Der hegemoniale Beitrag Linker und Grüner zum Eurozentrismus
In Zeiten in denen eine neue Bereitschaft zum Krieg deutlich wird, der Terrorismus die Gesellschaft verunsichert und die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe und Religionszugehörigkeit spürbar zunimmt, sollte es die Aufgabe der kritischen Zivilgesellschaft sein, Alternativen zur herrschenden Politik anzubieten. Leider betrachten aber auch einige linke und grüne AkteurInnen die Welt durch die „eurozentrische Linse“, mit der erstgenannte Gefahren zugleich gerechtfertigt und entfacht werden. Dieser Text soll die Konzepte in Erinnerung rufen, die vor ähnlichen Herausforderungen entstanden sind und fordert dazu auf, die Schuldzuweisung auf das Fremde zu Gunsten einer Herrschafts- und Selbstkritik aufzugeben.
„Man muss deutlich unterscheiden zwischen den ‚Völkern, die einen Hut tragen und jenen, die einen Bart tragen‘; Was der Christ als unrein schmäht, wird vom Mohammedaner heiliggehalten. Obgleich der Gegensatz der Lebensgewohnheiten recht amüsant sein mag, so wird der erstere doch gewiß stets aufrichtig dankbar sein, daß er weder der mohammedanischen Lehre unterworfen ist, noch in ihren Grundsätzen erzogen wurde, während letztere seinerseits, der die übrige Menschheit als unreine Ungläubige betrachtet, weiterhin blind an seinem Glauben festhalten wird, bis die göttliche Vorsehung durch ein mächtiges Dazwischentreten, die moralische und geistige Dunkelheit zerstreuen wird, die gegenwärtig noch über einem so großen Teil der asiatischen Welt liegt.“
Eine Passage aus dem Vorwort eines Buches, das wie kein zweites illustrieren kann, was Edward Said unter dem eurozentrischen Orientalismus verstand: James J. Morier’s „Die Abenteuer des Hadschi Baba aus Isfahan“, mit dem der Autor 1823 zu einiger Berühmtheit gelangte und nebenbei das Bild „des Persers“ im englischsprachigen Ausland prägte. Das Buch ist keinesfalls eine plumpe rassistische Abhandlung über den „gemeinen Orientalen“; Morier, der selbst jahrelang im Iran lebte, verstand die wesentlichen Umgangsformen des damaligen Persiens, konnte die klassischen Dichter passend zitieren und schuf einen lesenswerten Schelmenroman, dessen Übersetzung ins Farsi von den IranerInnen zeitweise für das Original gehalten wurde. Auch heute wirkt das Buch scheinbar noch inspirierend für iranische Kunstschaffende, zumindest sind die Parallelen zwischen Hadschi Babas Abenteuern und der kritischen Filmsatire „Marmulak“, in der ein Krimineller Karriere im Mullahgewand macht, verblüffend. Weshalb das Buch trotzdem nicht nur harmlos ist, ist das dichotome und kulturalistische Denken mit dem sich Morier und seine ZeitgenossInnen die Welt einteilten. Hier das aufgeklärte und demokratische Europa, dort der irrationale und despotische Orient. Hadschi Baba ist quasi die Personifizierung eines solchen Orients und natürlich hat er bloßes Unverständnis für den Idealismus und die Integrität der ihm so fremden Europäer. Morier blendete jeglichen humanistischen Aspekt der persischen Kultur aus und suchte stattdessen die Fremdheit lieber durch das Wesen des Menschen (bzw. Mannes) zu erklären, statt in den feudalen bzw. kapitalistischen Strukturen denen diese unterworfen waren.
Delikater Weise war der Schriftsteller selbst als Chefunterhändler der englischen Krone im Iran, um dem Schah Konzessionen gegenüber den französischen Nebenbuhlern abzuringen und stütze damit gewissermaßen die feudale Despotie Persiens. Morier’s Biografie und sein literarisches Werk sind in diesem Sinne die Verknüpfung kolonialistischer Politik und ihrer literarischen und wissenschaftlichen Legitimation. Wohin dieser hegemoniale und subtile Imperialismus führte – und dass er das Gegenteil von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit1 für den Nahen Osten brachte – hat die Geschichte des Irans besonders eindrucksvoll bewiesen. Für Interessierte führt der Historiker Ervand Abrahamian mit seinem Werk „Between Two Revolutions“ eine sachliche Darstellung wie diese „europportunistischen“ Denk- und Handlungsweisen, die politische Entwicklung des Landes zum Stillstand brachte.
