Erdoğan zieht die Türkei ins Chaos
Bei dem Massaker in Suruç am 20.Juli kamen 31 Sozialist*innen ums Leben. Die Delegation der SGDF (Föderation der sozialistischen Jugendvereine) wollte nach Kobanê, um sich dort am Wiederaufbau zu beteiligen, einen Kinderspielplatz und eine Bibliothek zu errichten. Gerade als sie im Garten des Amara-Kulturzentrums in Suruç, dem bekannten Treffpunkt für alle, die nach Kobanê gehen und sich mit Rojava solidarisch zeigen wollen, eine Presseerklärung machten, sprengte sich ein 20-jähriger IS-Anhänger inmitten der ca. 300 meist jungen Menschen in die Luft. Das Ergebnis: 31 Tote, viel mehr Verletzte – ein brutaler und hinterhältiger Anschlag auf Sozialist*innen, die mit der kurdischen Bewegung solidarisch sind und gegen das AKP-Regime kämpfen.
Premierminister Davutoğlu und Staatspräsident Erdoğan drückten ihr Beileid aus, aber weder brach Erdoğan seine Zypernreise ab, noch wurde Staatstrauer ausgerufen, wie noch z.B. nach dem Tod des saudischen Königs Anfang dieses Jahres. Internationale Kondolenzerklärungen gingen meist an Erdoğan und der Tenor in den Medien ist „IS-Terror trifft jetzt auch die Türkei,“ manchmal noch mit dem Zusatz, dass es eine mögliche Rache dafür sei, dass die Türkei einige IS-Leute festgenommen hatte und letztlich doch zumindest eine kleine Motivation zeige, gegen die Mörderbanden vorzugehen. Getroffen hat der Anschlag aber Sozialist*innen und nicht den türkischen Staat.
Und schon bald zeigte sich: Der Anschlag war nur der Auftakt zu einer Woche, in der sich die Ereignisse überschlugen, welche eine neue Phase in der Türkei eingeleitet haben – Ausnahmezustand und Krieg. Und zwar Krieg nicht gegen den IS, sondern gegen die Linke und die kurdische Freiheitsbewegung!
Die AKP und der Verhandlungsprozess
Um die Entwicklungen richtig einordnen zu können, ist es notwendig, ein wenig Hintergrundwissen hereinzuholen. 2012/13 wurde ein Verhandlungsprozess zwischen der Republik Türkei und der PKK initiiert. Die PKK begann diesen Prozess aus der Position der Stärke heraus, denn im Sommer 2012 kontrollierte die Guerilla mehrere hundert Kilometer in den Provinzen Hakkari und Şırnak. Zusätzlich hatte sie seit 2013 die Revolution in Rojava im Rücken. In der Türkei hat die kurdische Bewegung mittlerweile eine Stärke und Hegemonie in der kurdischen Bevölkerung erreicht, die es ihr erlaubte in erster Linie auf den politischen Kampf zu setzen und den militärischen Fokus auf die Verteidigung von Rojava zu legen.
Im Zuge dieses Prozesses machte die AKP, deren gesellschaftliche Hegemonie sich schon am zerbröckeln befand, was mit den Juni-Aufständen 2013 klar sichtbar wurde, keinen konkreten Schritt vorwärts. Beide Seiten versuchten den Prozess dafür zu nutzen, um ihre Interessen voranzutreiben und die eigene Position zu stärken. Erdoğan setzte dabei darauf, sich als derjenige zu präsentieren, der der Türkei den Frieden bringt und sich dadurch die eher konservativeren kurdischen Stimmen zu sichern. Die kurdische Bewegung baute darauf, mit der HDP zu einer relevanten politischen Kraft in der ganzen Türkei und zur wesentlichen Opposition zum AKP-Regime zu werden und gleichzeitig ihre Hegemonie in Nordkurdistan festigen zu können.
