Silopi in Trümmern

26. Januar 2016

Ganze drei Tage haben wir gebraucht, um es endlich in die mehrheitlich kurdische Stadt Silopi im Südosten der Türkei bzw. in Nordkurdistan zu schaffen. Silopi gehört zu denjenigen Städten, über die im Rahmen des derzeitigen Krieges des türkischen Staates gegen die kurdische Bewegung und Bevölkerung eine Ausgangssperre verhängt wurde. Das Wort “Ausgangssperre” ist in diesem Rahmen natürlich ein Euphemismus; treffender beschreibt das Wort “Belagerung” das, was in diesen Städten passierte: teils ganze Städte wurden von Polizei, Gendarmerie, Armee und Kommandos belagert, niemand konnte auf die Straße, Zivilisten hatten kein Zugang mehr zu Wasser, Strom, Lebensmitteln und der Staat schoss rücksichtslos mit schwerer Artillerie in Wohngebiete.

Der unendliche Weg nach Silopi

In Silopi wurde die totale Ausgangssperre am 14. Dezember 2015 verhängt und am 19. Januar 2016 in eine partielle umgewandelt, sprich täglich von morgens 5 bis abends 18 Uhr ist die Ausgangssperre aufgehoben, nachts wird sie wieder verhängt. Gefechte gibt es keine mehr, die kurdischen Kräfte haben sich zurückgezogen. Mehrere Leute, mit denen wir reden, meinen, dass die kurdischen Kräfte erfolgreich vom türkischen Staat infiltriert wurden, was dazu führte, dass Minen an strategisch wichtigen Punkten nicht in die Luft gingen und Viertel um Viertel schnell verloren wurden.

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Zwar gibt es keine Gefechte mehr und es gilt nur mehr eine partielle Ausgangssperre; Polizei und Armee sind aber dennoch überall präsent und erschweren massiv unabhängige journalistische Arbeit. Mehrere willkürliche Festnahmen und Schikanen sind uns bekannt geworden. Auch wir wurden mal wieder von einer Polizeieinheit im gepanzerten Akrep angehalten und nach unserer Erlaubnis vom Provinzgoverneur gefragt – die wir natürlich nicht hatten, welcher Governeur stellt uns schon irgendne Erlaubnis aus? Und wozu bitteschön sollen wir uns das denn zulegen? Wir können im Grunde problemlos nachweisen, dass wir Journalisten sind, die im Auftrag für Agenturen oder Zeitungen arbeiten. Aber internationaler Presseausweis oder so gilt im gesamten Gebiet nicht viel. Immerhin hatten wir diesmal Glück und wurden nicht wieder inhaftiert, sondern nur darauf verwiesen, dass uns das bei der nächsten Streife passieren könnte. Bei der nächsten Militärpatroullie sind wir dann auch brav durch die Seitengassen gehuscht, um uns den Spaß zu ersparen.

Den hatten nämlich auf unserer Reise in der Region schon zu Genüge, zuletzt auf dem Weg nach Silopi. Wie gesagt, wir haben ganze drei Tage nach Silopi gebraucht. Das liegt daran, dass fast alle Wege nach Silopi über Cizre führen. Cizre und das Altstadtviertel Sur in Diyarbakir sind die beiden strategischen Orte, an dem sich der derzeitige Krieg entscheidet. An diesen Orten ist der kurdische Widerstand am Besten und Professionellsten organisiert, an diesen Orten lässt die Armee alles aufmarschiert, was sie zu bieten. Nur die Luftwaffe fehlt (noch).

CIA? FBI? Oder vielleicht doch der BND?