Jedem das Seine. Der essentialistische Mainstream
Der Orientalismus. Ein Fall für die Geschichtsbücher also? Natürlich nicht. Der „angelsächsische Orientalismus“ ist heute wesentlich hilfreicher als der „klassische“, nationalsozialistische Rassismus, um die modernen, vor allem kulturalistischen gesellschaftlichen und extraterritorialen Ausgrenzungsformen zu beschreiben. „Gehört der Islam nach Deutschland? Die bessere Frage ist, ob der Islam in unsere Zeit gehört.“ Diese genozidale Frage stellt sich sinngemäß ein Redakteur des Ciceros, einem Magazin mit eigentlich liberalem Anspruch und knüpft damit nahtlos an die jahrhundertealte Rhetorik des „Kampfes der Kulturen“ an.2 Ebenso deutlich bringt es sein Kollege, der Chefredakteur des österreichischen Spiegel-Pendants, anlässlich der Anschläge in Paris zum Ausdruck: „Eben jetzt darf über den Bedrohungsfall Islam und dessen Ursachen und Verursacher gesprochen werden […] Mag sein, dass dieser aufgeklärte Westen im Kleinen Fehler gemacht hat, im Großen war er jedoch bloß seinen Idealen treu. Ich erlaube mir, zynisch zu sein und zu sagen, dass auch ein guter Teil der Muslime bloß seinen Idealen treu geblieben ist. Dort liegt die Wurzel des Übels.“ Und in Erwartung auf die Aufforderung zum Differenzieren merkt er an: „Man könnte auch meinen, dass ein ‚Bedrohungsfall Islam‘ gar nicht vorliege. Das meine ich alles nicht. Wen ich für ‚verantwortlich‘ halte, im Minimum verantwortlich dafür, dass sich alles bessert, muss damit eigentlich schon klar sein: Es ist nicht der Westen; die Lösung konzentriert sich bei den Muslimen selbst.“3
„Der Westen“ und „die Muslime“ also. Möchte man diesen Kategorien allzu viel Bedeutung schenken, dann sind diese wohl kaum voneinander zu trennen: „der Westen“ ist militärisch, ökonomisch und kulturell in der „muslimischen Welt“ präsent, während Millionen von MuslimInnen in Europa und den USA leben. Der Eurozentrismus ist nun aber nicht nur unempirisch und paradox in seiner Logik, sondern schafft auch soziale Realitäten. Solche reduktiven Aussagen legitimieren nicht nur „humanitäre Interventionen“ – die zwar meist das proklamierte Ziel verfehlen, aber die Kontrolle über Ressourcen ermöglichen – sondern wirken auch innerhalb eines post-migrantischen Staates in exkludierender Art und Weise, also den egalitären Ansprüchen der europäischen Aufklärung entgegen. Die sauberste Kritik am Eurozentrismus ist daher nicht die kulturrelativistische Infragestellung der Werte, die die letztzitierten Journalisten als westlich bezeichnen würden, sondern jene an der fehlenden Reflektion über die exkludierende Wirkung von Politiken, die unter dem Banner von Demokratie und Gleichberechtigung Menschen ausschließen, wenn nicht erschießen.
Ebenso gnadenlos wird auch das Scheitern der Revolutionen in Libyen, Syrien oder Ägypten darauf zurückgeführt, dass die „Menschen noch nicht reif für die Demokratie“ wären, statt sich selbstkritisch mit der europäischen Demokratisierung auseinanderzusetzen. Weder der englische Parlamentarismus und vor allem nicht die deutsche Nachkriegsdemokratie haben sich aus den aufklärerischen Idealen ihrer BürgerInnen konstituiert; ersterer entwickelte sich aus dem Kuhhandel zwischen Adel und Krone und letztere kann vor allem als imperialistische Eindämmungsstrategie gegen den Kommunismus verstanden werden. Ganz sicher ist die Demokratisierung, in Anbetracht des wachsenden und stets opportunistischen Einflusses von inter- und transnationalen AkteurInnen auf die gesellschaftliche Entwicklung einer Region, eine größere Herausforderung als noch vor 70 Jahren. Trotzdem wird das Scheitern auf einer kulturellen angesiedelt und keinem „befreiten Land“ wurde nach dem 2. Weltkrieg ein Marschallplan gewährt; im Gegenteil, all diese Staaten wurden hernach ausgebeutet.