De facto aber war der Prozess in dem Moment vorbei, als sich die Kämpfe zwischen der YPG/YPJ in Rojava und den Mörderbanden des IS intensivierten. Die AKP hat in ihrer Syrienpolitik von Beginn an alle jihadistischen Gruppen unterstützt, die das Ziel hatten Assad zu stürzen. Als sich der IS als stärkste Fraktion durchsetze und vor allem die Revolution in Rojava zu attackieren begann, spekulierte Erdoğan wohl darauf, dass die Banden ihn von dem lästigen demokratischen Autonomieprojekt an seiner Südgrenze erlösen würden. Mit der Schlacht um Kobanê und dem heldenhaften Widerstand der YPG/YPJ und revolutionärer InternationalistInnen war das Thema ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gelangt. Die AKP positionierte sich unumwunden: Als Erdoğan sich dann auch noch hinstellte und durchaus zufrieden erklärte, dass Kobanê praktisch schon gefallen sei, verlor die AKP auch die meisten konservativen Kurd*innen.
Trotz allem gingen Öcalan und die kurdische Befreiungsbewegung in die Offensive und trieben den politischen Prozess voran. Ende Februar 2015 wurde eine gemeinsame Erklärung von HDP und AKP VertrerInnen im Dolmabahçe Palast verlesen – eine Roadmap zur Lösung der Demokratiedefizite und zur Einstellung des bewaffneten Kampfes in der Türkei. Mit diesem Vorstoß zwang die kurdische Bewegung die AKP, eine klare Position zu beziehen. Und Erdoğans Position wurde sehr schnell deutlich: Er erkenne die Dolmabahçe-Erklärung nicht an. Kurz darauf erklärte er, dass es überhaupt keine kurdische Frage gäbe und seit April ist Öcalan wieder in Isolationshaft.
Wahlkampf: Zielscheibe HDP
Erdoğan, mittlerweile Präsident, hatte für die Parlamentswahlen im Juni 2015 ein klares Ziel ausgegeben: Die AKP sollte mindestens 367 Parlamentssitze bekommen und so das von ihm gewünschte Präsidialsystem einführen, und zwar ein spezifisch „türkisches“ Präsidialsystem. Wie das genau aussehen sollte war schon weniger klar, aber da Erdoğan nicht nur die USA und Frankreich, sondern auch Saudi Arabien als Land mit einem Präsidialsystem genannt hatte, war wenig Gutes davon zu erwarten. Als klar wurde, dass nur die HDP das verhindern konnte, wenn sie es über die 10% Sperrhürde – ein „Geschenk“ der Putschverfassung von 1982 – schaffen würde, gab Erdoğan die HDP zum Abschuss frei. Und zwar im wörtlichen Sinne. Im Wahlkampf wurden über 150 Angriffe auf HDP Stände, Wahlverstanstaltungen und Wahlbüros gemacht. In Adana und Mersin explodierten zeitgleich Bomben in HDP Büros, 6 Menschen wurden verletzt. In Erzurum attackierte ein Mob von Faschisten eine HDP-Veranstaltung und brannte dabei ein Wahlauto aus. Der Chauffeur war im Auto und wurde schwer verletzt. Schließlich wurde in Bingöl Hamdullah Öğe, der als Chauffeur für die HDP arbeitete, hingerichtet und zwei Tage vor der Wahl explodierten in Amed/Diyarbakır zwei Bomben in der Menge bei einer HDP-Veranstaltung. 3 Menschen starben und viele wurden verletzt. Gleichzeitig trommelten die AKP-nahen Medien zum permanenten Angriff auf die HDP und Erdoğan betrieb eine frenetische Wahlarbeit für die AKP, wofür er staatliche Mittel in Massen nutzte, was natürlich der verfassungsmäßig festgeschriebenen Neutralitätspflicht des Präsidenten eklatant widersprach. Die kurdische Bewegung und die revolutionären und demokratischen Kräfte hielten sich zurück und reagierten nicht auf die Provokationen.