Und weil Cizre so entscheidend ist in diesem Krieg, ist die Stadt weitläufig abgeriegelt, alle Straßen sind abgesperrt. Am ersten Tag der Aufhebung der absoluten Ausgangssperre möchte niemand nach Silopi fahren, nicht für alles Geld auf Erden. Am zweiten Tag können wir endlich einen Taxifahrer überzeugen. Als wir mit ihm versuchen von Idil nach Silopi zu fahren, verheddern wir uns in einer ewig langen Schlange am Kontrollpunkt ein paar Kilometer von Cizre entfernt. Auf den Hügeln um uns herum sind Panzer stationiert, das schwere Geschützfeuer dominiert Himmel und Erde. Wir müssen zurück und versuchen es über einen Umweg über Dargecit. Dummerweise gibt es ab Dargecit keine Transportmöglichkeiten mehr. Während wir noch überlegen, wie es jetzt weitergehen soll, lädt uns die nächstbeste Polizeistreife zu einem längeren Kaffeeklatsch in der Polizeiwache ein. Wirklich jeder Scheiß Gegenstand, den wir mit uns herumtragen, wird abgeklopft. Absurd wird`s dann bei meiner Schuhcrème: “Was ist das? Wozu ist die gut?”Die Kamera, USB-Sticks und Festplatte unseres Kameramannes werden sowieso komplett durchgeleuchtet. Dabei bilden die Polizisten einen Pool um den PC und blicken gefesselt auf die Bilder von Barrikaden: “Mann, das ist echt solide gebaut. So eine Barrikade kriegt nur ein Panzer kaputt.”

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Und weil das allen so viel Spaß macht, laden sie gleich noch den Kollegen Vorgesetzten von der Antiterroreinheit ein, der ein ziemlich übler Zeitgenosse ist und über `ne halbe Stunde lang im Kreuzverhör versucht herauszufinden, für welchen Geheimdienst oder für welche Organisation wir arbeiten. Es ist müßig, ihm zu erklären, dass wir Journalisten auf eigene Faust sind, weil er das für unglaublich unwahrscheinlich hält. Am allerunglaubwürdigsten findet er jedoch, dass ich bei meiner Arbeit so gut wie kein Geld verdiene. “Schau mal, ich bin Beamter. Warum wird man Beamter? Erstens wegen Vaterlandsliebe und zweitens des Geldes wegen. Und, um ehrlich zu sein, der zweite Grund ist ausschlagebender für mich.” Eifrig eilt ein anderer Polizist herbei: “Vaterlandsliebe in allen Ehren aber damit lassen sich ja auch keine Schulden abbezahlen.” Das verschlägt mir schon ein wenig die Sprache: da wird ein unglaublich brutaler Krieg seitens des türkischen Staates entfesselt angeblich um der Einheit der Nation willen und gegen den “Terrorismus der Spalter” und ich muss mir im harten Kreuzverhör vom Antiterrorspezialisten anhören, dass ihm, “um ehrlich zu sein”, das Geld wichtiger ist.

Jedenfalls wird natürlich auch der Antiterrorspezialist nicht fündig, weil wir uns natürlich nicht im Namen eines Geheimdienstes oder einer Organisation vor Ort befinden. Daraufhin nehmen sie zum zweiten Mal mein journalistisches Notizbuch mit und lassen es von einer Deutschlehrerin übersetzen und überprüfen auf kriminelle Inhalte. Nach knapp 5-6 Stunden Untersuchungshaft heißt es dann: nichts gefunden, was auf kriminelle Inhalte deutet, nur journalistische Inhalte. Ach!

Am nächsten, dritten Tag schaffen wir es dann endlich: wir nehmen einen großen Umweg über Batman, Siirt und Sirnak. Ab Sirnak fährt der Minibus über Stock, Stein und Berge, um sich nicht an den Hauptkontrollpunkten nach Cizre zu verheddern, und muss nur an einer Reihe eher sekundärer Militärkontrollpunkte vorbei. Die haben offensichtlich weitaus weniger Lust auf Kontrolle und Kaffeeklatsch wie die Polizei und winken uns oft einfach durch. Und dann sind wir endlich in Silopi.

