Gaziantep (II): Transitstadt der Jihadisten, logistisches Zentrum des IS

6. September 2016

Keine zwei Tage nach unserer Abfahrt von Gaziantep findet am 20. August das Massaker statt. Ein 14-jähriger Attentäter sprengt (bisher) 60 Menschen mit sich auf einer Hochzeit im Viertel Beybahçe in die Luft, darunter mehr als 30 Kinder. Es war eine Hochzeit von kurdischen Familien aus Siirt. Die meisten von ihnen waren in den 1990ern während des schmutzigen Krieges nach Gaziantep und in dieses (oder in umliegende) Viertel zwangsemigriert. Beybahçe ist wie Güzelvadi, Narlıtepe, Vatan und einige andere Viertel mehrheitlich kurdisch dominiert. Die kurdische Befreiungsbewegung ist hier sehr stark. Der IS und die (türkische) Hizbullah ebenfalls.

Wären wir noch in Gaziantep gewesen, wären wir vermutlich auf die Hochzeit gegangen. Am selben Abend gab es nämlich nur zwei kurdische Hochzeiten in Gaziantep und wir waren zu beiden eingeladen. Mal wieder leben wir nur per Zufall. Ahmet, unser Freund aus Siirt, der uns zur Hochzeit eingeladen hatte, ist nur ein paar Minuten vor dem Massaker nach Hause gegangen. Er macht gerade die Tür auf, als er die Explosion hört und rennt zurück. Salim ist zu Hause und denkt, dass ein Anschlag auf das Polizeiquartier stattgefunden hat, während Necmettin und Onur von Anfang an sicher sind, dass es ein Anschlag in ihrem Quartier ist. Und so gehen sie und viele andere zum Ort des Geschehens. Die grausamsten Bilder und Videos von der Nacht wurden unter der Hand weitergereicht oder uns privat gezeigt. Hochgestellt werden die aller brutalsten nicht. Aus gutem Grund.

Die meisten Opfer des Anschlags vom 20. August waren Kinder.

Die meisten Opfer des Anschlags vom 20. August waren Kinder.

Ich schaffe es erst wieder ein paar Tage später, am 24. August, zurück nach Gaziantep. Der Tatort ist geschäftig. Angestellte der Stadt reparieren die Schäden und malen die Außenwände der beschädigten Häuser neu. Fünf bis sechs Häuser im unmittelbaren Wirkradius der Bombe sind mittelschwer beschädigt, Splitter flogen allerdings noch viel weiter und bis in die höchsten Stockwerke. Die Menschen aus dem Viertel berichten uns, dass schon ein paar Stunden nach dem Anschlag die Feuerwehr dabei war, alles wegzuspülen, ohne dass eine Beweisaufnahme gemacht wurde. Trauerarbeit Turkish style: Wir waren mal wieder die schnellsten darin, so zu tun als sei nichts passiert und alles wieder zurück beim Alten.

Das machen die Leute vor Ort allerdings nicht mit. Am Tag darauf beteiligen sich Tausende bei der Beilegung der Toten, die AKP wird ausgeladen und ausgebuht, Slogans gegen Regierung und Staat (“Mörder ISIS, Kollaborateur AKP”) gerufen. Seitdem sind über das gesamte Viertel verteilt Trauer- und Kondolenzzelte aufgebaut, kollektiv werden die Angehörigen der Opfer besucht und Klagelieder gesungen. Denn aus fast jeder Familie gibt es Tote zu beklagen und man kennt sich untereinander, kennt die Toten und ihre Familien. Das ganze Viertel ist auf der Straße, während an jeder Ecke jemand Wache steht. Auch mein Rucksack wird untersucht.

Die Menschen vor Ort ziehen Parallelen zum Massaker in Ankara am 10. Oktober 2015. Damals hatte (wie jetzt wieder) die KCK angekündigt, dass wieder ein Friedensprozess in Gang gesetzt werden könnte. Kurz daraufhin fand das Massaker statt. Auch diesmal wieder. Zusätzlich wurde der Anschlag natürlich glänzend dazu benutzt, um den kurz darauf erfolgten Einmarsch in Syrien mit der Logik „alle Terroranschläge in der Türkei kommen aus Syrien, das muss enden“ (Erdoğan) zu rechtfertigen. Dass dem türkischen Geheimdienst Informationen vorlagen, wonach der IS Anschläge auf kurdische Hochzeiten in Betracht zog, wirkt hier nicht mehr skandalös. Für die meisten steht es sowieso schon längst fest, dass es im mindesten ein Bündnis zwischen dem türkischen Staat und dem IS gibt.

