„In der Türkei gibt es keine freien Medien“ – Ein Gespräch mit dem Fotografen Sinan Targay

31. Oktober 2014

317701_10150425772859049_1247615627_nSinan Targay ist Fotograf. Er lebt in Gazi, einem revolutionären Stadtteil Istanbuls, den seine Bewohner auch „Texas“ nennen. Nicht ohne dabei einen gewissen Stolz zu verspüren. An diesem Ort ist er aufgewachsen und dort findet er einen Großteil seiner Motive. Am 12. September stürmt eine Antiterroreinheit 150 Wohnungen in Sinans Viertel. Gazi reagiert auf diesen Eingriff in das Leben des Viertels, den ganzen Tag über kommt es zu heftigen Kämpfen mit der Polizei. Mittendrin: Sinan Targay. „Ich will den Protesten, den Revolutionären ein Gesicht geben. Die Menschen sollen sehen was hier passiert“. Dies ist die Motivation die hinter Sinans Arbeit steckt. Grund genug für uns ihm Gehör zu verschaffen und mehr über ihn, seine Arbeit und sein Viertel zu erfahren.

Du bist in Gazi aufgewachsen. Was macht dieses Viertel für dich so besonders?

Gazi ist meine 10355422_10152477400639049_6675690871773020265_oHeimat, der Ort an dem meine Familie lebt. Dieser Stadtteil war schon immer etwas Besonderes. Seit ich denken kann war Gazi ein revolutionärer Stadtteil in dem nicht der Staat, sondern die revolutionären Gruppen das Sagen hatten. Dieser andauernde Kampf gegen den Staat hat die Bewohner unseres Viertels geprägt.Ein Kind aus Gazi wächst einfach anders auf.
Das verbindet die Menschen hier und das merkt man ihnen auch in ihrem täglichen Umgang miteinander an.

Hat sich das Viertel seit deiner Kindheit verändert?

Vieles hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Der Staat versucht mit immer neuen Mitteln die jungen Menschen aus den revolutionären Vierteln zu drängen. Heute ist es viel einfacher geworden hier Alkohol und Drogen zu kaufen. Das schwächt das Viertel und genau aus diesem Grund unterstützt die Regierung die Drogenbanden die hier agieren.
Die Überwachung des Staates wird immer heftiger. Wenn ich mich in ein Café setze, achte ich immer darauf wer neben mir sitzt oder in Hörweite ist. Telefone werden abgehört, daher passt jeder genau auf was er wo sagt Überall sind die Augen und Ohren des Staates und das beeinflusst die Menschen in ihrem täglichen Leben.

Hast du jemals mit dem Gedanken gespielt wegzugehen, Gazi zu verlassen?

Diesen Gedanken hatte ich schon 10516784_10152712599659049_782761170063279164_noft. Viele Freunde und Bekannten sind in den vergangenen Jahren gestorben. Die revolutionären Gruppen bekämpfen sich untereinander. Vieles hat sich hier verändert und die Menschen sind die andauernde Gewalt und den ständigen Terror leid. Trotz alledem habe ich immer Sehnsucht nach Gazi wenn ich längere Zeit fort bin. Hier ist der einzige Ort an dem ich richtig atmen kann.

Wie bist du zur Fotografie gekommen?

Als ich 20 Jahre alt war, habe ich auf Druck meiner Familie angefangen Tourismus studieren. Ich sollte einen anständigen Beruf erlernen. Parallel zu meinem Studium habe ich dann bei einer Werbeagentur gejobbt. Bei diesem Job habe ich angefangen darüber nachzudenken selber zu fotografieren. Warum soll ich die Fotos nicht selber machen?! Das Tourismusstudium habe ich schnell geschmissen, der Fotografie bin ich aber über die Jahre treu geblieben. Heute studiere ich Fotografie. Werbefotos mache ich um Geld zu verdienen aber wohl fühle ich mich dabei nicht. Ich will meinem Viertel, den Revolutionären und den Protesten in meinem Land ein Gesicht geben. Das ist es, was ich machen will.

Wie sehen die revolutionären Gruppen im Viertel deine Arbeit?

10629754_10152712600289049_627259907677654196_nIn Gazi kennt man mich, ich lebe hier, bin hier aufgewachsen. Das gibt mir die Möglichkeit zu dokumentieren was hier Tag für Tag passiert. Klar fotografiere ich nicht objektiv. Mein Leben lang habe ich gegen Staat und Faschismus gekämpft. Wenn es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt, bin ich genauso in die Schusslinie wie die Protestler. Ich atme ihr Gas ein, werde von ihren Geschossen getroffen. Das macht meine Arbeit zu dem was sie ist und deswegen respektieren die Leute was ich mache.

Gerade nach Gezi wurden viele kritische Journalisten ins Gefängnis gesteckt. Hattest du bislang mit Repressionen aufgrund deiner Arbeit zu kämpfen?