Das zerstörte Silopi

Die Zerstörungen, die der Krieg hinterlassen hat, sind enorm. In 8 von 11 Vierteln Silopis herrschten heftige Gefechte. Da der Staat schwere Artillerie und die Verteidiger Minen einsetzten, wurde das gesamte Wasserleitungssystem zerstört, das Hauptversorgungsrohr platzte. Strom gibt es in weiten Teilen immer noch nicht, weil ein Großteil der Strommasten und -käbel teils ganz gezielt zerstört wurde. Laut Angaben des Co-Präsidenten der Stadtverwaltung, Seyfettin Aydemir, schafft es die Stadt mittlerweile mit Lastern und Feuerwehrwägen wieder Wasser in zwei der acht heftig umkämpften Viertel zu liefern, was bei Weitem nicht genug sei. Die Co-Präsidentin Emine Esmer erzählt uns, dass sie als Stadt eine Kommission zur genauen Schadensfeststellung gegründet haben, die derzeit ihre Arbeit aufnimmt. Zusätzlich erwähnt sie, dass Techniker von Ankara geschickt wurden, um sich über die Schäden am Wasserverteilungssystem zu informieren, selbst aber nicht wussten, was nun geschehen soll. Die Stadtverwaltung jedenfalls wird sicher nicht in der Lage sein, all diese Zerstörung zu beheben und die Stadt wieder aufzubauen. Dafür sind die Ausmaße der Zerstörung einfach viel zu heftig.

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Auch das Gebäude der Stadtverwaltung ist verwüstet. Mit den ersten Tagen der Ausgangssperre wurde das Gebäude seitens der Sicherheitskräfte regelrecht besetzt und in ein Hauptquartier sowie eine Scharfschützenstellung verwandelt; die Stadtverwaltung und ihre Angestellten konnten erst ab dem 19. Januar wieder in ihre Räume einziehen. Sie fanden Chaos und Zerstörung vor: Türen waren rausgerissen, Akten überall über den Boden zersteuert, Fenster zerschlagen und private Sachen wie Geld und Gold geklaut. Uhren, Medaillen und Poster, die sich auf die kurdische Kultur oder den kurdischen Widerstand beziehen, wurden gezielt zerstört. Die Sicherheitskräfte hinterließen zudem überall Notizzettel mit den übelsten Beleidigungen à la “Ich stopf dich zurück in die Fotze der Mutter, aus der du herausgekrochen bist, armenischer Hurensohn”. Vielleicht ist das ja das, was diese Leute unter derjenigen “Vaterlandsliebe” verstehen, von der uns der Antiterrorspezialist in Dargecit erzählte.

Diejenigen Viertel, in denen die schwersten Gefechte stattfanden, sind Zap, Basak und Barbaros. Am ersten Tag kamen wir spät an und konnten uns nur ein wenig das Viertel Cudi anschauen, bevor es wieder dunkel wurde und die Ausgangssperre wieder in Kraft trat. Als wir dem Co-Präsidenten Seyfettin Aydemir und der Co-Präsidentin Emine Esmer erzählen, wie sehr uns die Zerstörung im Viertel Cudi schockierte, lachen die nur kurz bitter: “Cudi? Im Vergleich zu Zap, Basak und Barbaros ist das gar nichts.”

Ruinenlandschaften

Sie haben recht: In Basak, Barbaros, Zap gibt es kein Gebäude, das nicht Gefechtsspuren aufweist. In Zap weist fast jedes Haus Granaten- oder Bombenbeschuss auf, teils sind ganze Häuser zusammengebrochen, oft die Seite eines ganzen Stockwerkes kaputtgeschossen. Überall liegen noch leere Patronen- und Granathülsen herum, es sind immer noch viele Minen und Sprengfallen nicht entschärft. Noch während wir uns die Viertel anschauen, knallt es ordentlich in der Nähe und wir zucken zusammen. Unser Führer zuckt nur locker mit den Schultern: “Wird wohl `ne Mine gewesen sein. Oder ein Panzer.”