Ethnisierung und Krieg für Emanzipation und Demokratie
Der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus baut ebenfalls auf dem Kontrastbildern der „westlichen Welt“ und des „despotischen Orients“ auf und reduziert die Ursache für Frauenunterdrückung, ethnische Spannungen und Terrorismus meist auf die Antimodernität des Islams selbst. Im Kontrast dazu ist auch die Erzählung der freien, zivilisierten und aufgeklärten Gesellschaft des Westens allgegenwärtig und spielt eine große Rolle dabei, militärische und ökonomische Unterdrückung zu legitimieren und endete im Ausschluss einer Weltre(li)gion aus den völker- und menschenrechtlichen Standards.
Die Ablehnung der Bewaffnung des irakischen Baath-Regimes ist genauso wie dessen völkerrechtswidriger Sturz zwar gemeinhin Konsens, ebenso die Rolle, die die Destabilisierung des Iraks für die Etablierung des „Islamischen Staates“ gespielt hat, trotzdem beschränkt sich der gegenwärtige Diskurs über die Lösung des grenzübergreifenden Konflikts vor allem auf militärische Strategien. Das Vertrauen wird nach wie vor jenen AkteurInnen geschenkt, die großen Anteil an dem Dilemma zu verantworten haben – ohne bislang zu einem fundamentalen Kurswechsel gezwungen worden zu sein.
Die Bewaffnung Saddam Husseins (u.a. mit B- und C-Waffen) gegen die „Islamischen Republik“ stärkte das iranische Regime ideologisch und der achtjährige Krieg trug zu dessen Konsolidierung bei. Doch es werden keine Lehren aus der empirischen Geschichte gezogen: Sanktionen werden nach wie vor als „friedliche Alternative“ zum Krieg ins Spiel gebracht, obwohl die humanitären Kosten keine Rechtfertigung zulassen sollten und Wirtschaftsboykotte den Autoritarismus stärken.4 Allein im Irak starben Hundertausende an den Folgen dieser „Diplomatie“, die letztendlich den nächsten Krieg nicht verhinderte, sondern einleitete. Im Jargon der EurozentrikerInnen werden die Opfer – im Falle des Iraks über 500.000 Kinder! – zu wortwörtlichen „Kollateralschäden“. Diese Opfer werden nicht nur von Neokonservativen in Kauf genommen; dass auch bei den Grünen der pazifistische Konsens eingebrochen ist, hat die skurrile Rede Johannes Steens verdeutlicht, indem er restriktivere Maßnahmen „gegen Putin“ fordert und von seinen ParteikollegInnen beklatscht wurde.5 Auch erfahrenere Grüne, wie ihr außenpolitischer Sprecher im Bundestag, Omid Nouripour, fordern die sofortige „Hilfe für die Ukraine“ und „härtere Sanktionen gegen Russland“, ohne sich auf einen kritischen Diskurs einzulassen.
Eine weitere „Alternativstrategie“, die ebenfalls viele Menschen mit linkem Selbstverständnis befürworten, ist die Bewaffnung ethnischer Minderheiten. Es folgt nun keine ideologische Verurteilung von Positionen, die im Angesicht von Vertreibung und genozidaler Gewalt auf die Bewaffnung existenzgefährdeter Menschen hoffen, sondern soll zum einen auf den fehlenden Diskurs bezüglich größerer und direkterer Agenden hinweisen.
