In der Türkei tötete ein Attentat auf eine Friedensdemonstration über hundert Menschen. Ein Augenzeugenbericht von Alp Kayserilioglu
Um 10:00 Uhr herum sitzen mein Genosse, Kollege und Freund Max Zirngast und ich im Taxi auf dem Weg zur Friedensdemo, die am Hauptbahnhof in Ankara beginnt, und zwar deswegen, weil wir wegen mir mal wieder zu spät dran sind. Tausende Menschen und Dutzende unserer GenossInnen aus unterschiedlichen Teilen der Türkei sind schon vor Ort. Max ist deswegen mal wieder stinkewütend auf mich. Ich, schuldig und dennoch stark wie immer, plaudere derweil fröhlich mit dem Taxifahrer, der eine nette Person ist.
Diesmal hat uns mein notorisches Zuspätkommen das Leben gerettet. Kaum steigen wir aus dem Taxi aus und hetzen zu dem Platz vor dem Hauptbahnhof, um uns in den Demozug einzureihen, explodiert just dort, wo wir wären, wenn wir pünktlich gewesen wären, die erste Bombe.
Ich nehme die 10-20 Meter hohe Feuersäule und den donnernden Bass wahr, denke irgendwie, dass wir jetzt in einem Film sind oder so, dass das jedenfalls irgendwie nicht ganz real ist und begreife nicht so ganz, was abgeht. Vor meinem inneren Auge laufen die Bombenanschläge in Diyarbakır vor den Wahlen am 7. Juni und in Suruç am 20. Juli ab. Mit der Demo in Ankara kann ich soetwas nicht in Verbindung bringen. Als ich Max anschaue, sieht der auch eher nach einem Fragezeichen auf zwei Beinen aus: Ist das jetzt… war das jetzt… eine Bombe oder was? Jetzt auch hier in Ankara oder was? Nee, oder?
Als die Leute um uns herum anfangen wütend und aggresiv zu werden, lauthals zu schreien und zu fluchen, sickert langsam die Erkenntnis durch: ja, das war gerade eine ganz schön heftige Bombe. Mein erster Reflex, der daraufhin einsetzt, ist – da ich die zweite Bombe nicht gehört habe und weiß, dass bei solchen Anschlägen oft mehrere Bomben eingesetzt werden – wild um mich zu schauen nach anderen möglichen Attentätern oder Bombentaschen. Als ob ich sowas erkennen könnte.
Wir ziehen uns mit Max und anderen erst einmal auf die Brücke auf der Nordseite, die über eine Hauptverbindungsstraße führt, zurück. Wir sehen, wie unten insbesondere die GenossInnen von den Halkevleri den Verkehr blockieren und nur mehr Krankenwägen durchlassen. Von denen gibt es anfangs auffällig wenige. Es sind vor allem Taxis, die die ersten Verwundeten wegbringen. Peux à peux kommen vereinzelt Krankenwagen. Später gleichen wir das mit anderen Augenzeugenberichten ab, die unsere Beobachtung bestätigen. Auch die Ärztekammer behauptet später, dass die Krankenwägen nur ziemlich langsam an den Tatort kamen. Wer allerdings recht zügig und vor den meisten Krankenwägen am Platz erscheint, sind die riot cops in voller Kampfmontur mit Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen. Allerdings auch diese auffällig mit 10-15 Minuten Verspätung nach der Explosion.
Davor fahren so ein paar hilflos wirkende Polizeiwägelchen durch die Gegend, die alle ordentlich von den Demonstrierenden platt gemacht werden. Jedenfalls berichten auch hier wieder mehrere Augezeugen Ähnliches und eine andere Quelle behauptet, dass auf dem gesamten Platz, wo die Bomben hochgingen, keine Polizei und nur wenige Polizeiautos waren, die allerdings alle leer standen.
Zufall wird das nicht gewesen sein. Jedenfalls meine ich bitter zu Max, dass der Platz jetzt bestimmt sicher ist: wo Cops am Start sind, da wird keine Bombe hochgehen, denn Cops kreuzen dort nicht auf, wo ihre Oberen armseliges Kanonenfutter zwecks Selbstmordanschlägen in den Tod schicken. Ich behalte recht. Die AKP-Arschkrampen sind ekelerregend genug bei jedem Bombenanschlag zu fragen: „Warum waren denn eigentlich keine HDP-Abgeordneten unter den Toten? Ist das nicht auffällig?“ Einmal davon abgesehen, dass diesmal traurigerweise tatsächlich auch HDP-AbgeordnetenkandidatInnen unter den Toten waren (wovon ich die eine, Kübra aus Istanbul, noch vom letzten Wahlkampf kannte), sollte lieber umgekehrt gefragt werden: Warum kein einziger toter Cop, kein einziger toter Zivi? Warum nicht mal ein einziger verletzter Cop bei über 500 Verletzten? Ist das nicht auffällig?
