Am Samstag ist in Berlin mal wieder „Aktionstag“ mit anschließendem Konzert. Wir brauchen schön langsam wirklich neue Ideen. Ein Vorschlag zur Diskussion, welche das sein könnten –
Seit vielen Jahren machen wir „Aktionstage“, „Aktionswochen“, bisweilen ganze „Aktionsjahreszeiten“ („heißer Herbst“, der zumeist recht kühl blieb). Jetzt kommt erneut ein „Aktionswochenende“ auf uns nieder. Am Samstag sollen wir zur Aktion schreiten und zwar in der Hauptstadt. Dort ruft ein „breites Bündnis“ (auch diese Formulierung wirkt schmerzhaft bekannt) dazu auf, zuerst zu demonstrieren und sich dann ein Konzert anzuhören (auch das gab´s vor wenigen Wochen mit exakt derselben thematischen Ausrichtung – Flüchtlingspolitik – wenige Kilometer entfernt am Oranienplatz).
Diesmal, so erfährt man aus dem Aufruf zu Demo und Konzert, geht es darum, „dass an Europas Außengrenzen seit Jahren und immerfort Tausende geflüchtete Menschen sterben“ und es geht gegen das „Dogma des Neoliberalismus“, gegen TTIP und gegen die Politik der EU gegenüber Griechenland. Das alles sind sinnvolle Anliegen, wichtige Themen werden aufgegriffen und zahlreiche zentrale politische AkteurInnen der deutschen und migrantischen Linken unterstützen das Bündnis. Es ist dankenswert und gut, dass sich Menschen Mühe machen, den organisatorischen und finanziellen Aufwand zu bewältigen, den so ein Tag kostet.
Gleichwohl kann man sich nicht ersparen, die Frage zu Stellen: Was bringt´s? Aktionstage gingen Stück um Stück über die Bühne. Sie schafften einige Aufmerksamkeit für Themen, ein bis zwei Tage werden sich entsprechende Meldungen in entsprechenden Medien finden. Danach geht man auseinander und schreitet an die Vorbereitung der kommenden Aktionstage.
Der Aufruf zu der morgigen Demonstration, die unter dem ob der Interpunktion etwas dadaistisch anmutenden Motto „Europa. Anders. Machen“ abgewickelt wird, ist hinsichtlich des zu erwartenden Outputs erfrischend aufrichtig. Er tut gar nicht mehr so, als könnten wir mit derartigen „Aktionen“ irgendwas ändern. Er sagt lediglich, man wolle damit zeigen, „dass die Bundesregierung nicht für uns spricht“. Ehrlich bis zur Schmerzgrenze heißt es: „Mit unserer Demo wollen wir einem anderen Bild von Europa Raum geben.“
Die Frage, die bleibt, ist: Was sollen die in libanesischen Lagern sitzenden Familien aus Syrien mit diesem „Bild“? Was sollen die vor dem – auch – europäischen Krieg in Libyen Geflohenen, die irgendwo im Mittelmeer aus den Schlepperbooten fallen, mit diesem „Bild“? Was machen die von der – vorrangig aus Deutschland betriebenen – Austeritätspolitik Drangsalierten in Athen mit diesem „Bild“? Und wie verbessert dieses „Bild“ unsere eigene von Prekarisierung und Lohnarbeit oder Erwerbslosigkeit und Elend zertrümmerten Leben?
Wie die Aktion werden wird, kann man sich denken, bevor man da war: Erst wird gelatscht, dann wird gequatscht. Wir werden Gregor Gysi und Co. lauschen und anderen, am Ende des Tages wird die Erkenntnis stehen, die wir alle auch schon zur Demonstration mitgebracht haben: Dieses Europa tötet. Soweit so gut. Aber was nun?
Keine „bessere“ EU, sondern gar keine
Es ist sehr schwer auf diese Frage eine Antwort zu finden. Der Organisierungsgrad der Linken in Deutschland – wie in den meisten imperialistischen Zentren – ist so gering, dass über Kampfformen wie Generalstreiks kaum nachgedacht werden kann. Und selbst diese (zumindest, wenn sie befristet sind) haben – das zeigt die Erfahrung aus Griechenland oder Spanien – nicht mehr die Wirkung, die man sich von ihnen erhofft.