Im grenzübergreifenden Bürgerkrieg auf syrischem und irakischem Territorium war es vor allem die Gefahr vor der Einnahme der kurdisch-dominierten Stadt Kobanê und die unverhohlenen genozidalen Absichten des „Islamischen Staates“ gegenüber den „heidnischen“ Jeziden, die auch viele Linke dazu bewog, eine Bewaffnung kurdischer Kampftruppen zu fordern. Dabei werden allen voran die kurdischen Kämpferinnen als Symbol für Emanzipation und Fortschrittlichkeit dargestellt und eine pro-westliche bis sozialistische Partnerin konstruiert. Das Bild einer freien kurdischen Gesellschaft entbehrt nicht jeder Grundlage – tatsächlich sind die gesellschaftlichen Experimente in kurdisch-dominierten Gebieten das hoffnungsvollste was dieser Krieg bisher hervorgebracht hat – doch das vermittelte Gefühl, dass es genügen würde, ein paar Waffen zu liefern, ist fatal.
Es ist aus einer humanistischen Perspektive ebenso abzulehnen, dass die Massakrierung von nicht-kurdischen SunnitInnen und SchiitInnen keine solche Solidaritätsreaktionen hervorrief, obwohl Säkulare und Andersdenkende unabhängig ihrer ethnischen Konfession verfolgt werden; auch gilt es zu hinterfragen, wieso den hundertfachen zivilen Opfern des Assad-Regimes weniger Aufmerksamkeit zu Teil wird, als jenen des islamistischen Terrors.
Geht es um den Sinn und Zweck von linkem Aktivismus, muss auch eingesehen werden, dass die kurdische Bewaffnung letztendlich nicht auf Druck Linker durchgesetzt wurde, sondern ohnehin im Interesse der liefernden AkteurInnen lag – und der Überlebenskampf des „kurdischen Volkes“ eher zufällig und medienwirksam mit den geopolitischen Interessen in Einklang zu bringen war.
Aus den Augen geraten bei der Unterstützung der Regierungspolitik eine wesentliche Aufgabe der kritischen Zivilgesellschaft: der Entwurf einer langfristigen Alternative zum taktischen Ansatz der USA, dessen Schwächen offensichtlich werden, wenn man die Beteiligung der menschenverachtenden Regime Saudi-Arabiens und Katars berücksichtigt, die ebenfalls in die „Koalition der Willigen“ aufgenommen wurden.
Der ägyptische Aktivist Iyad El-Baghdadi bringt die Schwächen dieser kruzsichtigen Politik auf den Punkt: „Terrorismus, Tyrannei und ausländische Interventionen stehen in einem Zusammenspiel. Man kann das eine nicht loswerden und die anderen zwei behalten, dann wächst es wieder“; und „wer gegen Terrorismus ist, muss sich auch gegen die Tyrannei und gegen ausländische Interventionen stellen.“ Genau hier liegt die Schwäche der europäischen Linken: dieser Konsens liegt in weiter Ferne und gerade in Ägypten wurde klar, wie handzahm die linken Bewegungen sind. Der Putsch Mursis wurde kaum kritisiert, obwohl gerade für die „linke Theorie“, die Demokratie vor allem eine Frage der Gewaltenteilung und weniger der Ideologie ist. Die Menschenrechtslage in Kairo ist seit der Gleichschaltung so schlecht wie selten zuvor – niemals wurde DissidentInnen in diesem Ausmaß verfolgt. Das ist die Grundlage des Terrorismus, der politischen Instabilität und des Kriegs.
