Nach dem Bombenattentat von Sultanahmet ist die westliche Anteilnahme groß. Über den alltäglichen Staatsterror in der Türkei aber will man weiter schweigen.
Noch sind wir nicht im Kriegsgebiet. Noch sind wir nicht, in jenen Städten oder Vierteln wie Sur, Silopi, Cizre oder Nusaybin, in denen die kurdische Befreiungsbewegung die „demokratische Autonomie“ ausgerufen hat und deshalb nun mit einem brutalen Feldzug bestraft wird. Noch sind wir in Istanbul. Und doch, wir sagen es unumwunden, haben wir Angst.
Und diese Angst, dieses einen permanent begleitende Gefühl, Zielscheibe zu sein, haben wir nicht erst, seitdem ein Selbstmordattentäter (so die bisherige offizielle Version) gestern im touristischen Zentrum der Stadt zehn Menschen in den Tod riss. Diese Angst haben wir seit langem, eigentlich jedes Mal, wenn wir die Türkei bereisen.
Warum haben wir Angst? Weil wir die Augen nicht verschließen vor dem, was hier geschieht. Weil wir mit den Müttern, Vätern, Geschwistern, Freunden und Gefährten von Menschen wie Dilek Dogan, Hasan Ferit Gedik, Berkin Elvan oder Bedrettin Akdeniz sprechen. Weil wir mit Überlebenden der Attentate von Suruc und Ankara sprechen. Und weil wir mit Menschen sprechen, die im Südosten der Türkei leben, in jenem Gebiet, in dem ein Menschenleben, wenn es staatlich beendet wird, nicht einmal eine Erwähnung in überregionalen Medien wert ist.
Weil wir die Augen nicht verschließen, wissen wir, dass es in jenen Armenvierteln, deren Namen in westlichen Medien nie fallen, ein Glücksspiel ist, wenn du an einem Wasserwerfer oder einem Akrep vorbeigehst. Schießt er auf dich? Tut er es nicht? Nehmen sie dich mit? Und wir wissen, dass es an Orten wie Sur oder Silopi, wo Scharfschützen auf den Dächern lauern, einfach aus sein kann.
Ohne Vorwarnung. Noch sind wir nicht da. Und doch haben wir aus den Gesprächen, die wir mit Kurdinnen und Kurden geführt haben, schon dieses mulmige Gefühl.
Als wir mit einem Freund, der gerade aus Amed (Diyarbakir) zurückgekehrt war, zusammen sitzen und die Karten von Sur diskutieren, sagt er, mit ruhigem aber besorgtem Gesichtsausdruck: Ich hoffe, es wird keinen Zwischenfall geben.
Er meint die Scharfschützen, die Killerkommandos, die in den Gebieten mit Ausgangssperre eingesetzt sind. Wie sie auf Ausländer reagieren werden, könne er im Moment nicht sagen. Es ist nur ein Satz: Ich hoffe, es wird keinen Zwischenfall geben. Aber er erinnert einen daran, dass das hier doch etwas anderes ist. Klar, wir sind Riots gewöhnt, Tränengas, Pfefferspray und Schläge. Aber zu wissen, dass man durch Straßen gehen wird, in denen einem die kalten Blicke der Sniper folgen, die von der Regierung mit der Zusicherung von Straffreiheit ermutigt wurden, ruhig öfter mal den Finger krumm zu machen, ist ein anderes Gefühl.
Wie heißt es aber nun, wenn eine Regierung eine Politik betreibt, die darauf abzielt, genau dieses Gefühl der Unsicherheit bei ihren Gegnern hervorzurufen. Es ist Terror. Er unterscheidet sich kaum von jenem, der nun die Touristen in Sultanahmet traf.
Allein, er hat eine andere Zielgruppe. Der Krieg, den die Regierung Recep Tayyip Erdogans und Ahmet Davutoglus führt, ist nicht allein einer gegen die KurdInnen. Es ist einer gegen die gesamte Linke, gegen alle, die sich nicht beugen und gehorchen, gegen die Dissidenten, gegen die, die nicht mitmachen wollen. Die kurdische Befreiungsbewegungen mit all ihren legalen wie illegalen Organisationen, von PKK über YDG-H bis zur HDP, sind in diesem Krieg das dringendste Angriffsziel aus Sicht der herrschenden Klasse: „Kurdistan ist gerade die letzte Front. Wenn dort der Widerstand aufhören sollte, dann ist auch hier nichts mehr zu gewinnen“, sagt eine Genossin. „Es ist beschämend. Wir sitzen hier, an sicheren Orten, und müssen uns eingestehen, dass die Kurdinnen und Kurden dort auch unseren Kampf mitkämpfen.“
Das sagt ausgerechnet sie, denke ich mir. Eine Genossin, die unter großer persönlicher Aufopferung seit vielen, vielen Jahren nahezu all ihre Lebenszeit dem Kampf um ein besseres Leben gewidmet hat. Was müssten wir uns in Europa, speziell in Deutschland eigentlich schämen. Wir, die wir uns in noch viel gemütlichere Lebensumstände geworfen finden, und deren Staat keinen kleinen Anteil daran hat, dass der hiesige Staat so ungestört morden kann.