Alle Provokationen und Angriffe nützten nichts: Die HDP überwand die Sperrhürde und erhielt sogar 13,2% der Stimmen und 80 Parlamentssitze. Die AKP stürzte auf etwas über 40% ab (von fast 50%) und erhielt nur 258 Sitze. Mit 367 Sitzen hätte die AKP die Verfassung im Alleingang ändern können, mit 330 ein Referendum einbringen. Aber weit gefehlt, nicht einmal die absolute Mehrheit im Parlament konnte erreicht werden und die Zeit der Einparteienherrschaft war vorüber. Im Moment gibt es in der Türkei nur eine Übergangsregierung, Koalitionsgespräche werden geführt. Erdoğan akzeptiert das Ergebnis ganz offen nicht. Es ist deutlich, dass er Neuwahlen möchte. Aber um bei Neuwahlen im Herbst nicht noch schlechter dazustehen, muss sich an den Kräfteverhältnissen und der Lage im Land einiges ändern. Anders gesagt: Erdoğan und die AKP, die mittlerweile völlig sein Eigentum ist, sind bereit einen Krieg anzuzetteln und den Ausnahmezustand herbeizuführen, wenn es ihre Macht rettet. Es bleibt ihnen auch kaum ein anderer Weg mehr übrig zwecks Machterhalt, denn jeder andere Weg ist mittlerweile versperrt; gleichzeitig müssen sie aber an der Macht bleiben, denn ob der mittlerweile offengelegten und unverfrorenen Verbrechen, Morde und Korruptionsskandale muss zumindest die AKP-Führungsriege mit zahlreichen schweren Verfahren rechnen, vielleicht gar um Eigentum und Leben fürchten.
Wofür steht das Massaker in Suruç?
Der Angriff auf die SGDF Delegation in Suruç ist ein Angriff auf die revolutionäre Linke in der Türkei, die mit der kurdischen Bewegung solidarisch ist. Die SGDF ist der Jugendverband der ESP (Sozialistischen Partei der Unterdrückten), die ein Mitglied in der HDP ist. Die Ko-Vorsitzende der HDP Figen Yüksekdağ war davor die ESP-Vorsitzende. Es war kein zufälliger Angriff auf xy, es war kein Angriff auf die Türkei. Sondern ein hinterhältiger Anschlag auf die revolutionäre Bewegung in der Türkei und das Bündnis von revolutionärer Linker und kurdischer Freiheitsbewegung.
Die westlichen Medien waren sich größtenteils einig: Der Terror käme jetzt auch in die Türkei, es war der erste Anschlag des IS auf türkischem Staatsgebiet. Das stimmt nicht, denn der Bombenanschlag in Amed vor der Wahl wurde auch von einem IS-Sympathisanten durchgeführt. Aus Adıyaman. Aus der gleichen Zelle wie der Attentäter von Suruç. Suruç, nur wenige Kilometer von Kobanê entfernt, steht unter genauer Beobachtung der Geheimdienste. Niemand kann sich dort ohne Wissen des Geheimdienstes bewegen. Die Annahme, die in kurdischen und linken Kreisen kaum bestritten ist, dass der türkische Geheimdienst zumindest davon gewusst haben musste, klingt nicht unplausibel. Schon gar nicht, wenn man die weiteren Ereignisse in Betracht zieht.
Nach dem Massaker in Suruç attackierte die Polizei die meisten Begräbniszüge der Opfer und führte Festnahmen aus. Zwei Tage später antworteten lokale Einheiten der PKK und die Stadtguerilla der kurdischen Jugendlichen, die YDG-H: 2 Polizisten in Urfa, die der Zusammenarbeit mit dem IS beschuldigt wurden, wurden umgebracht, sowie ein IS-Funktionär in Istanbul, der für die Rekrutierung von Kämpfern für Syrien zuständig gewesen sein soll.
