Tumbleweed in Spreetown: Über die Mobilisierungsschwäche der Hauptstadtlinken und wie ihr beizukommen wäre.
Mittwoch, 11. November: Die Bundeswehr ruft zum großen Zapfenstreich. 60 Jahre alt ist sie nun, die Armee, die aus den Überresten faschistischer Militäreliten zusammengezimmert wurde, und die sich heute mitten in ihrem Umbau von einer angeblichen „Verteidigungsarmee“ zu einer global einsetzbaren Interventionsarmee befindet. AntimilitaristInnen veranstalten eine Gegendemo, mobilisieren über Wochen, inklusive guter Texte und militanter Aktionen. Am Ende kommen 300 Leute. Zieht man in Betracht, dass die gesamte Linke, von parlamentarisch bis autonom, die Ausblendung von „Fluchtursachen“ in der gegenwärtigen Debatte bemängelt, ist das erstaunlich wenig.
Was ist passiert? Nun könnte man sagen: Ja, die Hauptstadt-Linke ist derzeit zu beschäftigt damit, sich gegen AfD-Aufmärsche, Bärgida, NPD & Co. zu wehren. Diese Schwerpunktsetzung wäre zu kritisieren, aber es wäre immerhin eine Schwerpunktsetzung. Doch auch hier gähnende Leere: Bärgida gibt’s immer noch, massenhaft blockiert wird es nicht. Gegen 5000 AfD-Mitglieder und SympathisantInnen finden gerade 1500 Menschen den Weg auf die Straße.
So weit, so gut. Wir hatten ja eine lange und interessante Antifa-Debatte zwischen vielen Zusammenhängen und Gruppen. Die hat festgestellt: Wir müssen in die Kieze, dahin, wo das Leben konkret ist, und eine Basisbewegung dort aufbauen, wo diejenigen sind, mit denen wir kämpfen wollen. Haben also alle diese Diskussionsergebnisse ernstgenommen, sind massenhaft zu den Aktionen von Zwangsräumung verhindern, Hände weg vom Wedding, Social Center 4 All oder vors Lageso, um da die mühevolle Kleinarbeit zu leisten, die wir seit langem alle zusammen für zumindest nicht falsch halten? Nö, auch hier weht das Tumbleweed durchs Bild.
Der Eindruck, die Hauptstadtlinke befinde sich inmitten einer zugespitzten Situation in einer veritablen Mobilisierungskrise, lässt sich kaum wegreden. Zeit, sich zu fragen, woran es liegt.
Hör ma uff mit deine Demo
Der erste Gedanke, den man haben könnte, ist, dass es sich um ein Erschöpfungsphänomen handelt. Es gibt zu viele Baustellen, wer versucht, an allen mitzuhämmern, powert aus und kommt irgendwann nicht mehr. Man wird ohne empirische Nachprüfung sicher nicht falsch liegen, wenn man sagt, dass in Berlin mehr Demonstrationen, Kundgebungen, Veranstaltungen stattfinden, als in jeder anderen Stadt Deutschlands. Und man wird sicher nicht fehlgehen, wenn man spekuliert, dass sie immer schlechter und schlechter besucht werden.
Probieren wir uns an einem – zugegeben nicht sehr präzisen, aber doch anschaulichen – Zahlenspiel. Für 2014 meldete der Senat insgesamt 5000 Demonstrationen und Kundgebungen in Berlin. Das sind nicht nur linke, aber sicher überwiegend linke Dinger. Seien wir bescheiden und nehmen an, die Hälfte davon sind von „uns“ im allerweitesten Sinn. Dann rechnen wir aber noch die sicher über tausend Soli-Parties und pauschal nochmal tausend Diskussionsveranstaltungen drauf. 4000 Möglichkeiten hat also der Berliner Otto-Normal-Linksradikale im Jahr, sich irgendwo zu beteiligen. Das sind etwa 11 Dinger täglich. Bei den Organisierten kann man dann nochmal die unzähligen internen Sitzungen, Bündnistreffen, Plena, Plakatiertouren, dies das, draufschlagen.