Nicht mit der Scham, aber mit der These hat sie allerdings recht. Die Regierung in Ankara hat bereits Dokumente veröffentlicht, in denen es ganz offen zu lesen ist: Wenn der Südosten „gesäubert“ (das steht da wirklich) ist, dann soll es jenen Stadtteilen an den Kragen gehen, die in den türkischen Metropolen, vor allem Istanbul, noch Widerstand leisten: Okmeydani, Gazi, Gülsüyü und so weiter.
Schon jetzt hat das Vorgehen des Staates in Bakur, im türkischen Teil Kurdistans, klare Auswirkungen auf die Opposition im Westen der Türkei. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Die kompromisslose Brutalität, mit der die Sicherheitskräfte, gedeckt und ermutigt durch ihre politischen Führer, vorgehen, lässt viele verzweifeln. Vor allem jener Teil der urbanen, oft gebildeten Jugend, der zu Gezi-Zeiten mitrebellierte, findet keine Antworten mehr. Anders als die Revolutionäre der verschiedenen illegalen Organisationen, für die Repression, Knast und Tod ohnehin ständige Wegbegleiter waren, kehrt in diesem Milieu die Angst zurück. Und das ist keineswegs verwunderlich.
Wenn nun westliche Medien sich in Superlativen ergehen und behaupten, nun sei „der Terror in die Türkei gekommen“, möchte man sie fragen: Habt ihr geschlafen, als in Suruc 32 junge SozialistInnen von einem Sprengsatz zerfetzt wurden? Hattet ihr Urlaub, als in Ankara 102 Menschen während einer Friedensdemonstration ihr Leben ließen? Und wo seid ihr jetzt, da jeden einzelnen Tag in Kurdistan gemordet wird, mit Panzern, mit Scharfschützengewehren, mit Granaten?
Was wenn nicht „Terror“ ist das, was in Ankara, Suruc, Silopi – jedes Mal unter deutlicher Mitwirkung des Staates – geschah? Schon nach den Bombenangriffen von Suruc und Ankara, bei denen nahezu alle hier eine Mittäterschaft des Staates vermuten, wurden Massenveranstaltungen, Kundgebungen, alle größeren Zusammenkünfte zum Nervenkrieg: „Alle haben plötzlich immer nach oben geschaut, auf die Dächer, ob man Scharfschützen sieht. Oder zur Seite, ob man einen Verdächtigen sieht, der sich in die Luft jagen könnte“, erzählt eine Genossin.
Mit der „Anti-Terror-Operation“, wie beschönigend die Säuberung der kurdischen Gebiete genannt wird, verschlechterte sich die Situation erneut. Es vergeht kein Tag, oft nicht einmal eine Stunde, in der man nicht hört, es sei jemand erschossen worden, entführt, verhaftet, angeklagt. Fälle wie der in Van, wo Spezialeinheiten der Polizei 12 Jugendliche töteten, elf davon durch Kopfschüsse, verfehlen ihre Wirkung nicht. Der Staat will zeigen: Das kann euch auch passieren.
Beeindruckend allerdings ist die Reaktion mancher Menschen auf diese Situation permanenter Bedrohung. Sicher, viele resignieren. Andere werden zynisch. Viele aber auch überwinden die Furcht.
„Es ist unheimlich, mit welcher Ruhe die Kurden sich an diese Lage gewöhnt haben. Sie begegnen ihr als einer Tatsache, die einfach da ist“, erzählt ein Genosse. „Sie sagen sich: Diesen Gefallen, auch noch Angst zu haben, tun wir ihnen nicht.“ Wer sich an dieser Reaktion ein Beispiel nimmt, kann gegen den Terror nicht verlieren.
– Von Peter Schaber
Götz 21. Januar 2016 - 13:08
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Danke!