Ein kleiner Spaziergang durch das Istanbuler Viertel Gülsuyu
Es ist eine generelle Regel, die mein Freund Mehmet Onur entdeckt hat: Nahe eines Cemevi, eines alevitischen Gotteshauses, gibt es zumeist Orte, die es wert sind, besucht zu werden. In Okmeydani, einem revolutionären Viertel im westlichen Teil Istanbuls, ist es Sivas Pideci, jener Ort, an dem die günstigste und schmackhafteste Pide überhaupt serviert wird, und natürlich der nach einer Revolutionärin benannte Sibel Yalcin Park, in dessen Teehaus man den besten Cay der Gegend vom korrektesten Cayci Istanbuls bekommt. In Gülsüyü, dem Viertel, von dem unsere kleine Geschichte handelt, ist es nicht anders.
Hier ist nicht weit vom Cemevi der Markt, auf dem alle möglichen Köstlichkeiten feilgeboten werden, und der Mahir-Deniz-Ulas-Park, benannt nach drei der bekanntesten türkischen Kommunisten: Mahir Çayan, Hüseyin Cevahir und Ulaş Bardakçı.
Dass sich in der Nähe eines Cemevi eigentlich immer irgendetwas Gutes und Sehenswertes befindet, ist indes kein Zufall. Es liegt in der Natur der Sache. Denn zum einen sind durch die fortwährende Unterdrückung der alevitischen Minderheit und die gemeinsame Migration in die Städte während der 1960er bis 1980er Jahre enge Verbindungen zwischen Alevitentum und revolutionärer Kultur entstanden. Zum anderen nehmen Lieder, Essen,Trinken und Geselligkeit in der alevitischen Kultur ohnehin einen zentralen Platz ein. In Nachbarschaften wie Kücük Armutlu, Okmeydani, Gazi Mahallesi und Gülsuyu überschneidet sich diese Tradition mit den Einflüssen revolutionärer Gruppen aus verschiedenen Spektren. Die Gruppen haben ihre Kaffees, ihre Teehäuser, Bibliotheken, Konferenzzentren und vieles mehr.
In der Bevölkerung sind die linken Organisationen weithin akzeptiert, weil sie wichtige Rollen für das soziale Leben in den Vierteln übernehmen und man weiß, dass ohne sie der Alltag in den Armenvierteln noch schwieriger zu bewältigen wäre. Besucht man die Kieze, muss man sich nicht lange umsehen, um zu bemerken, dass hier andere Gesetze gelten als im Rest von Istanbul.
Schon im Minibus bei der Anreise wird das klar: Aus den Boxen kommt nun Ahmet Kaya, die Stimme der Unterdrückten Anatoliens schlechthin. Es geht bergauf, immer weiter bergauf, als würde man in eine Festung fahren. Oben angekommen, verschlägt es uns den Atem, denn die Aussicht übertrifft alle Erwartungen. Man sieht ganz Istanbul, diese Stadt aus vielen Städten, in der Lehmhütten an
Wolkenkratzer grenzen und in der man alles finden kann, was man begehrt, und zugleich von allem gefunden wird, was man fürchtet. Grausamer Moloch und liebende Mutter zugleich, erstreckt sich diese abartig riesige Stadt überallhin, dort wo man meint, jetzt würde sie enden, beginnt sie von Neuem. Und von Gülsuyu aus sieht man sie (beinahe) ganz. Aber nicht nur sie. Der Blick reicht bis zu den Prinzessinneninseln, über den Bosporus hinweg.
Wir verstehen nun, warum Baulöwen und Immobilienspekulanten heiß auf diese von kleinen Häusern und Häuschen überzogenen Hügel sind. Und nachdem wir unseren Spaziergang beginnen, verstehen wir auch, was hier verloren ginge, würden sie sich durchsetzen. Es existiert ein soziales Leben, das demjenigen schwer zu vermitteln ist, der es nicht gefühlt hat. Und fühlen kannst du es nur, wenn du länger mit Freunden in der Mahallesi, in der Nachbarschaft, weilst.