Die schiere Masse an Kram erschlägt einen. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich vor sieben Jahren frisch zugezogen und voller Frohmut versuchte, an allem, was es so gab, teilzunehmen. Diese Phase dauerte drei Wochen. Danach wurde es immer weniger, Tendenz gegen Null. Die Motivation, an etwas teilzunehmen, hängt auch von der Erwartungshaltung ab, die man an die Aktion hat. Will ich Bärgida blockieren, gehe aber davon aus, dass die dafür nötige Masse ohnehin nicht zusammenkommt, werde ich auch selbst weniger geneigt sein, da aufzutauchen, weil ich den Zweck des Hingehens von vornherein als nicht realistisch einschätze. Mobilisierungsschwäche produziert also aus sich selbst heraus noch mehr Mobilisierungsschwäche.
Ein erster Schritt gegen das Tumbleweed auf Berlins Straßen könnte also sein: Weniger Demonstrationen. Viele der Demos, die es gibt, erfüllen ohnehin keinen realen Zweck. Es wäre mehr zu gewichten: Wozu brauchen wir diese konkrete Demonstration. Machen wir sie nur, weil wir das Gefühl haben, zu einem bestimmten Thema irgendwas machen zu müssen und es an besseren Ideen mangelt?
Bei den Demonstrationen, die man dann tatsächlich veranstaltet, sollte man vielleicht wieder anfangen, sie unter verschiedenen Strukturen zu koordinieren, anstatt isoliert nebeneinander her zu arbeiten. Das klappt zwar bei einzelnen Projekten immer noch, in vielen Feldern ist aber zu beobachten, dass sich Organisation A nur noch sehr begrenzt dafür interessiert, was Organisation B oder C macht.
Vom Nullpunkt zum Aufbau von Gegenmacht
Die Überfülle an Kram ist allerdings ein relativ äußerlicher Grund für die Mobilisierungsschwäche. Sie wäre ja durchaus zu bewältigen, hätte man einen höheren Organisierungsgrad, mehr tatsächlich politische Aktivisten und einen einigermaßen tragfähigen strategischen Plan.
Was wir im Moment beobachten, ist die empirische Entfaltung eines Satzes, den wir so oft geschrieben haben, dass er uns selber schon zum Hals raushängt: Eine Szene ist keine politische Bewegung. Sie ist das Gegenteil einer politischen Bewegung. Wir fangen an einem Nullpunkt an. Nicht ganz, zugegeben, aber doch fast. Die Sammlung des Vorhandenen zu handlungsfähigen Gruppen ist der erste Schritt, die Setzung von Prioritäten und er Abbau von aus der „Szene“ geerbten Kontaktängsten der nächste.
Gerade die Entwicklung von Kriterien für Prioritäten fällt uns im Moment offensichtlich schwer. Wir wollen überall, wo uns was nicht passt, irgendwas machen. Mit dem Effekt, dass es wirklich nur irgendwas ist, was wir machen. Mathematisch ist es eine einfache Rechnung. Die Hauptstadtlinke hat ein begrenztes Repertoire an zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen. Teilen sich die auf tausende unzusammenhängende Dinge auf, kommt nichts dabei rum.
Das Setzen von Prioritäten wird manchmal als schmerzhaft empfunden. Denn es bedeutet auch, dass es die ein oder andere Ansammlung von Neonazis geben wird, die unbegleitet sein wird. Es bedeutet, dass man das ein oder andere Thema nicht in Demonstrationen oder Kundgebungen verwurstet. Es ist das Eingeständnis, dass wir eben keine Massenbewegung sind, die überall sein kann. Das Ende der Simulation, so zu tun, als ob man die Größe hätte, alles Ungemach dieser Gesellschaft zu bekämpfen, ist aber gleichzeitig die einzige Möglichkeit, tatsächlich zu einer realen Bewegung zu werden.
Inhaltlich würde das bedeuten: Wir müssen jede Aktion, die wir durchführen, daraufhin abklopfen, ob sie unseren Organisierungsgrad steigert und zu realer Gegenmacht führt – im Kiez oder überregional. Tut sie das nicht, lässt man sie.
Mit wem wollen wir denn?
