Interview mit einem Aktivisten der Devrimci Anarşist Faaliyet (Revolutionäre Anarchistische Aktion) –
Am diesjährigen 1. Mai in Istanbul war nicht viel los. Repression und Polizeigewalt hatten ein Ausmaß erreicht, dass organisierte Proteste schwer möglich machte. LCM-Reporter Willi Berg hielt sich rund um den 1. Mai in Istanbul auf und hat sich mit Husseyin, einem Vertreter der anarchistischen Devrimci Anarşist Faaliyet (Revolutionäre Anarchistische Aktion) getroffen. Eine gekürzte Version des Gesprächs über Anarchismus in Anatolien, die Bedeutung von Gezi und die Rückkehr der Angst nach dem Aufstand vom Taksim veröffentlichen wir jetzt in deutscher Übersetzung.
Bevor wir ins Detail gehen, kannst du mir einen allgemeinen Überblick über die Tradition und Geschichte des Anarchismus in der Türkei geben?
Einige der ersten anarchistische Tendenzen kann man in den Widerstandsbewegungen der einzelnen Nationen des ottomanischen Reiches erkennen. Die Idee des Staates ist, historisch gesehen, bei uns sehr tief verankert, angeblich wurden sogar die ersten staatlichen Institutionen in dieser Gegend gegründet. Dadurch wurzelt der Staat sehr tief und ist sehr repressiv.
Mit der Republikgründung von 1923 band sich die anarchistische Bewegung eng an die ArbeiterInnenbewegung. Wir blicken also auf eine lange Geschichte des Widerstands zurück, der dann in den späten 1980er Jahren die “moderne” anarchistische Bewegung hervorbrachte. Das erste anarchistische Magazin wurde 1989 publiziert und hieß Kara, was “schwarz” bedeutet. Von 1989 bis in die frühen 2000er Jahre kamen noch viele andere anarchistische Zeitungen dazu und all diese Zeitungen stehen auch für jeweils andere Strömungen in der Bewegung. In dieser Zeit wurde also theoretisch viel geleistet, dass daraus entstandene ist das Fundament unserer heutigen Bewegung.
Das schnelle Anwachsen dieser in den frühen 1990ern hängt stark mit dem Kollaps der Sowjetunion zusammen. Die meisten Autoren in besagten Magazinen waren vorher Sozialisten und haben sich zu Anarchisten entwickelt. Dadurch ist der Anarchismus hier auch immer eine Konfrontation mit dem Sozialismus. Je näher man dann der Jahrtausendwende kommt, wird die Sprache in den Magazinen und Zeitschriften immer theoretischer, das beeinflusst natürlich auch wen man damit erreicht, nämlich nur noch die, die eine solch theoretische Sprache auch verstehen. Deshalb sprechen wir auch von zwei Perioden, der von 1989-2000 und der von 2000 bis heute. Außerdem wurden wir natürlich von den weltweiten antikapitalistischen Bewegungen und den Globalisierungsgegnern beeinflusst.
In der Periode seit 2000 haben sich die ersten Organisationen gebildet. Wir wollen jetzt nicht behaupten, dass diese Organisierungsversuche oft erfolgreich waren, aber sie waren dennoch wichtig für eine “Vergemeinschaftung” der Bewegung.
2008 hat sich dann die Organisation “Anarchistische Schüleraktion”(LAF) und 2009 wurde dann die “Revolutionäre Anarchistische Aktion” (DAF) gegründet. Das alles kam nach ungefähr fünf Jahren gemeinsamer, kollektiver Praxis. Es wurde also, im Gegensatz zu traditionellen Organisationen, erst die Jugendorganisation und dann die Massenorganisation gegründet. Selbst der organisatorische Aufbau wendete sich so schon gegen Altershierarchien.
Wofür steht DAF politisch, also zu welchen Themenfeldern arbeitet ihr und wie sieht euer Kampf aus?
Staat und Kapital führen einen totalen Krieg gegen jeden einzelnen unserer Lebensbereiche, also müssen wir Staat und Kapital in jedem einzelnen unserer Lebensbereiche bekämpfen. Es gibt also für jeden einzelnen dieser Bereiche eigenständige Organisationen, LAF hatten wir ja schon genannt. Es gibt auch eine Organisation der anarchistischen Frauen, der Studenten, für ArbeiterInnen und so weiter. Unser Ansatz ist: Wenn man nicht jedes der Probleme, die der Kapitalismus hervorbringt, bekämpft, fehlt deinem Kampf etwas.