Gegen mich läuft aktuell ein Verfahren wegen Widerstand gegen einen Polizisten. Am ersten Tag der Gezi-Aufstände war ich im Park genauso wie viele andere befreundete Fotografen. Einer meiner Freunde, der ganz klar als Pressefotograf zu erkennen war wurde festgenommen. Als ich hinlief um ihm zu helfen und die Polizisten fragte warum sie einen Pressefotografen bei der Arbeit festnehmen, stürmten sie auch auf mich zu und haben mich festgenommen. So lief es in dieser Zeit dauernd ab. Aber da hat es viele andere Journalisten noch um einiges schlimmer erwischt.

Apropos Gezi: Wie hast du die Zeit erlebt?

Gezi war die extremste Zeit die ich bislang erlebt habe und mit Sicherheit auch meine heftigste Erfahrung als Fotograf. Ich war ab dem ersten Tag dabei, habe erlebt wie sich aus einem kleinen Protest etwas Riesiges entwickelt hat. Plötzlich vereinten sich alle im Kampf gegen den Staat.
10321588_10152448569839049_7771971034094312538_oGruppen die sich sonst gegenseitig bekämpfen standen nebeneinander auf der Straße. Vorurteile waren in dieser Zeit wie weggeblasen. Während der Zeit der Proteste war ich durchgehend in Taksim, wollte nichts verpassen. Geschlafen habe ich entweder bei Freunden, im Park oder einfach auf der Straße. Das war in dieser Zeit völlig egal, denn die Erfahrungen waren extrem. Durchgehend standen wir mit verschiedenen Fotografen und Journalisten in Kontakt, haben versucht über Facebook zu verbreiten was sich in der Stadt abspielt.

Wie siehst du die Medienlandschaft in der Türkei?

In der Türkei gibt es keine freien Medien. Alle großen Zeitungen, Fernsehkanäle und Radiosender werden vom Staat kontrolliert. Ich habe nie einen Gedanken daran verschwendet für die großen Medien zu arbeiten, denn das würde bedeuten zu einer Marionette der Regierung zu werden und nur noch das zu zeigen, was die Führungsriege der Türkei für richtig hält.

Du hast im letzten Jahr mit vielen anderen Journalisten einen Foto-Workshop mit 60 Kindern in Roboski geleitet aus dem ein Buch entstanden ist. Was ist in Roboski passiert?

Am Abend des 28. Dezember 2011 wurden 34 kurdische Zivilisten, darunter auch viele Kinder in der Nähe des Dorfs Roboski durch ein Bombardement von türkischen Kampfflugzeugen ermordet. Dem Staat und dem Militär war bekannt, dass viele Händler aus der Region regelmäßig die Grenze zum Irak zu überqueren um Handel zu betreiben. Das wurde bis zu diesem Tag weitgehend geduldet. Die Dörfer in der Grenzregion werden von der Türkei systematisch wirtschaftlich vernachlässigt, weswegen den Bewohner gar keine andere Wahl bleibt ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Somit war auch an diesem Tag völlig klar, dass es sich bei der Gruppe um unbewaffnete Kinder und Jugendliche handelt die ihrer täglichen Route folgen. Trotzdem wurde die Gruppe mit der Begründung, man habe kurdische Guerilla-Kämpfer angreifen wollen, attackiert und ermordet. Die türkischen Medien und die Regierung haben versucht den Fall totzuschweigen. Erst nach mehr als einem Tag gab es eine Rechtfertigung der Regierung: Es habe sich um einen Unfall gehandelt für den niemand etwas könne. Aufgearbeitet wurde der Fall nie.

Wie sah das Projekt aus?

Von November 2012 bis April 2013 habe ich zusammen mit rund 20 anderen Fotografen ein Foto-Projekt in Roboski geleitet. 60 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 17 Jahren haben daran teilgenommen. Unser Ziel war es, den Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre Gedanken, Gefühle und ihren Protest zu erfassen und folgenden Generationen zu erhalten. Während des Workshops konnten wir die Kinder dabei beobachten, wie sie ihr Leben und ihre Erfahrungen in Geschichten verwandelt haben. So sind tausende Fotografien und Geschichten entstanden, aus denen schließlich ein Buch geworden ist, das das Leben in Roboski nach dem Massaker aus Sicht der Kinder zeigt.

10645328_10152776665789049_7136807440615379567_nDas Gespräch mit Sinan zeigt, wie es um die Medienlandschaft eines Landes bestellt ist, dass von einer durchweg korrupten und kriminellen Führung regiert wird. Diese Regierung duldet keine kritische und objektive Berichterstattung. Sie hat Angst vor der Waffe, die eine kritische Berichterstattung ohne Zweifel darstellt. Umso größer muss die Wertschätzung für all diejenigen sein, die weiterhin kritische Berichte und Fotos aus der Türkei liefern. Diejenigen, die den Unterdrückten dieses Landes ein Gesicht geben. Koste es was es wolle.
In Kobanê kämpfen die Menschen um ihr Leben. Mittendrin: Sinan Targay.

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*Alle Fotos von Sinan Targay

C. Stahl

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