Bevor wir also sprechen, was zu tun sein könnten, achten wir doch einen Moment auf die Theorie, die Analyse, aus der die Praxis des immerwährenden Aktionstags erwächst. Der Aufruf von „Europa. Anders. Machen.“ verrät uns, es gehe darum, dass „Europa“ (gemeint ist natürlich die Europäische Union, ansonsten machen diese Sätze semantisch keinen Sinn) ein „demokratisches und soziales Versprechen“ gegeben habe, das es nicht einlöse: „Statt der einst gepriesenen europäischen Werte von Vernunft, Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie herrscht der technokratische Wahnsinn.“
Man könnte schon hier einwenden, dass es eben gerade nicht
„Wahnsinn“ ist, der Flüchtlinge in verwertbare und nicht-verwertbare einteilt und letztere zum Sterben verurteilt, sondern die ganz normale kapitalistische Wert-Rationalität. Wichtiger ist aber noch der Punkt: Es wird nicht gesagt, was diese EU eigentlich für ein Verein ist, sondern es wird geltend gemacht, man müsse sie „besser“ machen, man müsse „das Versprechen von einem solidarischen Europa der Demokratie und der Menschenrechte“ erfüllen.
Das Problem ist, dass diese Sätze sehr abstrakt gehalten sind. Würde konkret von der Europäischen Union und nicht immer von einem nicht näher definierten „Europa“ die Rede sein, müssten wir sofort die Frage stellen: Was ist es denn an dieser EU, das wir behalten und besser machen könnten? Ist es die gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik? Sind es Agrarsubventionen, Programme zur Terrorbekämpfung oder Förderungen urbaner Großprojekte? Würde sich schlagartig alles zum Guten wenden, säßen nur vernünftige, linke Menschen in den Chefetagen der Europäischen Zentralbank, der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments oder gar des Europäischen Rats? Das kann niemand glauben.
Und dennoch ist genau das das Projekt derer, die sich nicht zu sagen trauen, was offenkundig ist: Die Institutionen der EU wurden weder für uns, noch für Flüchtlinge, griechische ReinigungsarbeiterInnen oder die in sklavenähnlichen Verhältnissen darbenden Tagelöhner auf spanischen Plantagen geschaffen, sie entsprechen Form und Inhalt nach nicht unseren Interessen und wir können sie deshalb auch nicht „von innen“ verbessern. Sie müssen zerschlagen werden.
Die eigene Seite aufbauen
Wer so denkt, den interessiert es höchstens aus taktischen Überlegungen, wer in die EU-Institutionen gewählt wird. Interessant wird bei einer solchen Analyse anderes, nämlich die Frage, wie wir uns eigene Formen von Organisation und Partizipation schaffen können, die Staat und EU zuwiderlaufen, sie untergraben und am Ende sprengen.
Um diese Formen – in Ansätzen, klein und noch unscheinbar, aber als Idee schon mächtig – zu finden, müssen wir uns weder Wunderwelten ausmalen, noch gar – obwohl das durchaus sinnvoll ist – in die Geschichte der kommunistischen und anarchistischen ArbeiterInnenbewegung zurückblicken, in der Räte, Betriebe unter Arbeiterkontrolle und Selbstverwaltungsstrukturen allgegenwärtig sind.
Wir müssen nur sehen, was die Praxis der Kämpfe in den vergangenen Jahren in vielen Ländern ohnehin schon hervorgebracht hat, diese Formen aufnehmen, analysieren, weiterentwickelt. Sehen wir nach Kurdistan und nehmen wir den Kampf ernst, als etwas, das nicht nur irgendwo in der Ferne unsere Unterstützung verdient, sondern als etwas, das uns hier gegenwärtig werden könnte: Stadtteilstrukturen, Frauenselbstorganisation, der Aufbau von Gegenmacht aus kleinen Einheiten über die Straße, den Stadtteil bis zum Bezirk, der Stadt
und darüber hinaus. Zu weit weg? Geographisch etwas näher ist Istanbul: Hier bot uns der Taksim-Aufstand vor zwei Jahren die Erfahrungen der „Kommune vom Gezi-Park“. Noch näher gefällig? In Griechenland entstanden – genötigt durch Krise und Austerität – Stadtteilräte und Versuche einer Selbstversorgung mit basalen Gütern des täglichen Lebens. Betriebe wurden besetzt, in Thessaloniki wie in Istanbul, und selbstorganisiert weitergeführt. Es gibt viele dieser Erfahrungen. Sogar in Berlin. Das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ ist so eine Struktur, Kotti&Co. zeigte Ansätze davon, die neuerdings aufgekommene Diskussion um ein „soziales Zentrum“ geht in diese Richtung und „Hände weg vom Wedding“ macht mit seinen Ansätzen von Community Organising auch Ähnliches.