Wenn man nicht über ArbeiterInnenrechte spricht, fehlt etwas. Wenn nicht darüber spricht, dass Frauen ermordet werden, fehlt etwas. Genauso verhält es sich mit Atomenergie, Umweltzerstörung und so weiter.Für uns gibt es keine Hierarchie der Kampffelder gegen Staat und Kapital. Deswegen müssen auch wir auf allen Ebenen und mit allen Mitteln kämpfen und das tun wir, indem wir in jedem Kampffeld Organisationen gründen und sie in unseren Kampf mit einbeziehen.
Des Weiteren sind wir der Meinung, dass Staat und Kapital auch auf der Ebene von Individuen agieren können. Deswegen ist ein Teil unseres Kampfes, das politische und das private Leben zu verbinden. Das bestimmt auch das Wie und Wo des Kampfes. Der Kampf kann nicht nur in den Fabriken stattfinden, er muss Teil unseres Alltags sein. Das ist natürlich nichts Neues, was wir uns ausgedacht haben, es war schon immer die Perspektive des anarchistischen Kampfs. Diese Strategie des absoluten Kampfs ist es, die zur sozialen Revolution führen wird. Solange wir uns dem kapitalistischen System entziehen können und unsere eigenen, kollektiven Lebensräume schaffen können, können wir der sozialen Revolution entgegenwirken.
Ein Beispiel dafür ist die Spanische Revolution von 1936 in der die Kollektivierung des Lebens, die Selbstorganisation, der Aufbau von Gewerkschaften und Kooperativen eine große Rolle gespielt haben. Wir verstehen unter einer sozialen Revolution nicht die Zerstörung der Parlamente und die Hinrichtung der Parlamentarier. Für uns geht es um eine Veränderung bis auf die Individualebene, bei der Staat und Kapital abgeschafft werden und etwas Neues geschaffen wird. Wir glauben nicht, dass so etwas spontan passiert, weshalb die Selbstorganisation so wichtig ist. Im Grunde richten wir uns da nach Malatestas Modell der doppelten Organisation, also des Persönlichen und des Politischen. RevolutionärInnen organisieren die ArbeiterInnen oft nur in den Fabriken, aber das ist nicht genug, schließlich haben die ArbeiterInnen noch ein anderes Leben, das außerhalb der Arbeit stattfindet.
Euer Ansatz ist also, auf allen Problemfeldern, die der Kapitalismus aufwirft zu kämpfen. Mit welchen Methoden tut ihr das?
Den Ansatz der Selbstorganisation haben wir ja schon erklärt. Konkreter bedeutet das, jeder muss nach den eigenen Möglichkeiten seinen Kampf führen, unterstützt wird das vom Kollektiv. Am Ende unseres Kampfes steht dann die staaten – und klassenlose Gesellschaft. Die Menschen verbindet also ihr gemeinsames Ziel.
Anarchismus war hier sehr auf theoretische Arbeiten fokussiert und konnte deshalb nie eine breite Masse an Menschen erreichen. Wenn man sich die Geschichte des Anarchismus ansieht und wo er funktioniert hat, also Ukraine, Mexiko und Spanien sieht man, dass er immer aus den am meisten unterdrückten Bevölkerungsschichten populär war. Wir sehen also, dass der Anarchismus von denjenigen angestrebt wird, die ihn auch brauchen. Die Menschen in den einzelnen Kampffeldern müssen Anarchismus also erst einmal kennenlernen.
Eines eurer Kampffelder ist der kurdische Befreiungskampf, weshalb auch kürzlich Bilder von DAF-Mitgliedern in Rojava im Internet kursierten. Nimmt DAF aktiv an den Kämpfen in Rojava teil?
Dazu müssen wir über unseren Ansatz zum Umgang mit dem kurdischen Kampf und Rojava reden.