Dezentrale Lösungsansätze, beispielsweise die direkte Förderung pazifistischer und säkularer AkteurInnen, sind von den VerfechterInnen der militärischen Agenden ebenfalls vernachlässigt worden. Als ein emanzipatives Projekt ist beispielsweise Adopt a Revolution zu nennen, das technische und finanzielle Hilfe an sogenannte Lokale Komitees leistet, die sich nicht ethnisch definieren. Durch diese Plattform wird auch ein ideeller Austausch ermöglicht und die SyrerInnen selbst ermächtigt, einen Beitrag für einen Frieden zu schaffen, der durch die Kategorisierung in gute und böse Ethnien nicht zu erreichen ist.6
Der Ausschluss aus der Demokratie
Die essentialistischen Betrachtungsweisen, die den Fokus lieber auf die Kultur (bzw. Ethnie), Ideologie (bzw. Religion) und das Wesen richten, als auf die Machtverhältnisse, ist nicht nur bei der Legitimation von Kriegen relevant, sondern spielt auch in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Deutschland bzw. Europa eine große Rolle. Interessanterweise ist die Differenzierung zwischen dem Islam und Islamismus dem politischen Mainstreamdiskurs eingebläut worden, während ein relevanter Teil der europäischen Linken die Seelenverwandtschaft des Islams und des nationalsozialistischen Faschismus als omnipräsentes Phänomen zu konstruieren versucht. Vassilis Tsianos spricht von einer neuen Form des Rassismus, der eine Bevölkerungsgruppe auf Grund einer unterstellten Partizipation eines „politischen Projekts, dem Islamismus“ stigmatisiert und ihnen eine „transnationale Identität“ aufzwängt.7
Beispiele finden sich zahlreich, so auch in der größten vermeintlich linksalternativen Zeitschrift Deutschlands, der taz; und die Argumentationen eines ihrer erfolgreichsten Journalisten, Deniz Yücel, stößt in ein ähnliches Horn und stellt die Verantwortlichkeit einer völlig heterogenen Bevölkerungsgruppe mit den Anhängern einer xenophoben Organisation in einen Zusammenhang: „Anschläge und am Ende der Mord kamen nur von einer Seite: von Muslimen. Darum haben auch die Muslime ein Problem [neben Pegida]. Sie schaden sich selbst, wenn sie sich das nicht eingestehen und sich hinter Phrasen wie ‚der Terror hat keine Religion‘ verstecken. Sie schaden der Wahrheitsfindung. Und wer den Befund nicht kennt, wird keine Linderung finden. Es sind nicht alle Katzen grau; so wie Pegida eben kein gesamtdeutsches, sondern ein ostdeutsches Phänomen ist.“8
Nun, auch wenn Yücel jedes „aber“ für eine Rechtfertigung der Pariser Anschläge hält, sollte – nein, muss – der soziale und historische Kontext dieser Taten hergestellt werden. Die Wahrheitsfindung muss sich mit der Frage beschäftigen, wann Menschen einen solchen radikalen Weg wählen. Erst aus dieser Perspektive wird auch klar, dass viele Ostdeutsche und in unermesslich höherem Ausmaß die BewohnerInnen der Cités jeden Tag ein Ausmaß an struktureller Gewalt erfahren, für das uns im letzteren Fall schlicht die Vorstellungskraft fehlt.
„Es gibt nach wie vor die rationale Ebene. Die nüchtern die Erzählung kritisiert; anmerkt, dass ein Anschlag durch Bewohner Frankreichs auf andere Bewohner Frankreichs erst einmal ein Ausdruck der sozialen Verhältnisse ist und nicht religiöser Konflikte, selbst wenn eine religiöse Maske darauf liegt“, schreibt Dagmar Henn und sie hat Recht.10 Frankreich ist mit seinen Le Pens, den Dieudonnés, den Identitaires und dem größten europäischen Kontingent an Daesh in Syrien und dem Irak, nicht zufällig der Staat, der noch heute Kolonien unterhält, seine Interessen auf dem afrikanischen Kontinent am vehementesten vertritt und dessen schändliche Sozialpolitik sogar eine Möglichkeit für Katar bietet, sich als sozialer Akteur in Szene zu setzen.11
Vor Paris leben Hunderttausende in den HLM, ohne infrastrukturelle und soziale Anbindung. Natürlich musste die räumliche Segregation auch zu einer Segregation im Denken fühlen. Der Ausschluss aus der Demokratie – keine sozialistische Regierung hat sich auch nach dem Wahlkampf noch dem Projekt der Entghettoisierung verpflichtet gefühlt – trug unweigerlich zu einer Stärkung demokratiefeindlicher und in diesem Fall antisemitischer Verschwörungsideologien bei. Gefangen zwischen essentialistischen Vorschreibungen und konfrontiert mit der „Heuchelei des Westens“ – von Abu Ghraib, bis zur einseitigen Auslegung der Meinungsfreiheit nach Charlie Hebdo12 – sollten die vielfältigen Identitätskrisen nicht verwundern, die ab und an reflektierte Theorie und einzigartige Kunst erschaffen, oft genug aber menschenfeindliche Weltbilder nähren.