Was statt einer dritten Bombe abging war jedenfalls Polizeiintervention auf der von uns gegenüberliegenden, südlichen Seite des Platzes – mit ganz schön viel Tränengas. Und ja, exakt, während da noch Hunderte Leichen und Verletzte rumlagen und noch kaum Krankenwägen vor Ort waren. Alles dokumentiert auf Videos.
Im Inferno
Max und ich gehen jedenfalls so langsam wieder zurück zum Ort der Bombenexplosionen. Die GenossInnen haben wir endlich telefonisch erreicht, denen ist wie ein Wunder nichts geschehen, obwohl einige von ihnen sehr nahe bei den Explosionen standen. Ein Genosse sagt uns, dass noch Dutzende Verletzte und Tote rumliegen und sie gerade beim Transport helfen. Wir wollen dazustoßen, um ebenfalls zu helfen. (Ab jetzt wird’s eher unangenehm, nur weiterlesen mit starkem Magen.)
Erst ein Mal war es überhaupt schwierig auf den Platz zu kommen. Recht willkürlich haben die Riot Cops mal eine Zufahrt gesperrt, dafür die andere offen gelassen. Wir kommen letztlich rein. Drinnen herrscht Chaos, überall Sirenen, Hupen, Verwundetentransporte, wütende Leute, die auf die Cops losgehen. Was sich der Wahrnehmung darbietet, ist grässlich: die ganze Zeit weist mich Max mit „Vorsicht!“ darauf hin, dass ich gerade dabei bin, auf einen abgetrennten Finger, einen Hautfetzen, ein Stück Gehirn, auf Kopfteile, Haarbüschel, nicht mehr identifizierbare Innereien oder Blutlachen zu treten. Viele Menschen weinen, einige schreien, einige Leichen sind in Fahnen eingehüllt. Überall riecht es nach Blut und Tod. Mir wird langsam schwindelig, ich sage Max, er solle nicht mehr auf den Boden schauen. Aber wir kriegen dennoch nicht viel hin und irren irgendwie planlos in der Gegend herum, sehen viele Krankenwägen aber keine Verwundeten mehr. Und plötzlich stehen wir vor dem Ort, an dem die zweite Bombe hochging. Der ganze Ort ist eine einzige Blutlache mit Körperteilen, ich sehe vermutlich über ein Dutzend in Fahnen eingehüllter Leichen. Der Gestank wird unerträglich, ich fange an zu würgen und halte mir die Nase zu.
Die nächsten paar Sanitäter, denen wir über den Weg laufen – und die wir jetzt endlich, weil wir langsam die Kontrolle über uns wieder kriegen, fragen, was wir machen können –, meinen, dass die Verwundeten alle abtransportiert sind und dass wir lieber Blut spenden gehen sollen. Auf dem Weg weg vom Platz sehen wir noch das Bombenräumkommando, vom Lautsprecherbus heißt es noch, dass weitere Bomben auf dem Gelände vermutet werden und das Gelände deshalb evakuiert werden soll. Aber die Durchsage hat irgendwie etwas Groteskes und kommt bei kaum mehr jemandem an.
Bomben, Massaker, Krieg – Die AKP und die Macht
Wir gehen in die Krankenhäuser, doch die brauchen unser Blut nicht; die brauchen negativ, wir haben beide positiv. Wir entschließen uns deshalb, nach Hause zu gehen. Dutzende GenossInnen sind bei uns in der Wohnung und warten auf ihre Busse zurück in alle Teile der Türkei. Totenstille herrscht im Wohnzimmer, obwohl es zum Bersten voll ist. Ich kann’s immer noch nicht so ganz fassen, dass niemandem etwas passiert ist. Bei den meisten ist es purer Zufall: Der Genosse aus Samsun – ein Riese, der immer, auch als er erzählt, wie er das Ganze per Zufall überlebt hat, froh und munter ist – erzählt, wie sie gerade vor der Explosion wegen irgendeiner Streitigkeit um die Aufstellung der Demoblöcke 20 Meter zur Seite gerückt sind, was ihnen das Leben rettetete.