Schon seit dem ottomanischen Reich waren die KurdInnen immer echtes Problem für den Staat. Die KurdInnen sind eine staatenlose Nation. In den letzten 40 Jahren hat diese Bewegung sehr stark an Bewegung gewonnen und ihnen wurde mit extremer Repression begegnet, Zehntausende wurden massakriert, gefoltert. Dörfer wurden zerstört und selbst die kurdische Sprache wurde verboten.
Die Bewegung führt also schon ziemlich lange Krieg gegen diesen Staat. Die PKK war allerdings bis zum Ende der 90er Jahre eine strikt marxistsch-leninistische Partei. Als Abdullah Öcalan, der Gründer und Vorsitzende der PKK, festgenommen wurde, begann langsam der Wandel der Partei. Die Bewegung bekam anarchistische Züge und in seinen Texten bezog sich Öcalan immer wieder auf Bakunin und Bookchin. Inzwischen verfolgt die kurdische Bewegung ein staatenloses Gesellschaftsmodell und das sieht man auch in Rojava. Wir wollen damit allerdings nicht sagen, die kurdische Befreiungsbewegung sei eine anarchistische, aber wir stehen solidarisch zu ihrem Kampf und versuchen zu helfen wo und wie wir können.
Eine weitere politische Zäsur war der Gezi-Aufstand, oder die Gezi-Kommune vom Sommer 2013. Die Ereignisse von Gezi scheinen euren Vorstellungen von Selbstorganisation zu entsprechen, was habt ihr während Gezi gemacht und welche Auswirkungen hatte der Aufstand für die anarchistische Bewegung?
Als erstes sollten wir über den Auslöser des Gezi-Aufstands sprechen. Es gab noch nie ein vergleichbaren Aufstand in der türkischen Geschichte. Die AKP-Regierung ist eine extrem repressive, sie schränkt den Alltag von uns massiv ein, sie verantwortet eine immense ökologische Zerstörung und mit ihrem Programm der urbanen Transformation werden ganze Nachbarschaften entwurzelt. Als Opposition hat man es da sehr schwer. Es werden Presseerklärungen verboten, der erste Mai darf, trotz seiner historischen Bedeutung, nicht auf dem Taksimplatz stattfinden, es gibt immer wieder Verhaftungen und so weiter.
Als anarchistische Bewegung waren wir von Anfang an mit im Park. Wir haben an den Straßenschlachten teilgenommen und uns in der Kommune organisiert. Auswirkungen hatte der Gezi-Aufstand viele, sowohl positiv als auch negativ. Auf der positiven Seite steht, dass die Leute ihre Angst vor dem Auf-die-Straße-Gehen verloren haben und das ist in einer Gesellschaft, die drei Militärputsche hinter sich hat, schon außergewöhnlich. Das ist der allerwichtigste Effekt. Viele Menschen wurden mit Polizeigewalt und Folter konfrontiert und haben begonnen, die Polizei als ihren Gegner zu bekämpfen. Sie haben die mörderische Seite des Staates kennengelernt. Wir sehen es jedoch auch nicht als anarchistischen Aufstand, obwohl er oft so genannt wurde. Es war ein spontaner Aufstand, der anarchistische Elemente hatte.
Der Charakter des Aufstands war auch kein antikapitalistischer, es war ein Aufstand gegen staatliche Repression und Unterdrückung. Nach dem Gezi-Aufstand hat sich auch alles wieder verlangsamt. Die Bewegung auf der Straße hat an Stärke verloren, was allerdings keine Kritik an Gezi ist, sondern vielmehr eine Feststellung, dass es von vornherein den Charakter eines unorganisierten, spontanen Aufstands hatte. Es war allerdings ein wichtiger Meilenstein für jede soziale Bewegung in der Türkei.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein ist der 1. Mai, der in der Türkei in einer starken Tradition steht. Jedes Jahr gehen Zehntausende auf die Straße und versuchen, zum Taksimplatz zu kommen, an dem bei der Maikundgebung 1977 mindestens 37 Arbeiter ermordet wurden. Dieses Jahr war es jedoch anders. Nur einige Tausend schafften es auf die Straße und setzten der Polizeigewalt auch nichts entgegen. Wie erklärst du dir diese Entwicklung?