Trügerische Zusammenhänge
Abseits dieser blinden Flecken ist der Vorzug Yücels Darstellung offensichtlich: Eine Welt des Guten und Bösen – der wörtlichen „Helden“ und „Täter“ – reduziert angenehm die Komplexität der sozialen Realität, schafft scheinbare Linderung gegen die empfundene Ohnmacht und bietet Erklärungen für offensichtlich Beobachtbares (nebenbei verkauft es sich auch gut); Eben diese Gründe, die den Menschen aus evolutionstheoretischer Sicht so anfällig für rassistische Denkmuster und Ideologien machen und aus machttheoretischer Sicht für die Beständigkeit des Eurozentrismus sorgen.
„Der Westen“ blickt auf den Nahen Osten und sieht neben der Gewalt zwischen den Ethnien auch die Gewalt am weiblichen Geschlecht und gegen Homosexuelle. Und im Nahen Osten „herrscht der Islam“ und täglich rollen die Köpfe der Kuffar – Bilder lügen nicht: „Das Wunschdenken über die friedliche Toleranz des Islams kann nicht die Realität hinweginterpretieren: Hände werden immer noch abgeschlagen, Frauen gesteinigt und versklavt, genauso, wie es der Prophet Mohammad vor Jahrhunderten entschieden hat“, schreibt Ayaan Hirsi Ali. In sich klare Worte, die direkt eine Reihe von Bildern in uns beschwören werden, zum Beispiel die in Ketten gelegten jesidischen Frauen und von Häuserdächern gestoßene Schwule.
Dock kommt es auch zu den Bildern, die scheinbar untrüglich im direkten Kontext zur islamistischen Doktrin stehen und uns täglich in Erinnerung gerufen werden, kann erst die polit-ökonomische Perspektive die Zunahme der Gräuel im Namen des Islams erklären: „Es ist ein Kampf um die Hegemonie in den Schreckensbildern, die nur dadurch erreicht werden kann, dass man alle anderen (also mehr noch die Konkurrenten im Terror als die »narrativen« Feinde) an Brutalität und symbolischer Gewalt überbietet. Der Terror unterliegt mithin nicht nur einer medialen Logik (die Eroberung des jeweiligen Leitmediums), sondern auch einer Marktlogik.“13
Zudem bietet der textliche Vergleich zwischen den Schriften, aus denen sich die monotheistischen Religionen begründen, keine Rückschlüsse über die Ursachen der gegenwärtigen Gewalt oder sexueller Unterdrückung – auch die christlichen Quelltexte sind potenziell juden-, frauen- als auch schwulenfeindlich und lassen trotzdem tolerante Lesarten zu. Zwar kleidet der religiöse Fanatismus die Gewalt, gibt ihr also die Form und hilft dabei, die Feindbilder zu konstruieren, doch die relevante Frage bleibt aus normativer Sicht, wann, wo und unter welchen Umständen Menschen einer fundamentalistischen, intoleranten Interpretation „Glauben“ schenken – die Antwort auf diese Frage erfordert schmerzhafte Empathie.
Die Befreiung der Muslima hält die Europäerin gefangen
Es sind nicht nur die Gräueltaten im Nahen Osten, die uns erschrecken, sondern auch die frauenfeindlichen Interpretationsmöglichkeiten des Islams. Damit werden wir auch unmittelbarer konfrontiert: wir selbst begegnen ab und an vollverschleierten Frauen in der Innenstadt, auch wenn dieser Anblick wohl ungewohnter ist, als der bedrohliche und zugleich flehende Blick, der uns von den Titelblättern der großen Journale von Burkaträgerinnen entgegen geworfen wird. Soll die Empathie ausgerechnet bei ihnen enden?