An eine weitere Maßgabe aus der Antifa-Debatte ist zu erinnern. „Wenn wir nicht in der Lage sind, im Alltag nützlich zu sein, für uns und all die anderen, die das, was hier läuft, satt haben, werden wir noch so fluffige theoretische Papierchen schreiben können, es wird uns keinen wirklichen Schritt weiter bringen“, schrieb die radikale linke berlin. Und die North East Antifa (NEA) ergänzte: „Wenn wir von falschem Bewusstsein sprechen, dann meinen wir nicht zuletzt auch den Habitus vieler Linksradikaler aus der antifaschistischen Subkultur, sich als politische Avantgarde zu verstehen. Doch die Vorstellung einer »Avantgarde« ohne gesellschaftliche Basis ist ein allzu lächerliches Gebilde.“
Das haben auch viele andere Gruppen so geschrieben. Umgesetzt wird es nicht. Im Gegenteil, in der Panik der aufholenden Rechtsbewegung, also des Erstarkens (oder auch nur lauter Werdens) von in der Gesellschaft vorhandenen rassistischen Ressentiments, hat sich der Szenereflex verfestigt, der besagt: Alle, die nicht so wie wir sind, sind im Grunde keine Gesprächspartner.
Uns fehlt die Geduld und Zurückhaltung, die wir eigentlich bräuchten. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrheit der Menschen, mit denen wir gemeinsam eine neue Gesellschaft aufbauen wollen, Gedanken hat, die wir nicht teilen. Wir haben gar keine andere Wahl, als sie zu überzeugen. Vom 8,50-Jobber, der sich über den GDL-Streik beschwert, über den Ken-Jebsen-Hörer, der sich von der Welt betrogen fühlt, bis zum Grünen-Mitglied, das Boris Palmer toll findet oder die muslimischen Jugendlichen, die in ihrer Religion ihr Heil suchen.
Um es nicht falsch zu verstehen: Das ist kein Plädoyer für mehr „Toleranz“ gegen diese Dummheiten. Es ist das Gegenteil. Es ist kein Plädoyer dafür, die eigene Position auch nur einen Milimeter aufzuweichen. Es ist das Gegenteil. Es ist die Forderung, ins Handgemenge mit jenen einzutreten, die von falschem Bewusstsein geleitet sind. In ein Handgemenge, das in seiner Breite mit einer nützlichen politischen Praxis und Argumenten geführt werden muss. Das ist auch kein Plädoyer dafür, die Rassisten, die jetzt allerortens in die Öffentlichkeit drängen, zu „verstehen“ und mit ihnen den „Dialog“ zu suchen. Es ist eher eines dafür, Menschen schon bevor sie in Versuchung sind, in den Rattenfängern ihre Interessensvertreter zu sehen, einen anderen Weg zu zeigen. Das wird anstrengend. Es wird weniger schön, als sich einzuigeln und mit Gleichgesinnten in der gemeinsamen Geheimsprache zu „diskutieren“. Es könnte auch „populistisch“ werden, in dem Sinne, in dem die Unidad Popular, die spanischen Anarchisten oder die italienischen Operaisten „populistisch“ waren.
Und doch: Reißen wir uns nicht bald am Riemen, bleibt nur Tumbleweed. Und Tumbleweed ist kein gutes Barrikadenmaterial.
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Kürzlich hat mir mein guter Freund und Genosse Onur aus Istanbul geschrieben. Einer seiner politischen Weggefährten, ein alter Gewerkschafter und Kommunist, ist bei dem Attentat von Ankara verstorben. Mein Freund erzählte mir: „Als ich als junger Revolutionär von 18 Jahren war, musste ich ohne direkte Anleitung durch meine Organisation organisatorische Arbeit in Ankra leisten. Meine Organisation hatte mir einige Kontakte vermittelt, einen zu einem Arbeiter, der seit langem Beziehungen zur Organisation hatte. Eigentlich war es so gedacht, dass ich die Zelle in Ankara leiten sollte, aber ich war 18, ein aufgeregter Revolutionär, der die Schule für die revolutionäre Arbeit aufgegeben hatte, und er war 39 und ein großartiger ruhiger Mann, der in jedem Milimeter der Stadt zuhause war und dort seit langem gearbeitet hatte.“ Von diesem großartigen Mann gab es viel zu lernen und Onur erzählte mir einige der Geschichten. Eine begab sich so: Einmal, als der Bauarbeiter und Kommunist dabei war, Arbeiter zu organisieren, wurde er von religiösen Kollegen angegriffen. „Du glaubst also an nichts?“ schrie ihn einer der religiösen Kollege an. „Doch“, antwortete er. „Ich glaube an dich.“
Von Peter Schaber
Teodor Webin 13. November 2015 - 13:39
Weitgehend d’accord. Aber: Wenn jemand die ganze Zeit vom „falschen Bewußtsein“ der anderen redet, heißt das dann nicht, dass er selber davon überzeugt ist, das „richtige Bewußtsein“ zu haben. Und dann fragt sich: Mit welcher Begründung?