Parlamentarismus –> Gähn!
Der Aufbau solcher Strukturen von Gegenmacht vollzieht sich nicht auf meterhohen Bühnen im Regierungsviertel. Er braucht auch keinen Gregor Gysi, der ihn „repräsentiert“. Und er muss nicht wünschen, irgendwann die Institutionen der BRD oder der EU durch möglichst viele entsandte FunktionärInnen zu flluten, sondern er arbeitet auf die Zerschlagung der staatlichen und supranationalen Strukturen hin, die niemals unseren Interessen entsprechen werden. „Am Ende ist das Ideal der Commons (horizontaler, basisdemokratischer, tragfähiger Reziprozität, sowie Entscheidungsfindungen in der eigenen Kommune und radikaler Autonomie) völlig der Staatsform und dem eurozentrischen Regime der Souveränität entgegengesetzt, das bisland der „Container“ unserer „Rechte“, wie wir gewohnt waren, sie uns vorzustellen, war“, schreibt Max Haven im ROAR Magazine. „Also muss jedes ‚Recht auf Commons‘ notwendig ein aufständiges Recht, ein radikaler Anspruch an die Unterwanderung und Ersetzung staatlicher Souveränität sein.“
In einem solchen Konzept müssen Parteien wie Die LINKE nicht unbedingt völlig negiert und als Gegner angesehen werden. Sie können eine Rolle spielen, aber nicht, wenn sie, wie derzeit, im Parlamentarismus mit all seinen „Sachzwängen“ ihre Perspektive sehen. Nicht einmal ein „gleichberechtigtes“ Verhältnis von Partei und einer so verstandenen Bewegung ist anzustreben. Die Partei müsste, würde sie etwas Nützliches sein wollen, sich ganz einer solchen Bewegung verschreiben, sich ihr unterordnen und ihre eigenen Ziele als Partei hinter die der realen Bewegung zurückstellen.
Das tut sie leider nicht. Da wo sie regiert, das sahen wir in Berlin und sehen wir in Thüringen, wird sie zu einem ganz braven Player im Spiel des parlamentarischen Spektakels. Da, wo sie nicht regiert, schürt sie Illusionen, alles würde besser, würde man nur endlich „richtig“, nämlich sie, wählen. Unterwürfigkeitsgesten gegenüber dem Gegner, der Wunsch, auch verwalten zu dürfen und das schale Argument, wenn man nicht selber mitspielen würde, würden´s die anderen noch schlimmer treiben, zeichnen heute diese Partei aus. Sicher gibt es auch in dieser Partei viele aufrichtige, gutmeinende Menschen. Diese Kritik ist keine ad hominem. Sie zielt auf die Form der Organisation. Und zu dieser Form lässt sich nur sagen: eine parlamentaristische, sich im vorgesehenen Rahmen bewegende Partei brauchen wir nicht.
Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!
Kommen wir zurück zum konkreten Anlass des Aktionstages „Europa. Anders. Machen“. Vorrangig geht es um die Flüchtlingspolitik der EU, und das macht ja auch ob der Drastik des Problems Sinn. Aber wie wird das Problem angegangen? Man wird sagen: Der Aktionstag schafft Aufmerksamkeit dafür, dass Menschen an den EU-Außengrenzen sterben. Das ist doch Blödsinn. „Aufmerksamkeit“ ist hier längst geschaffen. Es gibt zwischen dem bayerischen Prutting und Leck in Schleswig sicher keine noch so kleine Siedlung, in die nicht vorgedrungen ist, was im Mittelmeer passiert. Spiegel, Zeit, Welt, gar Bild oder Mopo – niemand, nicht eines dieser Blätter, verschweigt, dass an EU-Außengrenzen Menschen sterben. Sogar bei Pro7-News und im RTL-Nachmittagsprogramm weiß man davon, und was dort angekommen ist, bleibt selbst dem noch so hartnäckigen Verweigerer politischer Themen nicht verborgen.
