westlichen Imperialismus entspringt, ist gründlich zu bezweifeln. Andererseits: Wenn man das Glück hat, die Schönheit und den menschlichen Reichtum Hatays bewundern zu können, versteht man auch, warum viele Menschen aus der Region dazu bereit sind – obzwar teils für recht schräge Ideologien – für diese Schönheit und diesen Reichtum bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Und hieraus wiederum schöpft sich eine kämpferisch gestimmte Hoffnung.

  • Von Alp Kayserilioğlu
  • Alle Bilder bis auf Titelbild von Johanna Bröse

2Für detaillierte Informationen zum Folgenden vgl. Fehim Taştekin, Suriye: Yıkıl Git, Diren Kal!, Istanbul, 2015, S. 280-82.

3Am 11. Mai 2013 detonierten zwei Autobomben in der Grenzstadt Reyhanlı und töteten zwischen 51 und 300 Menschen. Die türkische Regierung sprach von einem „linksextremistischen Anschlag im Auftrag des syrischen Geheimdienstes“, der leak eines Dokuments der Gendarmeriekommandatur der Provinz Hatay seitens der sozialistischen Hackergruppe Redhack lässt aber darauf schließen, dass es ein Anschlag der al-Nusra-Front war, um die Türkei in den Syrienkrieg hineinzuziehen. Aus dem leak geht ebenfalls hervor, dass die Gendarmerie vom bevorstehenden Anschlag wusste. Vgl. http://www.ntv.com.tr/turkiye/reyhanlida-el-nusra-suphesi,SnZs1yrYykmranhcAfjPuA.

5Hierfür vgl. wieder Taştekin, Suriye, S. 285-89.

8Vgl. Taştekin, Suriye, S. 277-78.

9Vgl. ebd., S. 325-26.

14Mit Alevit*innen sind zumeist die türkischen, mit Alawit*innen die arabischen Alevit*innen gemeint.

23Es seien hier nochmal die letzten Sätze des letzten Artikels von Hrant Dink kurz vor seiner Ermordung in Erinnerung gerufen: „Das Jahr 2007 wird für mich sicher ein schweres Jahr werden. Die Gerichtsprozesse werden fortgesetzt, neue Anklagen hinzukommen. Wer weiß schon, welches neue Unrecht mir widerfahren wird? Aber trotz alledem werde ich eine Sicherheit haben. Ja, ich mag die Ängstlichkeit einer Taube teilen, aber ich weiß, dass die Menschen in diesem Land einer Taube nichts antun. Die Tauben leben mitten in den Städten unter all den Menschenmassen. Etwas scheu zwar aber doch auch genau so frei.“ Kurz darauf wurde Dink von dem Faschisten Ogün Samast auf offener Straße vor dem Redaktionsbüro der armenischen Zeitung Agos in Istanbul erschossen – wie wir heute wissen: mit tatkräftiger Unterstützung des Gendarmerie-Geheimdienstes und der Polizei.

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