Linksliberale KommentatorInnen wie Deniz Yücel1, die zwar bis zu einem gewissen Grad mit der kurdischen Bewegung und der HDP sympathisieren, blenden die lange Geschichte der wiederholten Angriffe, Bombenanschläge und allseitiger Repressionen seitens des türkischen Staates völlig aus, wenn sie der PKK vorwerfen mit diesen ihren Reaktionen einen Fehler gemacht zu haben. Das ist nur die Fortsetzung des langjährigen und immer wieder kehrenden Argumentes, man sei ja mit den Forderungen nach mehr Rechten für die KurdInnen und andere Minderheiten solidarisch, aber bitte doch unbewaffnet und ganz legalistisch. Dabei wird völlig illusionär darauf gesetzt, dass der türkische Staat sich ja auch ganz zivilisiert und rechtsstaatlich verhalten würde, wenn die PKK denn nur den bewaffneten Kampf einstellen würde. Auf diese Weise wird die Logik des Staates übernommen und die permanenten Angriffe und Repressionen des Staates direkt oder indirekt zur Selbstverteidigung erklärt.
Kampf gegen den IS…?
Lang bekannt sind die Pläne des türkischen Staates, in Syrien direkt einzugreifen. Auf geleakten Aufnahmen war der damalige Geheimdienstchef Hakan Fidan zu hören, wie er eine false flag Operation vorschlug, um einen Kriegsgrund zu bekommen. Immer wieder schlug Ankara eine „Sicherheitszone“ in Nordsyrien vor, die immer wieder unterschiedlich aussah, aber ganz eindeutig gegen Rojava gerichtet war.
Nach der Wahlniederlage musste Erdoğan bald noch eine Niederlage einstecken. YPG/YPJ und ihren Verbündeten gelang es, die Grenzstadt Girê Spê/Tal Abyad vom IS zu befreien. Das war nicht einfach ein weiterer Fortschritt, sondern ein Meilenstein und der wichtigste Sieg neben dem Widerstand von Kobanê überhaupt. Die Linie Akçakale (in der Türkei) – Girê Spê/Tal Abyad – Raqqa war die Hauptversorgungslinie des IS in Syrien. Über Akcakale und Tal Abyad kamen Waffen, Medizin, Chemikalien für Bomben und Kämpfer. Auch wurden mit der Vertreibung des IS aus Girê Spê/Tal Abyad die Kantone Kobanê und Cîzîre vereint, die Isolation von Kobanê war zu Ende. Die Offensive von YPG/YPJ dauert bis heute an und sie konnten den IS auf allen Fronten zurückdrängen.
Und wie reagierte die türkische Regierung? Über ein Jahr war der IS in Girê Spê/Tal Abyad direkt an der türkischen Grenze, ohne dass es die AKP gestört hätte. Was natürlich überhaupt nicht verwunderlich ist, angesichts der mehr oder weniger offenen Unterstützung.2Doch die PYD (Partei der demokratischen Einheit, die politische Kraft von YPG/YPJ) wurde plötzlich zur großen Gefahr erklärt. Die AKP-Medien trommelten für einen Einmarsch der Armee, erklären die PYD zur größeren Gefahr als den IS und streuten Gerüchte über ethnische Säuberungen, die angeblich von YPG/YPJ durchgeführt worden sein sollen. Die Armeeführung jedoch zeigte etwas Widerstand gegen die Pläne von Erdoğan und Davutoğlu und es kam nicht zum Einmarsch. Erdoğan legte nach und verkündete, man werde keinen unabhängigen Staat in Nordsyrien zulassen (was die PYD ohnehin nicht will), „wie hoch der Preis auch sein mag.“
Nach dem Massaker von Suruç wurde die Lage seitens der AKP völlig eskaliert. Kurz darauf gab es aber auch noch einen Zwischenfall in der türkischen Grenzstadt Kilis. Es kam zu Gefechten zwischen dem IS und der türkischen Armee, ein Soldat und ein IS-Kämpfer starben dabei. Angesichts all der anderen Ereignissen und gewiss im Interesse des türkischen Staates wird über diesen Vorfall kaum noch geredet. Offiziell war das der Anlass für die AKP, „offensiv“ in den Krieg gegen den IS einzusteigen. Sofort verständigte sich die Türkei auch mit den USA, öffnete die Militärbasis in Incirlik für US-Flugzeuge und gemeinsam wurde eine No-Fly-Zone in Syrien erklärt. Diese Zone ist die Fortsetzung der immer wiederkehrenden Pläne der „Sicherheitszone“. Offiziell soll diese Zone in etwa von Azaz bis Jarablus an der türkischen Grenze, und nach Süden bis Aleppo reichen. Gegen wen ist diese No-Fly-Zone gerichtet? Weder die YPG noch der IS haben eine Luftwaffe, es kann also nur gegen das Assad-Regime und die syrische Armee gerichtet sein. Was wird also damit bezweckt? Es geht hier um eine Schutzzone für die jihadistischen Gruppen im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich um sie vor der vorrückenden YPG und vor Assad zu schützen. Einerseits kann die syrische Armee keine Angriffe mehr fliegen, andererseits ist das offensichtliche Ziel die Verhinderung der Vereinigung der Kantone Kobanê und Afrîn in Rojava. Der einzige Landstrich an der türkischen Grenze, der noch nicht unter der Kontrolle von der YPG/YPJ ist, liegt eben genau zwischen Azaz und Jarablus und ergo zwischen den Kantonen Kobanê und Afrîn.