Gerade die feministische Theorie geht kritisch mit diesen Bildern um, denn es sind nicht zufällig vor allem rechtspopulistische und konservative Parteien, die sich die „Befreiung der muslimischen Frau“ auf die Fahnen geschrieben haben und an deren patriarchalisches Weltbild sich nur oberflächlich etwas geändert hat. Spätestens die restriktiven Sanktionsmaßnahmen, die von diesen AkteurInnen ins Spiel gebracht werden – zum Beispiel das Verbot der Burka oder sogar des Kopftuchs an öffentlichen Schulen – wird klar, dass es nicht um die Rechte der muslimischen Frau geht, sondern um Xenophobie und Diskriminierung. Gabriele Dietze spricht vom „Metarassismus der Eliten“, indem sich ein überwiegend autochthoner Teil der Gesellschaft als demokratisch und egalitär gegenkonstruiert, um die selbst ausgeübte Diskriminierung zu rechtfertigen. Ganz nebenbei wirkt sich dieser Neorassismus auch hemmend auf die eigenen Geschlechterverhältnisse aus, denn „unsere Frauen“ sind ja mehr oder weniger gleichberechtigt.14
Frauen, wie die zuvor zitierte islamfeindliche Hirsi Ali, dienen aber nicht nur RechtspopulistInnen, sondern auch vielen linken LaizistInnen zur Untermauerung ihrer Argumente. Die Referenz auf „IslamkritikerInnen“, deren Haltung sich schon allein aufgrund ihrer Fluchtbiografie zu legitimieren scheint, schafft einen symbolisch-repräsentativen Schutzpanzer, gegen die Kritik an der faktisch diskriminierenden Wirkung ihrer Positionen. Tatsächlich ist gerade dieser Bezug, also der scheinbar legitimierende Hinweis auf die „emanzipierten Opfer des Islams“, wesentlich für die Reproduktion der hegemonialen Ordnung in einer Gesellschaft, die sich selbst als post-rassistisch betrachtet.
Statt sich also hier kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen, sehen sich viele alternative VertreterInnen der Mehrheitsgesellschaft durch mehr oder weniger begründete Zusammenhänge veranlasst, die „notwendige Kritik“ zu intensivieren und zwar auf eine paternalistische Art und Weise. Das Schlagwort des „importierten Antisemitismus“ verdeutlicht ein weiteres Beispiel, in dem der antijüdische Rassismus arabisch- und türkischstämmiger Jugendlicher generalisiert und von sich gewiesen wird. Wie groß war der Aufschrei nach den judenfeindlichen Ausrufen Berliner Jugendlicher auf einer Demonstration gegen die jüngste Gaza-Offensive und wie wenige Sensibilisierungsprojekte sind daraus entstanden? Und inwieweit wurde dieser Vorfall dazu genutzt, eine Bevölkerungsgruppe als rassistisch zu stigmatisieren – und im Kontrast dazu das Selbstbild einer geläuterten Mehrheitsgesellschaft zu entwerfen?
Vergleichbares umschreibt Frantz Fanon bereits in seinem Buch „Schwarze Haut, weiße Masken“ von 1952 und speist seine theoretischen Reflektionen aus dem Zwiespalt, den er als privilegierter Schwarzer in einer rassistischen Kolonialgesellschaft empfunden hat. Seine Antwort auf diese „Neurose“ ist nicht etwa eine „Rückbesinnung“ auf „traditionelle Lebensweisen“ oder die Akzeptanz archaischer Gesellschaftsordnungen, sondern ein humanistischer Ansatz mit universellem Anspruch. Im Unterschied zu Hirsi Ali et al. forderte Fanon aber zugleich die bedingungslose Dekolonialisierung. Anders, als es VerfechterInnen eines autoritären Menschenrechtsparadigmas15 häufig darstellen, entstammt die Kritik am Eurozentrismus also nicht aus dem Kulturrelativismus, sondern stellte sich die Frage, ob das Streben nach Gleichberechtigung und Freiheit jemals an Europa gebunden war.