Der andere Genosse aus Ankara meint, er sei gerade aus der Menge gegangen, um zu telefonieren. Die GenossInnen aus Hatay standen zwar knapp 50 Meter von der Explosion entfernt. Aber die von den Bomben in alle Richtungen geschleuderten Splitter haben die beiden GenossInnen von den Halkevleri aus Antakya, mit denen sie gemeinsam aus Antakya angefahren sind und die unmittelbar neben unseren GenossInnen standen, sofort getötet. Mehrere von ihnen blieben am Platz bei den Leichen und halfen beim Transport. Der eine Genosse sagt, dass sie satte 5 Stunden darauf warten mussten, bis die beiden Leichen der GenossInnen von den Halkevleri abtransportiert wurden von Krankenwägen. Eine andere Genossin stand vor dem Haupteingang und erzählt, wie sie Gehirnfetzen durch die Luft fliegen sah nach der zweiten Explosion.
Jedenfalls kommen Max und ich langsam aus der Halbtrance heraus und klemmen uns hinter die PCs und Smartphones und kriegen schnell einen Überblick über Ausmaße und Funktion des Anschlags, bevor wir uns am Abend aufmachen zur Demo in Tuzluçayır, einem Bezirk von Ankara.
Mit der Zeit stiegen die Todesfälle drastisch. Bis zur Mitternacht gab das HDP Krisenzentrum die Zahl von 128 Toten und über 500 Verletzten durch. Die Identität der Täter – es waren fast sicher zwei Selbstmordattentäter – ist noch nicht geklärt. Der IS hat aber schon Mal gratuliert. Auch der sonstige Abschaum hielt sich nicht lange zurück und gab offenkundig zu verstehen, um was es hier eigentlich ging: der AKP-Minister Eroğlu gab zu verstehen, das alles sei eine Wahltaktik der HDP, um sich als Opfer darzustellen und Stimmen zu gewinnen, wie schon damals beim Bombenanschlag in Diyarbakır. Also hat nach dieser Logik, ähm, die HDP die HDP und Rest bombardiert.
Der AKP-Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, nahm ganze 13 Stunden nach dem Anschlag Stellung und meinte, dass das „zu 100%“ die PKK gewesen sei und dass es „die HDP jetzt schwierig haben werde, die Wahlhürde [von 10%] zu übersteigen“. Nach dieser Logik hat die PKK die HDP bombardiert, damit… Ach egal. Währenddessen erschienen Videos des berüchtigten Killers und Mafiabosses Sedat Peker – einst als militärtreu von der AKP inhaftiert, nach dem „Streit“ mit dem Prediger Fetullah Gülen aber aus’m Knast entlassen und seitdem zufälligerweise glühender AKP-Anhänger – von einer Veranstaltung für die AKP in Rize einen Tag vor dem Anschlag in Ankara, wo er davon spricht, dass „literweise Blut fließen“ wird.
Die Krönung allerdings lieferte das Brechreiz verursachende Zweierpack aus Sultan Erdoğan und seinem Azubi-Vezir (formal betrachtet eigentlich der Ministerpräsident) Davutoğlu: es waren zwar über 100 Zivilisten tot, mitten im Zentrum der Republik, aber Erdoğan gab eine schriftliche Erklärung durch so nach dem Stil von „der Anschlag war jetzt auch nicht viel schlimmer als diejenigen, die unsere Soldaten trafen; die größte Unterstützung des Terrorismus ist das Hantieren mit doppelten Maßstäben gegenüber dem Terrorismus“, woraufhin sein Azubi eine dreitägige Staatstrauer ausrief – für „alle“ Bürger, Soldaten, Polizisten und dergleichen, die Opfer „des“ Terrorismus geworden sind. Wunderbar wurden die paar wohl unbedeutenden Toten (mal wieder) zum Anlass genommen, um ganz im Allgemeinen gegen „den“ Terrorismus zwecks „Einheit und Brüderlichkeit der Nation“ Propaganda zu machen. Wer jetzt also bei dieser grotesken „Einheit“ und „Brüderlichkeit“ nicht mitmacht oder sich um den vorliegenden Fall kümmert und verurteilt, der ja keine Gefechtssituation war, sondern ein Bombenanschlag auf eine zivile Demonstration, der unterstützt in dieser Logik den „Terrorismus“ und ist somit ein Vaterlandsverräter. Moment, bin kurz vor dem Kotzen, bevor ich weiterschreibe…
Ab jetzt heißt’s: „fürchte um dein Leben, wenn du nicht AKP geil findest“
… so, geht wieder. Also: Ohne Bomben geht’s nimmer, will man an der Macht bleiben. Zumindest, wenn man die AKP ist. Die hat das ja schon vor den Wahlen am 7. Juni so gemacht: knapp 200 Angriffe auf HDP-Büros gab’s damals, dann ging kurz vor den Wahlen die Bombe bei der großen Kundgebung in Diyarbakır hoch, 5 Menschen starben, Dutzende wurden teils schwer verletzt. Aber siegen konnte die AKP nicht, die HDP zog mit 13,2% ins Parlament ein und zertrümmert die Präsidialdiktaturwünsche von Erdoğan und Konsorten. Der Unmut darüber wurde recht offen ausgedrückt: Da hieß es mal, das Volk habe das Chaos statt Stabilität gewählt (prominentes AKP-Mitglied Burhan Kuzu), man habe es gewarnt, es solle nicht die HDP wählen (stellvertretender Ministerpräsident Yalçın Akdoğan, AKP). Da wurden von Erdoğan mal 550 „nationale und einheimische“ Parlamentarier für ein neues Parlament verlangt und, inşallah, also so Gott will, endlich wieder eine AKP-Alleinregierung und ein Präsidialsystem, denn die Abwesenheit davon sei der Grund von Chaos gewesen (AKP-Gesundheitsminister Müezzinoğlu).