Vom Gläubigen zum fanatischen Massenmörder: Werdegang eines IS-Militanten

Mit unserem Freund und Genossen Onur Kartal, der Mitglied bei der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) ist und den Anschlag von Suruç vom 20. Juli 2015 schwer verletzt überlebte, unterhalten wir uns ausgiebig über die historischen Hintergründe und die Organisationsweise des IS in Gaziantep. Gemeinsam mit dem BirGün-Journalisten Doğu Eroğlu forschte er Ercan Çapkın hinterher, der am 1. April 2016 als vermeintlicher IS-Verantwortlicher in Gaziantep während einer Polizeirazzia festgenommen wurde.

Unser Freund und Genosse Onur Kartal, Sozialist und Suruç-Überlebender, machte sich auf die Fersen des IS in Gaziantep. (Foto von Johanna Bröse)

Unser Freund und Genosse Onur Kartal, Sozialist und Suruç-Überlebender, machte sich auf die Fersen des IS in Gaziantep. (Foto von Johanna Bröse)

Auffallend ist, dass sich die (türkische) Hizbullah seit dem 12. September 1980 sehr stark in Gaziantep organisierte und die Stadt neben Diyarbakır und Batman gewissermaßen zu den Festungen der Hizbullah gehörte. Als der Aufstieg des IS und der al-Nusra-Front in Syrien begann, konnten sie bei der Organisierung in der Türkei auf die Vorarbeit der Hizbullah und anderer religiöser Gemeinschaften in Gaziantep aufbauen.

In fast jedem Randviertel von Gaziantep außer den alevitischen gibt es zahlreiche Koranschulen und religiöse Vereine. Auch der IS unterhält solche, allerdings nur sehr wenige, vielleicht ein bis zwei. Stattdessen schickt der IS eigene Leute in Schulen und Vereine anderer religiöser Gemeinschaften. Die meisten dieser Gemeinschaften wie z.B. die Nur-Gemeinschaft sind als eher moderat einzuschätzen. Sie lehnen den IS ab. Dennoch gibt es Jugendliche, die solchen Gemeinschaften beitreten, sich radikalisieren und zunehmend unzufrieden sind mit der fehlenden Radikalität der jeweiligen moderaten Gemeinschaft. Diese Jugendlichen werden dann von den IS-„Agenten“ abgefangen und für die eigene Sache rekrutiert. Sie erhalten eine radikale ideologische Ausbildung und diejenigen, die für angemessen befunden werden, werden nach Syrien geschleust, um militärisches Training an der Waffe oder als Attentäter zu erhalten. Genau so ist der Werdegang von Ercan Çapkın: der ist eigentlich ein normaler werktätiger Jugendlicher, der irgendwann einer moderaten religiösen Gemeinschaft in seinem Viertel Güzelvadi beitritt. Er radikalisiert sich zunehmend und wird vom IS rekrutiert. Danach fährt er jeden Tag nach Karşıyaka, wo der IS eigene Stellen unterhält, und erhält dort eine Ausbildung.

Der IS in Antep, böses Blut und das Gewährenlassen des Staates

Gaziantep – vor allem die kurdischen Viertel – ist ein wichtiges Zentrum des IS in der Türkei und zwar schon seit Langem. Von hier aus organisiert der IS den Verkauf von Schmuggelware (wie Tabak und jezidische Sexsklavinnen) aber auch von Waren, die der IS in den von ihm beherrschten Gebieten herstellt. Wichtiger als das ist aber, dass die Antep-Fraktion des IS den gesamten Militantenverkehr aus aller Welt und aus der Türkei nach Syrien organisiert sowie die Türkeiaktivitäten des IS plant und koordiniert.1 Der IS-Militante Savaş Yıldız (Codename Ebu Cihad) organisierte von hier aus die Anschläge auf die HDP-Büros in Mersin und Adana vor den Wahlen am 7. Juni und bereitete später Şeyh Abdurrahman Alagöz auf das Suruç-Attentat vom 20. Juli 2015 vor. Bis zum Sommer 2015 fungieren Elbeyli bei Kilis und Akçakale bei Şanlıurfa als Hauptübergangspunkte des IS in Richtung Rojava/Syrien, was umfassend mit Bild- und Videomaterial dokumentiert wurde. Nicht umsonst behauptete Yıldız später in YPG-Gefangenschaft, dass Gaziantep für den IS genau so wichtig sei wie Rakka.2 Jeder kennt mittlerweile wohl auch das Video vom November 2015, das einen IS-Konvoi inmitten von Gaziantep zeigt, der das Massaker im Bataclan abfeiert.3 Und dass vonseiten des Staates nichts unternommen wurde, um diese morbide Feierei zu unterbinden oder die betreffenden Personen zur Verantwortung zu ziehen.