Aber nicht nur in Kurdistan, sondern im ganzen Land begann der türkische Staat täglich offener zu zeigen, was er eigentlich bezweckt. Ab dem 23. Juli führte der türkische Staat sogenannte „Morgengrauenrazzien“ aus, d.h. in der Früh stürmte die Polizei Wohnungen und nahm „Verdächtige“ fest. Offiziell richteten sich diese Operationen gegen den IS, aber es wurden innerhalb von 3 Tagen nur eine handvoll IS Mitglieder festgenommen, einige gleich wieder freigelassen. Gleichzeitig wurden wohl mindestens 900 revolutionäre Linke und KurdInnen verhaftet. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen war auf einem Video zu sehen, wie einer der höchsten IS Kader in der Türkei ohne Handschellen gemütlich mit der Polizei mit auf das Kommissariat geht. Gleichzeitig wurden revolutionäre Kräfte verprügelt, mit Gas, Plastikkugeln, Stöcken und auch scharfer Munition angegriffen. Ob Demo oder Privatwohnung, die Polizei machte kaum einen Unterschied, die Bilder von blutenden oder gefesselt am Boden liegenden Menschen sind unzählig.
Und das war noch nicht alles: In Gazi, einem Viertel in Istanbul mit vor allem kurdischer und alevitischer Bevölkerung und starken revolutionären Organisationen, wurde die Revolutionärin Günay Özarslan bei einer solchen Razzia regelrecht hingerichtet. Die Polizei erklärte sie wäre beschossen worden, aber Untersuchungen zeigten, dass es keine Anzeichen dafür gab, dafür aber satte 15 Polizeikugeln in Günays Körper. Gazi entwickelte sich zum Zentrum des Widerstands in Istanbul. Die Polizei hat bis heute nicht zugelassen, dass Günay in einem Cemevi, dem Glaubensort der Alevt*innen, bestattet wird. Familie und Genoss*innen harren aus, während die Polizei den Ausnahmezustand über Gazi verhängt hat. Das Cemevi wurde im Tränengas ersäuft, gestürmt, verwüstet, auf den Straßen tobt der bewaffnete Kampf zwischen dem Staat und allen revolutionären Gruppen, die vereint kämpfen. Erst am Montag Nachmittag konnte der Begräbniszug von Günay stattfinden.
Dass in der letzten Woche dann auch noch massenhaft Websites von Nachrichtenagenturen und Zeitungen der kurdischen Bewegung und der Linken blockiert wurden, ist bei all dem kaum noch mehr als eine Fußnote. Aber es ist ein weiterer offensichtlicher Schritt des türkischen Staates in seinem umfassenden Angriff auf demokratische und revolutionäre Kräfte in der ganzen Türkei.
Bomben auf Kurdistan!