Als „zusätzliche überzeugende Argumente“ wurde dann der Anschlag in Suruç am 20. Juli präsentiert, wobei 32 AktivistInnen, die beim Wiederaufbau von Kobane helfen wollten, umgebracht wurden, und der darauffolgende groß angelegte Krieg gegen die PKK, der eigentlich „dem Terrorismus im Allgemeinen“ gelten sollte. Der bisherige Gipfelpunkt der „Argumentation“ war dann jetzt der Anschlag in der Hauptstadt Ankara. Damit gilt jetzt für die gesamte Türkei, nicht nur für Kurdistan: Wer gegen die AKP protestiert, dessen Leben und Unversehrtheit sind nicht mehr garantiert.
… oder: „Fickt euch, AKP-Arschkrampen“
Damit ist in etwa vermutlich so fast die letzte Stufe vor der Deklarierung des Ausnahmezustandes in der gesamten Türkei und extensiver Sondervollmachten für die Exekutive, sprich eines allumfassenden faschistischen Putsches, erreicht, was Einsatz an repressiven Mitteln angeht, um sich weiterhin an der Macht zu halten.
Zwar versucht die PKK seit ein paar Tagen, den Dampf etwas rauszunehmen – just am Tag des Anschlages in Ankara (aber vermutlich früher beschlossen) hat sie erklärt, dass sie jedwelche kriegerischen Aktionen zwecks Wahlsicherheit einstellen wird. Der türkischen Seite ist das ja aber offensichtlich egal, die ärgert sich eher über weniger Krieg (so wieder der stellvertretende Ministerpräsident Yalçın Akdoğan von der AKP, der „genug hat“ von den ganzen Waffenstillstandserklärungen der PKK, die alle bloß „taktisch“ seien). Und sollte sich weiterhin abzeichnen, dass sich an den Wahlergebnissen im Vergleich zu denjenigen vom 7. Juni nicht viel verändert – und das ist äußerst unwahrscheinlich –, dürfen wir uns darauf gefasst machen, dass die AKP und der türkische Staat noch so einige Monstrositäten aufs Land loslassen werden.
Ob eventuell so ein noch weiter gesteigertes Level an Repression erfolgreich sein wird, darüber entscheidet die Widerstandsfähigkeit der demokratischen und sozialistischen Kräfte hier vor Ort. Der größte politische und in der Tat auch moralische Fehler ist es jetzt immer noch so zu tun, als stünden „normale“ Wahlen und „normales“ parlamentarisch-demokratisches Prozedere an, wo eine in dieser Form abgewählte Partei de facto halbdiktatorial weiterregiert und Hunderte Tote und Tausende Verletzte und Leidende nonchalant in Kauf nimmt. Ein solches Verhalten gibt der Schlächter-AKP noch eine Legitimation, indem sie sie behandelt wie eine normale bürgerliche, demokratische Partei, die sie längst nicht mehr ist.
Die Zehntausenden auf der Istiklal in Istanbul und die vielen Tausenden anderen in den unterschiedlichsten Vierteln vieler Städte in der Türkei und international, die gegen den Staatsterror in Reaktion auf das Massaker in Ankara marschierten, haben diesbezüglich das Zeichen des Widerstands gesetzt.
Wir, die wir irgendwie das Glück hatten den Anschlag von Ankara zu überleben, haben zudem die moralische Pflicht dafür zu sorgen, dass diese Regierung und ihre Handlanger stürzen und für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. Das sind wir den Toten und Verwundeten schuldig. Das sind wir auch einer möglichen Perspektive des Friedens schuldig.
Thanasis S. 19. Oktober 2015 - 17:21
Hier ist noch ein von mir gehaltenes Interview mit Alps Freund und Genossen Max Zirngast, der ebenfalls dabei war und nur knapp überlebt hat:
http://www.unsere-zeit.de/de/4742/internationale_politik/1023/Der-Krieg-der-AKP.htm
Hoch die internationale Solidarität! Nieder mit dem Staatsterror in der Türkei!