Eine Genossin hat unser Kommen angekündigt, einige Freunde erwarten uns schon. Aus der selbstorganisierten Bibliothek von „Halk Cephesi“ („Volksfront“) machen sich einige Aktivisten auf, und gehen von Haus zu Haus, um Flugblätter zu verteilen. Auch wir laufen los, einmal durch das ganze Viertel. Auf dem zentralen Marktplatz stehen bereits andere der „Ezilenlerin Sosyalist Partisi“ (Sozialistische Partei der Unterdrückten) in ihren blauen Westen und verteilen Flyer, neben ihnen eine alte Frau, auch sie verteilt Einladungen zu einem alevitischen Konzert und einer Versammlung gegen Gentrifizierung. Der Alltag ist politisch hier, wo der Kampf um die Bewältigung des Lebens keiner ist, den man gegen die anderen führt, sondern einer, von dem man weiß, dass er nur mit dem anderen gewonnen werden kann.
Einer der zentralen Kämpfe im Moment ist der gegen Drogengangs und Mafia-Clans. In Gülsuyu haben die Revolutionäre dafür in den vergangenen Jahren einen hohen Preis bezahlt. Ende September 2013 verstarb der aus einem anderen Gecekondu, Kücük Armutlu, stammende Hasan Ferit Gedik, während eine Demonstration in einen Hinterhalt einer bewaffneten Gruppe geriet. „Es passierte während eines Protests anlässlich einer anderen Schießerei. Einen Tag zuvor hatten die Gangs bereits auf einen Freund von uns geschossen. Und dagegen sind wir auf die Straße gegangen. Bei der Demonstration am 29. September griffen sie dann erneut an und schossen in die Menge. Hasan Ferit war da und wurde von sechs Kugeln getroffen“, erzählt uns eine Genossin von Hasan Ferit. Der junge Aktivist blieb nicht das letzte Opfer der Auseinandersetzungen. Erst Anfang Okotber erschossen Gang-Mitglieder Ismail Dogan, einen Bewohner Gülsuyus, der sich den Aktionen gegen die Drogenbanden angeschlossen hatte. Die Gangs gelten unter der Bevölkerung der Kieze als Vorhut des Staates und der Baukonzerne. Diese, so hört man immer wieder, schicken die Gangs vor, um durch Drogen und Konflikte den sozialen Zusammenhalt in den Vierteln zu zerstören und damit die Kraft für den Widerstand gegen die „urbane Transformation“ zu schwächen.
Diese steht bereits drohend vor der Tür Gülsuyus. Als wir vom Cemevi in Richtung des Hauses von Ismail Dogan spazieren, entdecken wir eine der hässlichsten Gated Communities, die wir je in Istanbul gesehen haben. Umgeben von einer riesigen Grenzanlage aus meterhohen Mauern, Stacheldraht, Stahlzaun und Kameras wurde hier ein Viertel errichtet, das dystopischer nicht sein könnte. Gleichförmige Hochhäuser, leere saubere Straßen, Eintönigkeit als Architekturprinzip.
Als wollten die Planer der für die Regierungspartei AKP typischen Mischung aus Islamisierung und Neoliberalismus einen optischen Ausdruck geben, sieht man als erstes Gebäude vor dem Eingangstor in diese albtraumhafte Siedlung eine Moschee, dahinter dann nur noch Blockbauten. Hineingehen können wir nicht, das Viertel wird von einem Sicherheitsdienst bewacht. Aber wir wollen auch gar nicht, denn schon der Anblick reicht, um ein Gefühl zu bekommen, wie öde, uniform und von tödlicher Langeweile geprägt das Leben in diesem Freiluftgefängnis sein muss. Dort leben? Nein, danke.
Es ist kein falscher Romantizismus, die Gecekondu-Viertel davor bewahren zu wollen, in eine dieser auf dem Reißbrett entworfenen Legebatterien für den vermeintlichen neuen Mittelstand verwandelt zu werden. Wenn sie verschwinden, stirbt das Schönste, was Istanbul zu bieten hat: Eine widerständige Kultur, die ihre Basis in einem in langer Tradition gewachsenen kollektiven Alltagsleben hat.
– Von Peter Schaber