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Inmitten dieses Trümmerfeldes treffen wir Idris, einen Absolventen der Soziologie. Zwischen Ruinen und Granatenhülsen unterhalten wir uns über Karl Marx. Wir schauen uns das Haus seiner Familie an, eines der wenigen zweistöckigen Häuser im Viertel Zap. Es ist komplett kaputtgeschossen und unbewohnbar. Auch er erzählt uns, wie er Glück hatte: am Tag zuvor habe ihn sein Nachbar gerufen, damit sie gemeinsam sein ebenfalls zerstörtes Haus begehen. Kaum machen sie die Tür auf, geht eine Booby-Falle in die Luft. Sie haben Glück: Ihnen ist nichts passiert. Etwas mulmig wird mir bei den ganzen Stories von nach wie vor in die Luft gehenden Minen, Granaten und Booby-Fallen schon.

Die BewohnerInnen der Viertel, mit denen wir reden, haben jedenfalls eine sehr klare Einstellung zum türkischen Staat: für sie ist er an allen Zerstörungen schuld.

Ein Hausbesitzer zeigt auf Einschlagslöcher von schwerer Artillerie und die ganzen leeren Patronen- und Granathülsen in seiner Wohnung und meint: “Hat die PKK denn solche Waffen? Es ist doch klar, dass das der Staat war!” Wir können eine ähnliche Szenerie an einer anderen Ruine beobachten. Eine alte Frau, deren Haus kaputtgeschossen wurde, kann uns noch nicht einordnen und meint eher vorsichtig und zurückhaltend: “Wir wissen nicht, wer diese Zerstörungen angerichtet hat.” Daraufhin stürmt erzürnt eine andere Frau aus dem Viertel herbei: “Was heißt das, wir wüssten nicht wer das war? Das waren der Staat und seine IS-Söldner, das ist doch sonnenklar! Wie soll die PKK denn solche Zerstörungen anrichten können? Mit welchen Waffen denn? Und aus welchem Grund?” Teils wurden Wohnungen von den Sondereinsatzkräften während den Operationen als Unterkunft benutzt und danach ausgebrannt. Wir können das Haus einer Familie besichtigen, der sowas passiert ist. Mehrere Zimmer sind schwarz verkohlt, überall riecht es noch verkokelt. Auch die Matratzen, die die Einsatzkräfte zum Schlafen genutzt haben, haben sie beim Verlassen der Wohnung abgebrannt. Hier wird sicher nie wieder irgendjemand wohnen können.

Oft erzählen uns die BewohnerInnen dieser Viertel, dass sie über 20 Jahre gespart haben, um sich dieses eine Haus zu bauen. Die meisten davon sind jetzt nicht mehr bewohnbar und die Schäden so enorm, dass sich hier nichts mehr reparieren lässt. Was mit diesen Menschen passieren wird, ist unklar.

Bewohner der Viertel berichten davon, dass sie fliehen mussten, weil die Sicherheitskräfte damit gedroht haben, Chemiewaffen einzusetzen. Außerdem erwähnen sie, dass die Sicherheitskräfte während ihrer Angriffe laut den mehter marşı – die Kriegshymne der Janitscharen im Osmanischen Reich – über Lautsprecher liefen ließen und laut allahu akbar riefen, wenn eine Explosion ein Gebäude erschütterte. Sie haben angeblich oft auf Arabisch miteinander gesprochen. Ebenfalls berichten die BewohnerInnen davon, dass die Soldaten nachts ihren Sieg feiern und in die Luft schießen.

Warum all das geschah, fragen wir einen alten Mann. “Weil wir Kurden sind”, antwortet er. “Gott gab uns unsere Sprache und es ist der Staat, der sie uns verbietet.”
VonAlp Kayserilioğlu; alle Bilder von Sinan Targay

 

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Ein Kommentar über “Silopi in Trümmern”

    Heval Anonym 29. April 2016 - 4:33

    Ich war 5-6 monate bis zum beginn der Ausgangssperre in Silopi. Explosionen, Gefechte oder gezielt getötete Zivilisten wurden zum Alltag der Menschen…