Ercan Çapkın, damaliger IS-Verantwortlicher in Gaziantep, und andere IS-Militante werden am 1. April 2016 festgenommen.

Ercan Çapkın, damaliger IS-Verantwortlicher in Gaziantep, und andere IS-Militante werden am 1. April 2016 festgenommen.

Etwas härter geht der türkische Staat mittlerweile schon vor und zwar seitdem er sich dem internationalen Druck beugen musste und im Juni 2015 die Incirlik-Luftwaffenbasis für die USA und die Koalition öffnete. Der IS kann sich seitdem nicht mehr so frei bewegen wie früher. Wie du mir, so ich dir, lautete in Reaktion die Devise des IS: Bekanntermaßen häufen sich seit dem letzten Sommer die Selbstmordanschläge des IS innerhalb der Türkei. Der türkische Staat hingegen lässt mittlerweile auch in Gaziantep gezielt manche IS-Zellen und -Lager auffliegen: Am 14. November 2015 sprengte sich der Fahrer der beiden Ankara-Attentäter, Halil Ibrahim Durgun, bei einer Polizeirazzia in die Luft.4 Zahlreiche Waffen- und Munitionslager des IS in Gaziantep, insbesondere im Viertel Değirmiçem, mit Tonnen von Sprengstoff wurden ausgehoben.5 Der Angriff auf das Polizeihauptquartier in Gaziantep am 1. Mai 2016 war also eine Warnung seitens des IS an den Staat (der Geheimdienst hatte übrigens die betreffenden Behörden 5 Tage vor dem Anschlag gewarnt und nannte sogar den Namen des Attentäters, Ismail Güneş).6 Kurz daraufhin wiederum flog der „Emir“ des IS in Gaziantep, Yunus Durmaz, auf und sprengte sich während einer Polizeirazzia am 19. Mai 2016 selbst in die Luft.7 Ein paar Tage später sprengte sich ein anderer IS-Militanter im Viertel Gazikent wiederum während einer Polizeirazzia in die Luft.8 Und so weiter, und so fort.

Gemessen jedoch am Wissen des Staates und dem daraus folgenden Aktionspotenzial in betreffs des IS ist das eigentlich nur Augenwischerei, was der Staat da betreibt. Das Ausmaß der Organisation des IS in Gaziantep, Namen, Organisationsstrukturen, Anschlagspläne – all das ist dem Staat schon seit langem bekannt, wie aus offiziellen und geleakten Dokumenten hervorgeht.

So veröffentlichte zum Beispiel der türkische Journalist Ismail Saymaz im April 2016 ein als geheim klassifiziertes Dokument des Nachrichtendienstpräsidiums des Polizeigeneraldirektorats vom 21. September 2015 an die Nachrichtendienstabteilungen von 50 Provinzen.9 Das Dokument weist darauf hin, dass die relevanten Informationen aus einer Note des Nationalen Geheimdienstes MIT vom 7. September 2015 stammen. Im Dokument wird die Zahl der von jihadistisch-salafistischer Ideologie beeinflussten Menschen in der Türkei auf bis zu 20.000 geschätzt – ein Umfang, den es sonst nur in Tunesien, Saudi Arabien und Jordanien gäbe. Während der Bericht darauf hinweist, dass diese Ansammlung mittlerweile eine ernste Gefahr für die Türkei darstellt, wird geurteilt, dass die Zersplitterung der Jihadisten in viele einzelne sektiererische Gemeinschaften die Effektivität derselben reduziere. 70% seien dem IS, 30% der al-Nusra Front zuzuordnen. Seit April 2011 seien schon 2750 türkische Salafisten nach Syrien zum Kämpfen gegangen. Viele deshalb, weil sie sich Geld, Macht, Frauen und andere Dinge erhofften. 1211 befänden sich immer noch dort, während schon 457 türkische Jihadisten gefallen seien. Aus Gaziantep hätten sich bisher 143 Jihadisten dem Kampf angeschlossen, was noch recht moderat sei im Vergleich zum Ranglistenersten, Konya (629).

Die Arschkrampe Ilhami Balı und sein Spastenverein.

Ilhami Balı und seine Mörderbande.