Was zu tun wäre, wäre zu erklären, warum dort Menschen sterben und wie das zu ändern ist. Das Warum wird im Aufruf zu „Europa. Anders. Machen“ völlig ausgeklammert. Die Krux an der Sache ist doch: Innerhalb der Paradigmen von Kapitalismus und Nationalstaat gibt es keine (!) Lösung des „Flüchtlingsproblems“. Das ist tragisch, weil wir soweit davon entfernt sind, die beiden abzuschaffen. Aber wer es verschweigt, trägt zur Verlängerung des Problems bei. Die Gleichung ist einfach: Solange Kapitalismus und Nationalstaat, solange sterben Flüchtlinge an Grenzen, solange gibts Lohndrückerei, Erwerbslosigkeit und Arschleben hier und in Griechenland. Willste nicht? Gut, musst du mithelfen, Kapitalismus und Nationalstaat wegzubekommen. Im gesamten Aufruf von „Europa. Anders. Machen“ kommt nichts davon vor. Das Wort „Kapitalismus“ fehlt völlig, „Nationalismus“ kommt einmal vor, aber auch der Nationalstaat bleibt ansonsten ungeschoren. Man fragt sich aufrichtig, was denn da eigentlich „Anders.“ gemacht werden soll.
Ist das Warum des Massensterbens im Mittelmeer so benannt, müsste auf das oben beschriebene Wie zurückgekommen werden. Klar, wir können und müssen im Hier und Heute konkrete kleine Dinge angehen: Wir können und müssen Flüchtlinge schleusen, sie hier unterstützen, mit ihnen Plätze besetzen, sie in ihren Kämpfen supporten. Aber so traurig es ist: Solange wir hier keine Bewegung haben, die die Verhältnisse gründlich umzuwälzen in der Lage ist, werden Menschen an der Verwertungslogik des Kapitals sterben. Wer das nicht einsieht, und die Illusionen von Parlamentarismus und „Reformen“ weiterverbreitet, muss sich am Ende des Tages die Frage stellen, wem eine solche Politik nützt.
– Von Fatty McDirty
Wladek Flakin 20. Juni 2015 - 10:58
Eine sehr treffende Kritik!
Dennoch müssen wir noch darüber diskutieren, wie die Alternative zu diesem reformistischen Blablabla von „einem anderen Europa“ sein könnte.
„Gegenmacht aufbauen“ ist schon richtig. Aber die Beispiele, die hier zitiert werden, sind nicht richtungsweisend: Die erwähnten Basisstrukturen in Rojava, Istanbul und Athen haben nicht die Macht und auch nicht das Ziel, das Privateigentum an Produktionsmitteln zu überwinden.
Die Frage ist ja, wie die Macht des Kapitals – v.a. der Staat der KapitalistInnen – gebrochen werden kann. Dazu ist Selbstorganisierung ein zentrales Moment, aber nicht das einzige.
Denn es ist nur das Proletariat als Klasse, das die kapitalistische Produktion am Laufen hält – nur das Proletariat kann die Unterdrückten vereinigen Produktionsmittel übernehmen. „Gegenmacht aufbauen“ kann nur heißen, revolutionäre Fraktionen in der ArbeiterInnenbewegung aufzubauen.
Wenn man stattdessen auf ein Bündnis mit „demokratischeren“ KapitalistInnen in Rojava oder sonstwo setzt, dann führt das nur zu Niederlagen.
Hier noch eine Kritik zu Event-Politik:
http://www.klassegegenklasse.org/was-haben-die-g7-proteste-gebracht/
„EUROPA. ANDERS. MACHEN”? SO. WIRD. DAS. NICHTS. | communists in situ 20. Juni 2015 - 14:12
[…] LowerClassMagazine – Am Samstag ist in Berlin mal wieder „Aktionstag“ mit anschließendem Konzert. Wir brauchen schön langsam wirklich neue Ideen. Ein Vorschlag zur Diskussion, welche das sein könnten. […]
einer 20. Juni 2015 - 19:36
Ansonsten gibt es aber bald eine Veranstaltung, auf der die Ziele der EU-Flüchtlingspolitik kritisiert werden sollen: Nämlich am 07.07.15 um 19.30 Uhr im Mehringhof (http://kk-gruppe.net/die-deutsche-fluechtlingspolitik/).
Außerdem ist hier ein Artikel zu den Gründen, wieso die EU und die BRD als ihre Führungsmacht mit Griechenland so drastisch und rücksichtslos umgeht, wie sie das tut: „An Griechenland wird ein Exempelt statuiert.“ (http://www.gegenstandpunkt.com/gs/2015/2/gs20152064h1.html)
Grundlegendes zum Thema Euro und Staatsschulden lässt sich übrigens hier finden: https://gegen-kapital-und-nation.org/staatsverschuldung