Und selbst, wenn einem/einer noch bewußt ist, dass man das mit dem ‚falschen‘ und ‚richtigen‘ Bewußtsein in der politisch-sozialen Agitation nicht an die große Glocke hängt: Die Menschen, respektive die ArbeiterInnen, sind nicht doof – sie merken es natürlich, wenn jemand sie für blöder hält als sich selbst. Und darum wird aus einer „Szene“, die sich, und sei es auch nur unter-bewußt, für eine Avantgarde hält, auch nie eine politische Massenbewegung werden – dasselbe gilt (logo) für Parteien.
Wie sangen Cock sparrer so schön: We don’t wanna fight/ Because you tell us to/ So watch your back when you attack us/ ‚Coz we might just turn on you.
Die Position gegenüber „den anderen“ müsste also eher sein: ich glaube, da irrst du dich, ich bin mir sogar recht sicher. Und dafür habe ich auch Argumente. Aber ich höre mir auch deine Argumente an – denn ich glaube zwar an meine Position, aber ich räume ein, dass ich mich irren könnte. Schließlich bin ich nicht schlauer als du, ich habe nur andere Erfahrungen. Und wir müssen nicht in allem einer Meinung sein.
Noleu 13. November 2015 - 18:50
Genau das habe ich mir auch gedacht…
Im Großen und Ganzen finde ich die Gedenkanstöße ganz gut, so kann ich sie in weiten teilen auch bei mir wieder finden. Es fehlt jedoch eine Sache in meinen Augen, nämlich dass das erreichen der breiten (jungen) Masse fehlt, es kommt mir vor als ob es früher (jaja früher war alles besser..) mehr Bemühungen gab den Revolutionsgedanken bei Jugendlich zu schüren und diesen zu Schüren zum Beispiel durch die Schulstreiks.
Das waren dann auch schon soweit meine Gedanken zu diesem Artikel
Revo Braumeister 14. November 2015 - 14:17
Hallo Teodor,
absolute Zustimmung zu dem was du schreibst.
Ich habe schon lange das Gefühl, dass viele (linke) so sehr daran glauben die alleinige Wahrheit zu vertreten, dass sie intolerant geworden sind. Intolerant gegenüber der Selbstreflexion und intolerant gegenüber dem Dialog.
Auf andere zugehen bedeutet ja nicht die eigene Position aufzugeben. Aber ohne einen Dialog auf respektvoller Ebene und des Bewusstseins, sich selbst irren zu können, kann es nicht funktionieren.
Justus Jonas 15. November 2015 - 15:34
danke!
Anja W. 13. November 2015 - 17:25
Alles schön und gut, aber ich erlebe es in unserer sächsischen Provinz so, dass viele eigentlich von vornherein nicht viel Lust haben. Eigentlich will man lieber im AZ sitzen und Marx-Vorträge vor Gleichgesinnten halten, die einen dann beklatschen und erzählen wie toll man das gemacht hat. Sich raus in das „echte Leben“ zu begeben würde bedeuten sich auch massiver Kritik aussetzen zu müssen. Und wir wissen ja alle wie die „Genossen“ in der Regel mit Kritik umgehen können. Da fehlt einfach das Selbstbewusstsein. Wir sind kleine, kümmerliche Kinder, die Revolution spielen wollen. Mit dem echten Leben hat das alles nichts zutun. Das fängt dabei an, dass irgendwelche 20jährigen Studies dem Bauarbeiter, der 20 Jahre gearbeitet hat die Welt erklären wollen bis zu dem „Ieeeeh, Menschen!“-Syndrom. In mancher politischen Gruppe fühle ich mich wie in einer Selbsthilfegruppe. Nur Therapie macht man für gewöhnlich beim Arzt.
Bernd 13. November 2015 - 18:49
@Teodor Webin: Einfach mal bei Lenin oder Kautsky nachlesen, was die Avantgarde eigentlich ist! Das ist kein Intellektuellenzirkel. Aber nach allen meinen Erfahrungen wird das die Antifa wohl kaum verstehen. Das liegt wohl am Anarchismus und all seinen – auch modernen – Varianten.
Das beschriebene Problem beschränkt sich nicht nur auf Berlin. Wo man hinschaut, ist die Antifa nicht mit der Masse der Menschen verbunden. Bei vielen Diskussionen muss man sich auch nicht wundern, dass es nicht anders ist. Aber die Abgrenzung von der Masse ist doch auch bewusst gewollt, was wohl auch am Anarchismus liegen dürfte.