Aus dem Bericht geht etwas Erstaunliches hervor: Nämlich dass Ibrahim Balı (Codename Ebu Bekir), der türkeiverantwortliche „Emir“ des IS und Gründer der Antep-Fraktion des IS, seit 2012 auf Schritt und Tritt von den Sicherheitsdiensten abgehört und verfolgt wird. Noch während er illegale Grenzübertritte über Kilis-Elbeyli organisiert, wird er abgehört. Der Bericht schätzt, dass allein Balı 1000 Menschen über die Grenze geschmuggelt habe. Von ihm weiß der Geheimdienst, dass er in Rakka die Suruç- und Ankara-Attentäter Abdurrahman und Yunus Emre Alagöz ausgebildet und nach Adıyaman zurückgeschleust hat. Auch diese Attentate wurden über Antep koordiniert, nämlich vom Emir des IS in Gaziantep, Yunus Durmaz. 2012 hält sich Balı in Ankara auf, Beamte folgen ihm auf Schritt und Tritt und tun – nichts.

Auch offizielle und öffentliche Dokumente bestätigen diese Informationen. Ein öffentlicher Bericht des Geheimdienstes aus dem Jahre 201510 gibt an, dass 961 IS-Terroristen aus 57 unterschiedlichen Ländern im selben Jahr innerhalb der Türkei festgenommen wurden und weist darauf hin, dass Kilis-Elbeyli der Hauptübergangspunkt ist, an dem die Militanten nach Syrien rübergeschleust werden.

Viel mehr Informationen sind zudem seit den gerichtlichen Untersuchungen zum Bombenanschlag vom 10. Oktober 2015 in Ankara zutage getreten. So wurden in das Dossier Informationen aufgenommen, deren Sammlung das 9. Gericht für Schwerverbrechen in Ankara schon seit 17. November 2014 beantragt hatte.11 Abgehörte Gespräche von Ibrahim Balı, die die Grundlage dieser Informationen bilden, bestätigen, dass die Antep-Fraktion die Militanten zu ihm vermittelt und er sie über Kilis-Elbeyli nach Syrien schmuggelt. Aus denselben Gesprächen geht hervor, dass der IS zahlreiche Vereinbarungen insbesondere mit Privatkrankenhäusern in Antep hat zur Behandlung der Verwundeten. Sogar der Name eines der ideologischen Hauptausbilder des IS in Antep, Erman Ekici (Codename Ebu Talha), ist bekannt.

Yunus Durmaz, ehemaliger Emir des IS in Gaziantep, sprengte sich

Yunus Durmaz, ehemaliger Emir des IS in Gaziantep, tat der Menschheit einen Gefallen und sprengte sich selbst am 19. Mai 2016 während einer Polizeirazzia in die Luft.

Noch ganze 3 Monate vor dem Anschlag in Gaziantep, im Mai 2016, erhalten die Sicherheitskräfte eindeutige Informationen zum IS in Antep und bevorstehenden Anschlägen. Yunus Durmaz, der oben erwähnte Emir des IS in Antep, fliegt auf und sprengt sich am 19. Mai 2016 während einer Polizeirazzia in Antep in die Luft. Auf seinem Computer entdeckt die Polizei den Emailverkehr von Durmaz mit Balı12, in der er davon redet, dass er 400 Militante in Antep ausgebildet habe, wovon schon 150 auf der Gehaltsliste des IS stünden und bereit seien, die Stadt „zu übernehmen“. Zusätzlich fragt er Balı um Erlaubnis, eine Reihe von Selbstmordanschlägen durchführen zu dürfen. Als Ziele nennt er touristische Orte wie Nachtclubs in Antalya und Orte, wo sich viele US-amerikanische und französische Staatsbürger in der Türkei aufhalten. Er kündigt ebenfalls an, dass er Anschläge auf kurdische Hochzeiten in Antep plane, weil sich dort immer viele PKK’ler befinden würden. Von Anschlägen auf türkische Polizist*innen und Militärs rät er ab. Das würde die Tätigkeit des IS in der Türkei negativ beeinflussen.

Wie auch bei den Anschlägen in Suruç und Ankara sind die jeweiligen Sicherheitsbehörden der Türkei also auch was den Anschlag in Gaziantep angeht frühzeitig, eindeutig und umfassend informiert gewesen. Dass dieser Anschlag und alle anderen zuvor dennoch nicht verhindert wurden, lässt sich auf Grund der Tatsachen kaum mehr als Behördenversagen bezeichnen sondern im besten Fall als bewusstes Gewährenlassen. Krieg und Terror sind bekanntermaßen Formen, in denen sich Politik mit anderen Mitteln fortsetzen lässt.

  • Von Alp Kayserilioğlu

 

Schreibe einen Kommentar Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert