Die EXPO 2015 in Mailand und die totale Verallgemeinerung von Prekarisierung –
Am 1. Mai wurde unter großem, staatstragendem TamTam in Mailand die EXPO Weltausstellung wurde eröffnet. 54 Länderpavillions sollen sich hier präsentieren. Deutschland hat sich den eigenen Pavillon schlappe 50 Millionen Euro kosten lassen. Kleinere Länder können sich solche Repräsentationen nicht leisten und dürfen sich am Rande in kleinen Bars darstellen. Fertiggestellt sind die Bauarbeiten noch lange nicht: große Löcher, Baustellen, Korruptionsskandale und unfertige Pavillons präsentiert die Expo zur Eröffnung. Gleich am zweiten Tag wurde eine Besucherin durch eine herunterfallende Metallplakette im türkischen Pavillon verletzt.
Doch davon ist in den italienischen Medien wenig zu erfahren, wie auch schon in den letzten Aprilwochen vor Eröffnung. Abgelenkt vom italienischen Versagen bei der Umsetzung des eigenen Größenwahnsinns wurde in der italienischen Öffentlichkeit schon seit Anfang des Jahres durch alarmierende Panikmache hinsichtlich linksradikaler (in italien eher als ‚militant*‘ selbst verstanden) Gegenproteste. Italienische sowie europäische Geheimdienste sprachen von Mobilisierungen zu den NoExpo-Aktionstagen der „zwei großen europäischen Antikrisennetzwerke Blockupy und D19-20“ und verlautbarten eine fragwürdige Kalkulation der zu erwartenden Auseinandersetzungen zwischen Bewegung und staatlichen Ordnungskräften: mindestens zehn mal schlimmer als Genua 2001 sollte es werden. Was das heißen sollte, konnte man nur mit makaberem Zynismus verdrängen. Im Vorfeld kam es in verschiedenen italienischen Städten zu Hausdurchsuchungen und in Mailand zur Räumung eines sozialen Zentrums im Süden der Stadt und über die letzte Woche zu mehrern Festnahmen, darunter italienische, griechische, französiche und deutsche Aktivist*innen.
Der Fakt, dass das Expo-Eröffnungsevent von sich aus ein großes Chaos werden würde, da große Teile der Bauarbeiten nicht pünktlich abgeschlossen wurden und über zwei Drittel der für die sechs Monate Ausstellungszeit prekär Angestellten eine Woche vor Eröffnung ihre Arbeit verweigerten, war hingegen weniger präsent in der nationalen und internationalen Presse. Der Tod eines jungen Arbeiters im April auf der Baustelle des neuen TEEM-Autobahnzubringers (ebenso noch nicht fertiggestellt), und die zunehmenden Meldungen von Arbeitsunfällen und massivem Einsatz irregulärer Arbeit bei den finalen 24-Stunden Arbeiten des Showdowns vor der Eröffnung erregten dennoch in den letzten Tagen sorgsame Augen und Ohren.
Nun ist sie da – mit moralischer ‚feeding the planet‘- Keule – die Expo 2015 in Mailand. Die ersten Tourist*innenströme überfüllten die Stadt am vergangenen Wochenende. Vor allem war der große Eröffnungsakt aber gezeichnet von deutlichem Widerspruch gegen die EXPO als Vitrine des Kapitalismus, als ein Projekt, welches die derzeitige kapitalistische Gesellschaft repräsentiert. Schon am 29. April versammelten sich Antifaschist*innen, um sich der faschistischen Gedenkveranstaltung im Nordosten der Stadt entgegen zu stellen. Die Schüler*innen und Studierenden, die sich schon über Jahre gegen den Zugriff auf ihre Arbeitskraft durch die EXPO in den Schulen und Unis organisierten, versammelten sich am 30. April zur gemeinsamen Demonstration. Vom 1. Mai-Mayday in Milano mit dem an die italienischen, aktuellen Bewegungsdebatten anschließenden Motto ‚Die Expo bestreiken‘, wie in anderen Städten an diesem Tag, ging erneut ein deutliches Zeichen von Widerspruch aus in die europäische Krisenlandschaft: Über Zwanzigtausend gegen die EXPO auf der Straße in Mailand, Genoss*innen von überall her, Bilder queer_feministischer Aktionen gegen die Expo, migrantische Familien aus den Housing- Netzwerken, singender, regenbogenfarbener Blockupy-Kartoffelblock neben klirrenden Scheiben von Bankfilialen, brennenden Autos, brennenden Bankfilialen, Feuer, Rauch, Tränengas. Erstmals in Italien mobilisierten Bürger*innen zehntausend Menschen in Folge der Riots am 3. Mai zu Säuberungsaktionen, wobei auch Schriftzüge in Erinnerung an den 2001 in Genua ermordeten Carlo weggeputzt wurden.
Die EXPO ist hiermit eröffnet…
Ernährung und nachhaltiges Wachstum sind die zentralen Themen der Ausstellung. Organisator*innen wie Politiker*innen erhoffen sich große Touristi*innenströme und lokale Zustimmung der Bevölkerung. Für Italien ist es ein Prestigeprojekt, mit welchem sich das Land nach Jahren des Berlusconi-Theaters Glaubwürdigkeit und Legitimität verschaffen will. Das Expo-Modell im krisengerüttelten Italien und die damit einhergegangen politischen Legitimationsversuche aus Rom bezüglich der Regulation von Arbeit, Vertiefung reaktionär-patriarchaler Geschlechterbilder sowie Aushöhlung regionaler, politischer Entscheidungsbefugnisse weisen weit über das Event an sich hinaus.
Seit 2007 arbeiten Stadtteilinitiativen gegen die Gentrifizierung, die mit dem EXPO-Umbau viele Orte des sozialen Zusammenkommens in den Vierteln zerstört hat. Plätze, die mit Leben gefüllt waren oder alte soziale Zentren wie die Pergola mussten Glasfassaden und Einkaufsläden weichen. Nach deren Geschäftszeiten sind diese Orte zu toten, sterilen Einöden geworden. Das lokale No-EXPO Bündnis klagt die massive Vertiefung von Prekarisierung durch die Expo, städtische Verdrängung und vernichtende sozial-ökologische Zerstörung öffentlich sichtbar an. Teil dessen sind die Schüler*innen (studenti contro Expo), die sich mit dem Hashtag #NonLavoroGratisPerExpo (#IchArbeiteNichtGratisFürDieExpo) gegen die geforderte Gratisarbeit organisierten. 18.500 Freiwillige suchte die EXPO hierfür seit zwei Jahren in den Gymnasien und Unis. Am Ende ist die Zahl der ‚Volunteers‘, nicht zuletzt durch den kontinuierlichen Protest, auf 7.000 reduziert. Auch eine Form militanter Praxis.
EXPO und das Italien in der Krise
Was auch in der BRD in Tendenzen sichtbar wird, ist in Italien nackte Realität geworden: die Vorstellung, zwar prekär zu leben, aber dennoch mit Affekt und Passion etwas gelernt zu haben und das eigene Wissen und Schaffenskraft stets in unsicheren Arrangements in die Gesellschaft einzubringen, produziert ein alltägliches Gefühl des Scheiterns. Der große neoliberale Traum von Freiheit, grenzenloser Mobilität und alles machen und schaffen zu können, da einem die ganze Welt offen stünde, ist geplatzt: Prekarität und Austerität ist zu einer alltäglichen Lebensweise geworden – zum permanenten Ausnahmezustand eigener Reproduktion.
Keine gemeinsame, geteilte Idee kann bisher die Liquidität und Diversität der vielen Prekaritäten gegen sie selbst organisieren. Rassistische und sexistische Klassenpolitik der letzten Jahrzehnte hat die materiellen Grundlagen eines möglichen geteilten Bewusstseins ausgehöhlt, zersplittert, auseinandergenommen. Den größten Erfolg kann diese Politik wohl im Zugriff auf das Subjekt, das Subjekt als potenzielle Arbeitskraft verzeichnen. Der, trotz vieler Anstrengungen, geplatzte Traum, in den jetzigen Verhältnissen erwachsen und selbstverantwortlich zu werden und die Erkenntnis für alle nach 1979 Geborenen in Italien nicht das vorgelebte sozial-ökonomische Niveau der Elterngeneration weiter ausbauen zu können oder es überhaupt zu erreichen, hinterlässt ein Gefühl des Scheiterns. Die Ursachen hierfür werden meist im eigenen Versagen, nicht aber den gesellschaftlichen Verhältnissen gesucht. Die große Krise eines Vergesellschaftungsmodells dringt weiter in die Subjekte vor oder wird durch die Fehlersuche bei sich selbst stabil gehalten und mit hergestellt.
Das anstehende Event der EXPO-Weltausstellung in Mailand dauert zwar nur sechs Monate an, stellt aber ein politisches Experimentierfeld dar, den uneingeschränkten Zugriff auf Arbeitskräfte zu vertiefen und gesellschaftlich zu legitimieren. Mit dem politischen Vorstoß durch die JobsACT-Reform, Gratisarbeit zu legitimieren und gesetzlich festzuhalten, wird die Bedeutung von Lohnarbeit ad absurdum geführt. In der Krise verändern sich die (Des-)Integrationsmodelle durch Lohnarbeit und die Bedeutungen dessen, auch dank der sogenannten Sozialpartnerschaft. Der hohen Arbeitslosigkeit in Italien, die mit 12-14 Prozent (monatliche Schwankungen, Angaben zwischen November 2014 und März 2015) einen Rekordstand seit den 1970er Jahren verzeichnet und der Jugendarbeitslosigkeit mit ca. 43 Prozent, die höchste seit Beginn der Aufzeichnung, tut die EXPO keinen Abbruch. Dennoch erhofft sich die Bevölkerung kurzfristig von dem großen Event und den zu erwartenden Tourist*innenströmen profitieren zu können.
Die grüne EXPO bringt Zement, Prekarität und Schulden
„Feeding the planet – Energy for life“ ist das Motto der Weltausstellung. Den Planet nähren und Energie für das Leben. Die Expo präsentiert sich als grünes Projekt, welches nachhaltige, ökologische Perspektiven aufzeigen wolle. Über 100 verschiedene Nationen sind eingeladen, sich entlang dieses Themas vorzustellen. Zentraler Fokus hierbei ist das Ernährungsthema. Seit dem letzten Jahr mobilisiert die Kampagne ‚Women for Expo‘, Frauen aus aller Welt ihr spezifisches, vermeintlich natürlich gegebenes Wissen bezüglich Natur und Ernährung zusammenzubringen. Mit dem appellierenden Werbeslogan: „Für deine Kinder und auch deren Kinder gedacht – die Ernährung von Morgen beginnt heute“ wird Wissen eingefordert und sich positiv auf Qualitäten bezogen, für welches Frauen in der Regel recht wenig Anerkennung erhalten.
Nicht nur für queer-feministische Gruppen und Initiativen Grund genug für Unmut. Da mit der Expo gleichzeitig großflächig Ackerland in der Peripherie enteignet wurde und dem Beton für Ausstellungsflächen weichen musste, wenden sich Kritiker*innen gegen die grün-human daherkommende Werbeanrufung. Die regionale Entscheidungsgewalt über große Baumaßnahmen wurde zugunsten der nationalen Ebene gesetzlich beschnitten. Eine betonierte Fläche von 1000 m² wird Ende des Jahres grau-in-grau auf lange Sicht an das Event erinnern. Die Kooperationspartner von EXPO 2015 S.p.A. vermitteln darüber hinaus einen Eindruck, in welche Richtung die grüne Nachhaltigkeit verstanden wird: Partner ist zB. S.Pellegrino, die sich zur tragenden Bedeutung von Wasser für die zukünftige Gesellschaft äußern sollen, gleichzeitig aber Tochterfirma von Nestle sind, die wiederum für massive Privatisierungswellen und Enteignung von Wasser als öffentlichem Gut in der ganzen Welt verantwortlich sind. Weiterer Kooperationspartner sind McDonalds und CocaCola, die bekanntermaßen für alles andere als gute Arbeitsbedingungen und nachhaltige Ernährung stehen. Ein weiteres viel sagendes Beispiel aus der Liste der Kooperationspartner ist Finmeccanica, die als Rüstungs- und Raumfahrtunternehmen an zahlreichen militärischen Operationen in der ganzen Welt beteiligt sind.
Milliarden an öffentlichen Geldern sind in die Bauarbeiten in Vorbereitung auf die Weltausstellung geflossen. Neue Infrastruktur wurde gebaut, welche die Stadt seit Jahren bedurfte, wie der Ausbau der Untergrund-Metrolinien. Doch dabei sind auch Projekte wie der Ausbau einer Wasserschneisse oder der Ausbau eines neuen Autobahnzubringers TEEM im Osten der Stadt, die für lokalen Protest sorgen. Wie bei diesem Beispiel aufgrund der sozial-ökonomischen Folgen, die es für die kleinen Dörfchen in der Peripherie haben wird, abgeschnitten vom alltäglichen Durchgangsverkehr zu sein, geschweige denn den steigenden Lärm- und Luftbelastungen. Ein Großteil an Kapital aber ist in fragwürdige Immobilienprojekte geflossen: zahlreiche Gebäude und Betonflächen, für deren Nachnutzung von den Optimist*innen gehofft wird, dass sie in sozialem Modus nach der Ausstellungszeit genutzt werden können. Die Immobilienaufträge wurden nachweislich an tiefe Unternehmernetzwerke vergeben und die Ausgaben übersteigen schon jetzt alle vorherigen Kalkulationen. Ein hoher Teil der steigenden Schuldenlast wird daher nach der Expo den öffentlichen Haushalt belasten. Für die nötige soziale Infrastruktur wie beispielsweise Kindergärten, Seniorenheime, soziale Einrichtungen, die Renovierung zerfallender öffentlicher Schulen wird daher auch in Zukunft kein Geld da sein.
Am 08. Mai 2014 wurden der Planungsleiter der EXPO spa Angelo Paris mit sechs weiteren Unternehmern und Entscheidungsträgern von der Finanzpolizei wegen undurchsichtiger Vergabe von EXPO-Bauaufträgen festgenommen. Eine eingesetzte Anti-Mafia-Einheit ‚kontrolliere‘ seitdem die weiteren Vorgänge, heißt es. Mindestens seit der Veröffentlichung dieser Korruptionsskandale aus dem EXPO-Vorbereitungsteam im letzten Jahr ist das, was sowieso alle in Italien wussten oder ahnten offenkundig, dass an diesem Event der italienische Staat im Staate – die Mafia, die ‚Ndrangheta – verdienen wird.
Who has to do the dirty work? Oder: Das Ende des historischen Konflikts zwischen Kapital und Arbeit in Italien?
Von den 70.000 Jobs die Expo spa vor Jahren versprach zu schaffen, seien 3700 befristete Verträge umgesetzt wurden. Wenige Monate vor der Eröffnung werden Stimmen laut, dass noch Hunderte mehr gebraucht würden. Köch*innen, Bedienung und Gepäckträger*innen wurden von EXPO 2015 S.p.A. bei der Großeventplanung zum nationalen Schaulaufen vollkommen unterkalkuliert. Beispiellos passiert mit dem Modell EXPO eine Neuregulierung von Arbeit in Italien. So wurde schon im Juli 2013 ein Vertrag zwischen gewerkschaftlichen Repräsentant*innen von Cgil, Cisl, Uil, Filcams Cgil, Fisacat Cisl, UilTucs und der EXPO-Verwaltung bezüglich flexibilisierter, befristeter Arbeitsverträge und Praktika geschlossen.
Von 2014 an sollten 300 Vollzeit-Arbeitskräfte (inkl. Wochenenden) zur Unterstützung und Sekretariatsaufgaben, sowie zusätzliche 195 Praktikant*innen mit einer monatlichen Vergütung von 516 Euro angestellt werden. Die für zwölf- Monate befristet Angestellten sollen darauf hoffen können, in der Organisation weiterer Großevents im Bereich der Mode oder Innenarchitektur nach EXPO-Ende Arbeit zu finden. Gewerkschaften und die Stadt Milano äußerten ihre Genugtuung und Zufriedenheit mit diesem Einverständnis. Aus den Protokollen besagten „sozialen“ Abkommens geht außerdem hervor, dass weitere 18.500 Voluntär*innen für tägliche Arbeitsschichten von fünf Stunden in der Gesamtzeit der Ausstellung von sechs Monaten eingesetzt werden sollen. Deren Beschäftigung ohne jegliche materielle Anerkennung, sprich Entlohnung, soll mit „dem Ziel der Beteiligung, der Solidarität und des Pluralismus“ verlaufen. Das Abkommen wurde vom italienischen Ratspräsidenten Letta im Juli 2013 als „optimales Einverständnis, welches die Basis für eine Anwendung auf nationaler Ebene sein könnte“ begrüßt. Die gesetzliche italienweite Festlegung geschah dann im Sommer 2014 durch die generelle Einführung der JobsAct-Reform durch die Renzi-Regierung.
Während Regierung, die CGIL-GewekschaftsvertreterInnen und die Arbeitsbeauftragte der Stadt Milano von einem innovativen Modell sprechen, konstatieren Kritiker*innen, dass das damit vermeintlich entstehende „Wachstum“ die Schaffung eines begrenzten Parks an spezialisierten Prekären und eine überaus große Nutzung unbezahlter Arbeit mit sich bringen wird. Dies sei immer das Entwicklungsmodell der immateriellen Ökonomien in Italien gewesen, so die Kritiker*innen weiter. Die spezielle Mailänder Variante dessen, machte hier nie eine Ausnahme. Der Umbruch der fordistischen Krise zeigte sich im städtischen Umbau der Stadt: in den alten, dunklen, verruchten operai-Arbeiter*innen und Fabrikvierteln haben sich heute große Galerien, Modeindustrien, Universitätsgelände und Räume der kommerziellen kreativen Arbeit niedergelassen. Das Neue Heute ist, dass die Sozialpartner (die Gewerkschaften) und die Regierung gemeinsam einen difusen Konsens zur Generalisierung und Verallgemeinerung dieser postfordistischen Organisierung von Arbeit in der Krise ausdrücken, was sich auch in nationalen Gesetzgebungen materialisiert und weiter festschreiben wird.