Die Balance zwischen falschem Burgfrieden und Sektierertum
Ein Text der mit der Dekonstruktion „des Westens“ beginnt, kann weder damit enden „den Mainstream“ zum Einlenken bewegen zu wollen, oder „die Linke“ zur Katharsis aufzufordern. Doch die Aufgabe der materiellen Tradition linken Denkens ist ein empirischer Sachverhalt. Das ist keine ideologische Kritik – nicht der Verrat des heiligen Marxismus ist das Problem – sondern die Beobachtung, dass die erläuterten essentialistischen Ansätze derer sich Yücel et al. bedienen, paradoxerweise ihren eigenen Utopien zugegen läuft. Oder wie es Tsianos formuliert: „Der deutsche Stammtischdiskurs ist gar nicht so weit von der laizistisch geläuterten Linken entfernt.“16
Beispiele gibt es viele in der Geschichte linker Kräfte, in denen herrschaftskritische Positionen aufgegeben wurden und stattdessen die konstruierten Feindbilder der Eliten übernommen worden sind, so auch im bereits erwähnten Falle Russlands – heute und auch vor Beginn des 1. Weltkriegs. Peter Schaber hat diese Parallelen in seiner Analyse „Hilfe, die Russen kommen“ mit Fokus auf das Versagen der deutschen Sozialdemokratie dargestellt und verweist auf den Ausspruch Karl Liebknechts: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“17 Die damalige und heute „Russophobie“ ist ebenso wie die Islamfeindlichkeit ein hegemoniales Bindemittel, durch das Politiken umgesetzt werden, die keinen Beitrag zu linken Zielen leisten.
Darüber hinaus ist auch das mangelnde zivilgesellschaftliche Engagement zu kritisieren. Eben Jene, die u.a. eine muslimische Juden- und Frauenfeindlichkeit generalisieren, fallen nur durch intellektuell verfasste Verurteilungen, nicht aber durch Sensibilisierungsprojekte oder ähnliches auf.
In diesem Sinne kann dieser Text nur mit der Aufforderung enden, die Schuldzuweisung auf das Fremde zu Gunsten einer Herrschafts- und Selbstkritik aufzugeben. Dazu ist es nötig, die kritischen Kräfte dieser Praxis zu bündeln und vehementer in diesen Punkten zu widersprechen – jedoch ohne den Konsens in der Sozial- oder Flüchtlingspolitik aus den Augen zu verlieren und den eigenen Aktivismus in einem ebenso hegemoniesichernden Sektenkrieg zu verschleißen.
Je suis Charlie et Ahmed aussi. Ensemble nous sommes la solidarité contre la hypocrisie.
– Von Pierre Asisi
Anmerkungen
1http://www.mohammadmossadegh.com/news/tofigh/
2http://www.cicero.de/berliner-republik/islam-die-totalitaere-religion/58089
3http://www.profil.at/articles/1502/568/378830/christian-rainer-gott
4http://www.huffingtonpost.de/ali-fathollahnejad/der-lange-schatten-der-ir_b_4301313.html
5https://www.youtube.com/watch?v=1eA-pTZN2OU
6https://www.adoptrevolution.org/idee/
7https://www.academia.edu/3372385/Interview_KONKRET_Tsianos
8http://www.welt.de/debatte/kommentare/article136250133/Das-verlogene-beschissene-Aber.html
9http://nerminismail.com/2015/01/fuer-die-freiheit-gegen-den-hass/
10http://www.vineyardsaker.de/deutschland/die-grossen-heuchler
11http://www.heise.de/tp/artikel/37/37740/1.html
12https://firstlook.org/theintercept/2015/01/14/days-hosting-massive-free-speech-march-france-arrests-comedian-facebook-comments/
13http://jungle-world.com/artikel/2014/43/50791.html
14http://mosaik-blog.at/je-suis-foulard-ich-trage-kopftuch/
15Die Begriffe des „soften“ und „autoritären Universalismus“ hat Ramin Jahanbegloo geprägt, siehe http://jahanbegloo.com/content/democratic-universalism-and-cultural-particularities
16http://www.academia.edu/3372385/Interview_KONKRET_Tsianos
17http://lowerclassmag.com/2014/12/hilfe-die-russen-kommen/
contradictionary » Je suis Charlie. Je suis l’idéologie 17. Februar 2015 - 12:26
[…] Version ist online im Lower Class Mag zu […]
Christa Muths 17. Februar 2015 - 15:13
das ist eins der besten Artikel die ich bisher gelesen habe! Er bringt die Sache auf den Punkt bzw. auf viele Punkte der Wahrheit. Er sollte von allen kritischen Stimmen der Gesellschaft gelesen werden.
Hugo Meyer 24. Februar 2015 - 15:41
Ja, ich kann mich dem vorherigen Kommentar nur anschließen. Ich liebe diese selten gewordenen, durchdachten, ausführlichen, journalistischen Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen beim lowerclassmag. Vielen Dank dafür! Und danke „Asisi“ speziell für diesen Artikel!