Lu 17. November 2015 - 1:10
Vielen Dank für diesen wichtigen Artikel!
nachtgestalt 21. November 2015 - 1:41
Dass der Anarchismus dafür verantwortlich ist halte ich für fragwürdig. Es ist wohl eher der „Zeitgeist“, der die Einstellungen vieler prägt. Es gibt ja auch viel mehr Ablenkung als jemals zuvor und besonders „angesagt“ ist es nun auch nicht politisch aktiv zu sein.
Andererseits, den elitären Zirkel zu mimen, sich abzugrenzen bringt Individualität und stiftet Identität. Das scheint für manche einfach attraktiv zu sein.
Ich kann nur aus meiner Erfahrung sprechen, aber zumindest hier sind Anarchisten und libertäre Kommunisten fast die einzigen die aktuell versuchen mit mehr Menschen außerhalb von Szene und Subkultur in Kontakt zu kommen und diese zu „aktivieren“.
Man kann sich genauso fragen, warum sich kaum noch Menschen gewerkschaftlich organisieren, obwohl die Bedingungen immer schlechter werden; warum überhaupt kaum noch jemand bereit ist für irgendetwas zu kämpfen (ohne den wirklich noch aktiven jetzt vor den Kopf stoßen zu wollen).
‚Wir‘ sind saturiert bis zum geht nicht mehr. Und das oftmals trotz persönlicher Armut.
Kris Kunst 10. Dezember 2015 - 12:59
Ein sehr kluger Artikel! Ich möchte ihn um 3 Gedanken ergänzen:
1. Nichts ist neu oder außergewöhnlich an Euren Debatten – „früher“ war es bereits fast genauso: Ich (heute 45, in Mainz wohnend) habe von 1992-1999 in Berlin gelebt als junger Linksradikaler, und wir haben exakt die gleichen Diskussionen geführt wie Ihr, die damals u.a. zur Gründung der Gruppe „fels“ geführt hatten. Und fast bin ich mir sicher, dass die alten KämpInnen aus der Hausbesetzerzeit und der Anfang der „Autonomen“ von 1980 ff ganz ähnliche Geschichten erzählen könnten.
2. Mit „Normalos“ zu sprechen und auf sie zuzugehen, ist der richtige Impuls. Aber nicht, um sie (aus der Warte des vermeintlich Überlegenen heraus) von ihrem falschen Bewusstsein wegzubringen. Sondern, um die Elemente und Motivationen in ihnen zu stärken, die „richtig“ sind und auch, um von ihnen zu lernen. Das alles mit einer Haltung von Wertschätzung und Respekt. Und keine Angst vor Selbstveränderung: Euer linker Kompass wird Euch immer den richtigen Weg weisen. Übrigens – und jetzt bitte ganz tapfer sein: Pedram Shajahr, der oben missverstanden und ungerecht abgekanzelt wird, macht genau das.
3. Der Autor spricht den Aktionismus an und fordert mehr Prioritätensetzung, auch Mut zur Lücke. Wieder völlig richtig. Aber etwas vertieft, müsste die ganze Reihenfolge verändert werden: a) Erst einmal gemeinsam festlegen, was überhaupt der Kern des Engagements der Gruppe sein soll, wo ist der allerwichtigste Ansatzpunkt, der Euch alle mitreisst, im Innersten bewegt? b) Die eigenen Ressourcen kritisch prüfen und eine Strategie sowie „Erfolgskriterien“ entwickeln, die realistisch sind. c) Konkrete Aktionen daraus ableiten und Zuständigkeiten vergeben und d) loslegen mit Aktionen. e) Review: Immer wieder die Schleife zurück: Wie ist es gelaufen? Was könnten wir besser machen? Sind wir noch auf unserem beschlossenen Weg? Ggf. bei b) wieder einhaken und nachsteuern.
Ein Trost am Ende: Fast alles, was im linken Spektrum sich tummelt, macht diese aktionistischen Fehler (auch 50jährige Attacies aller Orte), und fast niemand in der Linken nimmt die o.g. Leitsätze aus der modernen Team- oder Organisationsentwicklung zur Kenntnis. Schade – denn wir könnten viel effizienter (und letztendlich damit auch effektiver) sein!