Es ist weniger eine Frage des Zustands der sozialen Bewegung als eine der Vorbereitungen, die der Staat getroffen hat. Die ganze Stadt war abgeriegelt, der öffentliche Nahverkehr stillgelegt, selbst die Bosporusbrücken waren unpassierbar. In den vergangenen Jahren konnten sich die Menschen wenigstens noch an verschiedenen Orten sammeln und gemeinsame Aktionen starten. Dieses Jahr war selbst das Sammeln unmöglich und so haben es nur wenige Tausend bis nach Besiktas geschafft. Außerdem hat das neue Antiterrorgesetz viele Menschen verängstigt.
Nach dem neuen Gesetz ist Vermummung mit dem Tragen einer Kalaschnikow gleichgesetzt und auch eine Gasmaske zählt als Waffe. So etwas hält RevolutionärInnen natürlich nicht davon ab, auf die Straße zu gehen, aber für eine Masse der Bevölkerung spielte das schon eine Rolle. Du kannst jetzt wegen Kleinigkeiten für Monate oder gar Jahre im Gefängnis landen. Wenn man also Gezi als Ausgangspunkt der neuen sozialen Bewegung sieht, ist seit dem
vieles passiert. Viele Menschen sind in Straßenschlachten gestorben, noch viele mehr wurden schwer verletzt und haben permanente Schäden davon getragen. Am ersten Mai hat man dann ja auch gesehen, dass die Polizei die Menschen mit Verhaftungen regelrecht terrorisiert hat. Sie versuchen die Angst zurück in die Herzen der Menschen zu tragen und ihre Maßnahmen sind dafür sehr wirkungsvoll.
In sozialen Bewegungen arbeiten verschiedenste Gruppen und Organisationen mit ganz unterschiedlichen politischen Hintergründen zusammen. Gibt es generell Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, insbesondere den revolutionären, marxistsch-leninistischen Parteien?
Wenn es um Aktionen geht, arbeiten wir mit allen zusammen die das wollen. Wir setzen uns allerdings nicht zusammen und haben gemeinsame Treffen.
Euch ist die Kommunalisierung des Alltags ein besonders wichtiges Anliegen, aber auch das Individuum ist euch wichtig. Wie steht ihr zu individualanarchistischen Ansätzen?
Besonders in Europa sind die Individualanarchisten ja auf dem Vormarsch, aber seit unseren Anfängen haben wir immer die Bedeutung der Organisation und des organisierten Anarchismus betont. Das hat uns natürlich in der anarchistischen Bewegung nicht besonders beliebt gemacht, da diese Methode vielen zuwider war. Wir sehen im organisierten Anarchismus unseren Weg, wir sind deshalb jedoch nicht gegen IndividualanarchistInnen. Wir stellen nur fest, dass jede Idee, die die soziale Revolution anstrebt, dies über den Weg der Organisation versucht. Die Freiheit des Individuums ist natürlich ein wichtiger Grundsatz des Anarchismus, für uns geht es eben um eine Symbiose des Individuums und der Organisation.
Die Freiheit des Individuums sollten gleichbedeutend mit den sozialen Freiheiten eines jeden sein. Wir sind also für einen Weg der weder das Individuum über der Gesellschaft steht, noch die Gesellschaft das Individuum einschränkt. Wir halten das nicht für gegensätzliche Kräfte. Eine anarchistische Welt könnte durch die Harmonie dieser beiden Faktoren entstehen. Es gibt dieses Missverständnis, dass es besonders im Kapitalismus jedem möglich ist, ganz individuell zu leben und sich zu entfalten Für uns gibt es aber einen großen Unterschied, zwischen dem Individuum im Kapitalismus und dem im Anarchismus. Wir reden hier nicht vom Individuum, das nur seine eigenen Interessen im Sinn hat und maximieren will. Uns geht es um ein Individuum mit kollektiver Verantwortung.
#free palestine #free gaza 18. Mai 2015 - 20:10
»Ein zweites Gezi kann es nicht geben«
Der türkische Anarchist Devrim Ronans über das Zusammenspiel linker Bewegungen und den 1. Mai in Istanbul
http://www.neues-deutschland.de/artikel/931544.ein-zweites-gezi-kann-es-nicht-geben.html?sstr=Peter|Schaber