Nachdem zuerst noch ein paar IS-Stellungen in Syrien beschossen wurden, verzichtete der türkische Staat bald ganz darauf, auch nur einen mehr oder weniger plausiblen Eindruck zu erwecken, dass dies das Ziel sei. Bombardiert wurde dann nur mehr die PKK, sowohl im Südosten der Türkei, wie auch vor allem im Nordirak, besonders im Kandilgebirge, dem Rückzugsgebiet der Guerilla. Die Guerilla und die YDG-H trugen die Gefechte auch in die Türkei, bisher aber noch mit eher niedriger Intensität.
Sonntag Nacht setzte die türkische Armee noch einen drauf und nahm Stellungen der YPG und der FSA in Rojava unter Beschuss. Dies geschah, nachdem schon Gerüchte zirkulierten die USA hätten der Türkei grünes Licht gegeben auch in Rojava zu bombardieren. Morgen, am Dienstag dem 28. Juli, trifft sich der NATO-Rat zu einem Sondergipfel auf Ansuchen der Türkei. Die Vorarbeit ist schon geleistet. Mehrere US-Regierungssprecher erklärten die Unterstützung für die Türkei und bekräftigten das „Recht auf Selbstverteidigung“ auch gegenüber der „Terrororganisation“ PKK. In Deutschland gab es zwar Kritik an den Luftschlägen gegen die PKK und Ermahnungen, den „Pfad der Verhandlungen“ nicht zu verlassen, und alles, was von Angela Merkel zu hören war, war aber, dass der türkische Staat „verhältnismäßig“ agieren sollte, während Mutti gleichzeitig bekräftigte die Türkei beim Kampf gegen den Terror zu unterstützen. Wie die „Verhältnismäßigkeit“ aussehen soll ist nicht klar, bisher gibt es jedenfalls noch keine Berichte darüber, dass die türkische Polizei jemanden vor der Verhaftung gestreichelt hätte. Was immer die weiteren Entwicklungen sein werden, die Türkei wird nicht ohne Einverständnis der USA und der NATO handeln.
What Next?
Die Eskalation hat einen klaren Hintergrund. Erdoğan und seine AKP akzeptieren die Wahlniederlage nicht und die ganzen Attacken auf die PKK und die revolutionäre Linke sind einerseits eine Revanche für die Wahlniederlage vom 7. Juni, andererseits der Versuch, durch das Herbeiführen des Ausnahmezustandes und des offenen Krieges in Kurdistan die eigene politische Krise zu kaschieren und zu lösen. Tote türkische Soldaten durch die PKK bringen nationalistische Stimmen zu Erdoğan, so die Logik. Oder gleich direkter: Die HDP verbieten und dann die notwendige Mehrheit holen. Stimmen, die de Verbot der HDP fordern, kamen nicht nur aus der AKP, sondern auch aus der faschistischen MHP, die sich eventuell auch für eine (dann wohl Kriegs-)Koalitionsregierung anbieten will.
Die umfassende Attacke des Staates und das Risiko, das Land ins Chaos zu stürzen, das Erdoğan einzugehen offensichtlich bereit ist, lassen die Zeichen auf Sturm und Bürgerkrieg stehen. Was die revolutionären und demokratischen Kräfte in der Türkei und Kurdistan jetzt brauchen sind keine abstrakten Belehrungen auch noch die zweite Wange hinzuhalten, sondern volle Solidarität und offensive Proteste gegen die mörderische und unterdrückerische Politik des türkischen Staates und der NATO – besonders in Ländern wie den USA und Deutschland. Denn „verraten“ wurden die KurdInnen und die demokratischen und sozialistischen Kräfte in der Türkei von der NATO und dem Westen sicherlich nicht: Der Westen und die NATO waren von Anfang an die größten Feinde der kurdischen Selbstbestimmung und der demokratischen und sozialistischen Kräfte in der Türkei.
-Von Max Zirngast
1http://www.welt.de/debatte/kommentare/article144436294/Der-Westen-verraet-die-Kurden-fuer-den-IS.html.