Das Modell Expo – das italienische Zukunftsmodell?
Darüber hinaus geschieht mit diesem Event der Versuch ein tiefes neues Modell in Italien einzusetzen und potenziell zu verallgemeinern. Mit einem neuen Dekret wird von der nationalen Ebene über Bauprojekte rund um Milano entschieden, die Regionalregierungen werden ausgehebelt. Außerdem basiert das Modell EXPO auf einem massiven Zugriff auf die menschliche Arbeitskraft und die juridische Absicherung dieses Modells ist eine bisher nie dagewesene Außer-Kraft-und-Sinn-Setzung der Lohnarbeitsform. Die im letzten Jahr erlassenen JobsAct-Dekrete der Regierung ermöglichen den Zugriff auf unterbezahlte Arbeitskräfte im Zuge der chaotischen Vorbereitungen für das große EXPO- Event in Mailand. Zugegriffen wird auf potenzielle Arbeitskräfte, nämlich Schüler*innen und Studierende, die als Gratis-Arbeitskräfte unbezahlt mit EXPO 2015-Urkunde und ‚einem Mehr an Facebook-Likes‘ abgespeist werden sollen.
Gegen die JobsAct-Dekrete organisierte sich europäischer Widerstand gegen den Jugendarbeitslosigkeitsgipfel in Turin im Juli 2014, wäre dieser Gipfel nicht aus Sicherheitsbedenken abgesagt wurden. Die sozialpolitische Auseinandersetzung um konkrete nationale Krisenpolitiken wurde in den europäischen Bewegungen nicht weiter vertieft und verblieb so überwiegend den nationalen Anti-Austeritätsbewegungen. In Italien ist der #SocialStrike die oppositionelle Antwort auf die JobsAct- Dekrete. Der soziale Streik ist seit dem Sommer 2014 eine sichtbare Verdichtung verschiedener italienischer linker Strömungen zu einer Kampagne, aber vielmehr auch zu einem Bild und einer neuen politischen Aktionsform. #SocialStrike ist eine Blüte der ersten Krisenjahre und Reflexion linker Handlungsfähigkeit. Bestreikt und sichtbar gemacht werden hier verschiedene gesellschaftlich notwendige, entlohnte und unentlohnte Arbeiten und der alltägliche Totalzugriff auf die eigene Lebensführung. Per JobsAct-Reform wurde von der nationalen Ebene im letzten Jahr gesetzlich die unentlohnte Gratisarbeit für die Expo ermöglicht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser terminierte Versuch nach Ende des Expo- Events Ende des Jahres auf lange Sicht gesetzlich eingeführt werden soll.
Unter der neoliberalen Einhegungspolitik und angetrieben durch die passend charismatische Figur Renzis findet mit dem Modell EXPO ein brutaler Vorstoß in fundamentale (Arbeits-)Rechte statt: im Namen der Sozialdemokratie (Partito Democratico). Die Politik Berlusconis wird in neuem Gewand fortgesetzt: Politik wird nicht durch Gesetze in Italien betrieben, sondern unter der Renzi-Regierung durch sogenannte Dekrete gemacht. Dies bestätigt die These einer Autoritarisierung staatlicher Politik durch Aushöhlung rechtstaatlicher Demokratiestandards. Die italienische Regierung erließ in den letzten zwölf Monaten eine Reihe beispielloser Dekrete die eine krasse Privatisierung sozialer Risiken durch neue Besteuerungsmodelle und massive Aufweichungen, ja Infragestellung der Integration durch Lohnarbeit vor allem für junge Berufseinsteiger*innen und Menschen unter 40 Jahren bedeuten.
Der prekäre Proll, als Messebauer und Tagelöhner tätig, wird für den neuen Staatshaushalt als Freelancer kategorisiert, auf ihn wird ein stark erhöhter Steuersatz für das kommende Jahr berechnet und er muss horrende Summen (bis zu 10 000 Euro) an den Staat abdrücken. Hier wird eine aus Deutschland schon bekannte Form der Scheinselbstständigkeit zementiert. Junge Prekäre sollen das privatisierte Risiko für den sozialen Missstand nun für den italienischen Staat tragen und die Jugendlichen, die zukünftigen Überflüssigen, sollen ihre Arbeitskraft ohne Entlohnung oder existenzischernde Anerkennung geben.
– Von Anna Dohm
Von Blockupy zu No Expo (analyse&kritik) « Prisma 20. Mai 2015 - 17:05
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