2Eine Liste von einigen Indizien findet sich hier: http://www.huffingtonpost.com/david-l-phillips/research-paper-isis-turke_b_6128950.html
Robert Niedermeier 27. Juli 2015 - 21:37
Die PKK hat mit den Rache-Aktionen nach Suruç nicht bloß einen Fehler begangen. Die meiner Meinung nach völkisch-nationalistische militante Separatisten-Organisation stützt mit den Polizisten-Morden und Entführungen von Sanitätern sogar den Kriegskurs der türkischen Übergangsregierung. Zivilisten müssen Bluten.
Thanasis S. 28. Juli 2015 - 8:22
@Max
Danke für deinen Artikel. Was mich noch interessieren würde, wäre die Haltung der verschiedenen Organisationen der türkischen Linken in der jetzigen Situation. Es wird immer nur gesagt, dass jetzt alle zusammen kämpfen. Ist das wirklich so? Und was für Unterschiede gibt es trotzdem in der Lageeinschätzung?
@Robert
Bei aller legitimen Kritik, die man an der PKK üben kann, wie kommt man bitteschön zu der Einschätzung, die sei eine “völkisch-nationalistische militante Separatistenorganisation”? Bis auf das Adjektiv militant stimmt daran so ungefähr nichts.
Und Zivilisten bluten in der Türkei seit Jahrzehnten: Durch die Polizei-Razzien, durch die Armeeangriffe, durch ganze Dörfer, die von den Regimetruppen massakriert wurden oder einfach nur durch die stumme Gewalt der Armut. Die PKK trägt an alldem jedenfalls nicht die Schuld.
Max Zirngast 30. Juli 2015 - 8:58
Danke Thanasis.
Um zu deiner Frage zu kommen: Nun ja, im Grunde sind praktisch alle Linken vereint gegen Erdogans Politik im Allgemeinen und gegen die Kriegspolitik im Besonderen. Was natürlich noch nicht viel heißt. Das sie gemeinsam kämpfen bezieht sich weniger auf eine Gesamtinitiative, sondern darauf, dass eben in Vierteln wie Gazi auch Gruppen, die sich sonst nicht sehr positiv gegenüberstehen, gemeinsam gegen die Polizei kämpfen, gemeinsam an den Barrikaden stehen, etc.
Was die größere Ausrichtung betrifft, so hat sich an den Grundzügen in der Linken in der Türkei bisher in der neuen Phase noch nicht allzuviel verändert, soweit ich das sehen kann. Aber klar ist jetzt in dem Trubel eine ausführliche Analyse auch nicht unbedingt Priorität vieler Organisationen, viele haben ja auch erst mal die Angriffe abzuwehren, sich um ihre verhafteten und verletzten GenossInnen zu sorgen, usw.
Da die Intensität im Westen der Türkei ein wenig zurückging (während Kurdistan unvermindert bombardiert wird), werden sich klarere Analysen und Positionen in den nächsten Tagen und Wochen herauskristallisieren.
Alp Kayserilioglu 28. Juli 2015 - 13:55
Was für ein staatstreuer Schwachsinn. Die AKP-Regierung duldet und züchtet ihre ISIS-Banden, rüstet sie per Geheimdienst auf, gibt ihr logistische Hilfe in jeder Hinsicht, hilft ihr beim Sturm auf das armenische Dorf Kesap in Nordsyrien, lässt ihre ISIS-Banden auf Zivilisten los und es ist die PKK, die den Krieg schürt, weil sie nicht mehr teilnahmslos dasteht und zuschaut wie Leute gemetzelt, Terrorbanden aufgerüstet, Hunderte von Linken und Kurden inhaftiert und halb Kandil bombardiert werden?? Jawoll. Herr Niedermeier, Sie sollten sich vielleicht bei der Star oder Sabah oder irgendeiner anderen staatlichen Revolverpresse zum Dienst melden. Die lieben solche Leute wie Sie.
Alf 4. August 2015 - 22:22
ich muss mir gar keine Meinungen reinziehen………… nicht gelesen, weil jeder Recht hat !?……
es ist einfach nur ein Witz, was der Mensch aus dem Leben
macht ! ! ! ! ! ! ! !…… und das wiederholt sich auch noch…….
schämt sich niemand ?…..